Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Behandlung des Verbrechers

der Freiheit beraubt ist, er merkt nichts davon, daß durch die Negation der
Negation das Recht wieder hergestellt ist. Er würde dieses Exempel erst
dann verstehen, wenn der Dieb gezwungen würde, so lange sür ihn zu arbeiten,
bis der Schaden gedeckt wäre. Verfolgen wir aber dieses Beispiel noch etwas
weiter und sehen wir zu, ob wenigstens der Staat und die Gesellschaft be¬
friedigt sein können. B kann, wie 95 Prozent aller Bestraften, keine Kosten
bezahlen. In den Strafanstalten, die unter dem preußischen Ministerium des
Innern stehen, betragen die jährlichen Ausgaben für den einzelnen Gefangnen
331 Mark -- durchschnittlich! --, die Einnahmen dagegen bloß 122 Mark
47 Pfennige, daher muß der Staat noch etwa 208 Mark, vielleicht noch
mehr zuzählen, außer den Prozeßkosten. Hat B Familie, so dürfte auch die
Armenpflege in Anspruch genommen werden, um die schuldlosen Angehörigen
des Gefangnen wenigstens nicht gänzlich verhungern zu lassen. Endlich wird
B noch eine Arbeitsprämie in Empfang zu nehmen haben, die vielleicht
nur 20 oder 30 Mark beträgt, wenn er aber Glück, Geschick und Fleiß
hat, auch 70 oder 80 Mark betragen kann. Somit hat der Diebstahl der
hundert Thaler die Folge, daß der Staat und die Gesellschaft noch hundert
Thaler aufbringen müssen, damit die verletzte Gerechtigkeit wieder hergestellt
werde. Wenn also der Zweck der Strafe darin bestünde, ausgleichende Ge¬
rechtigkeit zu üben, so müßte man zugestehen, daß der Staat den verkehrtesten
Weg einschlägt, wenigstens den kostspieligsten, daß er sich seiner Aufgabe
wirklich in kläglicher Weise entledigt, ja wir müssen uns zu dem betrübenden
Geständnis herbeilassen, daß wir nicht hoffen können, er werde jemals in der
Lage sein, seiner Pflicht besser nachzukommen. Die ganze Theorie ist aber
falsch, sie gründet sich auf eine irrige Anschauung von dem Wesen des
Staates. Den Verfechtern der absoluten Theorien ist der Staat das Prinzip
der Sittlichkeit, die menschliche Hand, die die göttliche Gerechtigkeit in ihrem
Bestände sichert, die verkörperte Vernunft und Sittlichkeit. Der Zweck der
Sittlichkeit braucht nicht bewiesen zu werden, also auch nicht der Zweck des
Staates: der Staat ist Selbstzweck. Baut man den Staat so bis in die
Wolken hinein, sieht man in ihm etwas so erhabnes und überirdisches, daß
man bei ihm gar nicht von niedrigen Zwecken reden darf, dann freilich kann
man auch die Äußerungen des Staates ganz unbesehen das Hervortreten der
sittlichen Idee nennen und auch der Strafe Selbstzweck zuschreiben. Dann ist
auch die Kritik in ihrem Rechte, wenn sie spöttisch auf das klägliche Ver¬
hältnis zwischen Soll und Haben hinweist. Diese Kritik ist jedoch hinfällig, und
zwar deshalb, weil der Staat gar nicht die Aufgabe und auch nicht die Fähigkeit
hat, durch Zufügung des der Übelthat entsprechenden Strafübels Gerechtigkeit
zu üben. Der andre Hieb sitzt, nämlich der, daß der Staat auch nicht für
Wiedergutmachung des angerichteten Schadens sorge; denn dafür könnte er
allerdings thätig sein.


