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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Behandlung des Verbrechers

sie gekostet haben und noch immer kosten, rufen viele aus: Nun ist die Strafe
keine Strafe mehr! Die Leute haben gute Kost, Reinlichkeit, Ordnung, Wärme
im Winter, Kühlung im Sommer, wie kann man da noch erwarten, daß sie
sich vor dem Gefängnis fürchten! Nun, richtig ist, daß die moderne Straf¬
anstalt im Vergleich mit den alten Strafhäusern als ein wohnlicher Aufenthalt
gelten muß. Die Kost ist gut und ausreichend, eben weil der Gefangne keine
Leibes- und Lebensstrafe, sondern eine Freiheitsstrafe verbüßt, aber "lukullisch"
sind die Mahlzeiten doch nicht, sie entsprechen lediglich den "wissenschaftlichen
Anforderungen an die Ernährung des Menschen." Und obwohl ohne Zweifel
ein humaner Geist durch das moderne Strafhaus weht, ist das Leben des
Gefangnen doch ein Sklavenleben, wie es nicht herber gedacht werden kann.
Von dem Augenblick an, wo er gewaschen, geschoren und eingekleidet ist, be¬
findet er sich wieder in der Abhängigkeit des Kindes. Sein Verkehr mit den
Angehörigen ist aufs äußerste eingeschränkt, nur aller vier oder sechs Wochen
darf er einen Brief nach Hanse schreiben. Besuchen ihn seine Angehörigen,
so spricht er mit ihnen in Gegenwart eines Beamten und kann sie vielleicht
nur durch ein Gitter sehen. Reden darf er nur noch, wenn er dazu auf¬
gefordert wird, seinen Platz darf er niemals ohne Erlaubnis verlassen, nicht
eine Minute hat er, wo er Herr seiner selbst wäre. Es ist ihm alles ver¬
boten, was ihm nicht besonders erlaubt worden ist. Er hat freilich eine Be¬
schäftigung, die ihm über seine traurigen Tage hinweghelfen soll, aber auch
diese Arbeit ist sehr oft trostloseste, einförmigste Fabrikarbeit. Besser ist sie
zuweilen im Zuchthaus, schlimmer im Gefängnis, wo die kürzere Strafzeit nur
einfache, schnell erlernbare Arbeiten zuläßt. Sagt man, auch der ehrliche
Fabrikarbeiter müsse sich mit einer eintönigen, elenden Arbeit zufrieden geben,
so ist das wohl richtig, aber auch der ärmste unter diesen Knechten der Ma¬
schine kann sich etwas zugänglich machen, was dem Gefangnen versagt bleibt,
einen Nest von Familienleben, einige Freistunden, worin er den Verkehr mit
Freunden genießt, und allerlei Vergnügungen, die vielleicht nicht gerade ideal
sind, die ihm aber doch Vergnügen machen. Und da schimpft man noch über
die Gefangnenarbeit und mochte sie möglichst unproduktiv machen, womöglich
zur Tretmaschinenthätigkeit herabwürdigen! Dostojewski sagt: "Wollte man
den Sträfling beordern, Wasser aus einem Kübel in einen andern zu gießen
und wieder umzugießen, oder feinen Sand zu stoßen, eine Last Erde von einem
Ort nach einem andern und wieder zurück zu schleppen, ich glaube, der Sträf¬
ling würde sich nach wenigen Tagen schon erwürgen oder beginge tausend Ver¬
brechen, nur um zu sterben und aus solcher Erniedrigung, Schande und Qual
einen Ausweg zu finden." Und nun nehme man noch die Nacht hinzu, die
lange Nacht des Gefangnen, die schon um halb acht Uhr beginnt, des Sonn¬
tags noch früher! In der gemeinsamen Haft werden die Sträflinge in größern
Schlafrüumen zusammen eingeschlossen, oft liegen mehr als hundert in einem


Die Behandlung des Verbrechers

sie gekostet haben und noch immer kosten, rufen viele aus: Nun ist die Strafe
keine Strafe mehr! Die Leute haben gute Kost, Reinlichkeit, Ordnung, Wärme
im Winter, Kühlung im Sommer, wie kann man da noch erwarten, daß sie
sich vor dem Gefängnis fürchten! Nun, richtig ist, daß die moderne Straf¬
anstalt im Vergleich mit den alten Strafhäusern als ein wohnlicher Aufenthalt
gelten muß. Die Kost ist gut und ausreichend, eben weil der Gefangne keine
Leibes- und Lebensstrafe, sondern eine Freiheitsstrafe verbüßt, aber „lukullisch"
sind die Mahlzeiten doch nicht, sie entsprechen lediglich den „wissenschaftlichen
Anforderungen an die Ernährung des Menschen." Und obwohl ohne Zweifel
ein humaner Geist durch das moderne Strafhaus weht, ist das Leben des
Gefangnen doch ein Sklavenleben, wie es nicht herber gedacht werden kann.
Von dem Augenblick an, wo er gewaschen, geschoren und eingekleidet ist, be¬
findet er sich wieder in der Abhängigkeit des Kindes. Sein Verkehr mit den
Angehörigen ist aufs äußerste eingeschränkt, nur aller vier oder sechs Wochen
darf er einen Brief nach Hanse schreiben. Besuchen ihn seine Angehörigen,
so spricht er mit ihnen in Gegenwart eines Beamten und kann sie vielleicht
nur durch ein Gitter sehen. Reden darf er nur noch, wenn er dazu auf¬
gefordert wird, seinen Platz darf er niemals ohne Erlaubnis verlassen, nicht
eine Minute hat er, wo er Herr seiner selbst wäre. Es ist ihm alles ver¬
boten, was ihm nicht besonders erlaubt worden ist. Er hat freilich eine Be¬
schäftigung, die ihm über seine traurigen Tage hinweghelfen soll, aber auch
diese Arbeit ist sehr oft trostloseste, einförmigste Fabrikarbeit. Besser ist sie
zuweilen im Zuchthaus, schlimmer im Gefängnis, wo die kürzere Strafzeit nur
einfache, schnell erlernbare Arbeiten zuläßt. Sagt man, auch der ehrliche
Fabrikarbeiter müsse sich mit einer eintönigen, elenden Arbeit zufrieden geben,
so ist das wohl richtig, aber auch der ärmste unter diesen Knechten der Ma¬
schine kann sich etwas zugänglich machen, was dem Gefangnen versagt bleibt,
einen Nest von Familienleben, einige Freistunden, worin er den Verkehr mit
Freunden genießt, und allerlei Vergnügungen, die vielleicht nicht gerade ideal
sind, die ihm aber doch Vergnügen machen. Und da schimpft man noch über
die Gefangnenarbeit und mochte sie möglichst unproduktiv machen, womöglich
zur Tretmaschinenthätigkeit herabwürdigen! Dostojewski sagt: „Wollte man
den Sträfling beordern, Wasser aus einem Kübel in einen andern zu gießen
und wieder umzugießen, oder feinen Sand zu stoßen, eine Last Erde von einem
Ort nach einem andern und wieder zurück zu schleppen, ich glaube, der Sträf¬
ling würde sich nach wenigen Tagen schon erwürgen oder beginge tausend Ver¬
brechen, nur um zu sterben und aus solcher Erniedrigung, Schande und Qual
einen Ausweg zu finden." Und nun nehme man noch die Nacht hinzu, die
lange Nacht des Gefangnen, die schon um halb acht Uhr beginnt, des Sonn¬
tags noch früher! In der gemeinsamen Haft werden die Sträflinge in größern
Schlafrüumen zusammen eingeschlossen, oft liegen mehr als hundert in einem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/40>, abgerufen am 25.08.2024.