Die Behandlung des Verbrechers

der Freiheit beraubt ist, er merkt nichts davon, daß durch die Negation der
Negation das Recht wieder hergestellt ist. Er würde dieses Exempel erst
dann verstehen, wenn der Dieb gezwungen würde, so lange sür ihn zu arbeiten,
bis der Schaden gedeckt wäre. Verfolgen wir aber dieses Beispiel noch etwas
weiter und sehen wir zu, ob wenigstens der Staat und die Gesellschaft be¬
friedigt sein können. B kann, wie 95 Prozent aller Bestraften, keine Kosten
bezahlen. In den Strafanstalten, die unter dem preußischen Ministerium des
Innern stehen, betragen die jährlichen Ausgaben für den einzelnen Gefangnen
331 Mark — durchschnittlich! —, die Einnahmen dagegen bloß 122 Mark
47 Pfennige, daher muß der Staat noch etwa 208 Mark, vielleicht noch
mehr zuzählen, außer den Prozeßkosten. Hat B Familie, so dürfte auch die
Armenpflege in Anspruch genommen werden, um die schuldlosen Angehörigen
des Gefangnen wenigstens nicht gänzlich verhungern zu lassen. Endlich wird
B noch eine Arbeitsprämie in Empfang zu nehmen haben, die vielleicht
nur 20 oder 30 Mark beträgt, wenn er aber Glück, Geschick und Fleiß
hat, auch 70 oder 80 Mark betragen kann. Somit hat der Diebstahl der
hundert Thaler die Folge, daß der Staat und die Gesellschaft noch hundert
Thaler aufbringen müssen, damit die verletzte Gerechtigkeit wieder hergestellt
werde. Wenn also der Zweck der Strafe darin bestünde, ausgleichende Ge¬
rechtigkeit zu üben, so müßte man zugestehen, daß der Staat den verkehrtesten
Weg einschlägt, wenigstens den kostspieligsten, daß er sich seiner Aufgabe
wirklich in kläglicher Weise entledigt, ja wir müssen uns zu dem betrübenden
Geständnis herbeilassen, daß wir nicht hoffen können, er werde jemals in der
Lage sein, seiner Pflicht besser nachzukommen. Die ganze Theorie ist aber
falsch, sie gründet sich auf eine irrige Anschauung von dem Wesen des
Staates. Den Verfechtern der absoluten Theorien ist der Staat das Prinzip
der Sittlichkeit, die menschliche Hand, die die göttliche Gerechtigkeit in ihrem
Bestände sichert, die verkörperte Vernunft und Sittlichkeit. Der Zweck der
Sittlichkeit braucht nicht bewiesen zu werden, also auch nicht der Zweck des
Staates: der Staat ist Selbstzweck. Baut man den Staat so bis in die
Wolken hinein, sieht man in ihm etwas so erhabnes und überirdisches, daß
man bei ihm gar nicht von niedrigen Zwecken reden darf, dann freilich kann
man auch die Äußerungen des Staates ganz unbesehen das Hervortreten der
sittlichen Idee nennen und auch der Strafe Selbstzweck zuschreiben. Dann ist
auch die Kritik in ihrem Rechte, wenn sie spöttisch auf das klägliche Ver¬
hältnis zwischen Soll und Haben hinweist. Diese Kritik ist jedoch hinfällig, und
zwar deshalb, weil der Staat gar nicht die Aufgabe und auch nicht die Fähigkeit
hat, durch Zufügung des der Übelthat entsprechenden Strafübels Gerechtigkeit
zu üben. Der andre Hieb sitzt, nämlich der, daß der Staat auch nicht für
Wiedergutmachung des angerichteten Schadens sorge; denn dafür könnte er
allerdings thätig sein.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0036" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219712"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Behandlung des Verbrechers</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_80" prev="#ID_79"> der Freiheit beraubt ist, er merkt nichts davon, daß durch die Negation der<lb/>
Negation das Recht wieder hergestellt ist. Er würde dieses Exempel erst<lb/>
dann verstehen, wenn der Dieb gezwungen würde, so lange sür ihn zu arbeiten,<lb/>
bis der Schaden gedeckt wäre. Verfolgen wir aber dieses Beispiel noch etwas<lb/>
weiter und sehen wir zu, ob wenigstens der Staat und die Gesellschaft be¬<lb/>
friedigt sein können. B kann, wie 95 Prozent aller Bestraften, keine Kosten<lb/>
bezahlen. In den Strafanstalten, die unter dem preußischen Ministerium des<lb/>
Innern stehen, betragen die jährlichen Ausgaben für den einzelnen Gefangnen<lb/>
331 Mark &#x2014; durchschnittlich! &#x2014;, die Einnahmen dagegen bloß 122 Mark<lb/>
47 Pfennige, daher muß der Staat noch etwa 208 Mark, vielleicht noch<lb/>
mehr zuzählen, außer den Prozeßkosten. Hat B Familie, so dürfte auch die<lb/>
Armenpflege in Anspruch genommen werden, um die schuldlosen Angehörigen<lb/>
des Gefangnen wenigstens nicht gänzlich verhungern zu lassen. Endlich wird<lb/>
B noch eine Arbeitsprämie in Empfang zu nehmen haben, die vielleicht<lb/>
nur 20 oder 30 Mark beträgt, wenn er aber Glück, Geschick und Fleiß<lb/>
hat, auch 70 oder 80 Mark betragen kann. Somit hat der Diebstahl der<lb/>
hundert Thaler die Folge, daß der Staat und die Gesellschaft noch hundert<lb/>
Thaler aufbringen müssen, damit die verletzte Gerechtigkeit wieder hergestellt<lb/>
werde. Wenn also der Zweck der Strafe darin bestünde, ausgleichende Ge¬<lb/>
rechtigkeit zu üben, so müßte man zugestehen, daß der Staat den verkehrtesten<lb/>
Weg einschlägt, wenigstens den kostspieligsten, daß er sich seiner Aufgabe<lb/>
wirklich in kläglicher Weise entledigt, ja wir müssen uns zu dem betrübenden<lb/>
Geständnis herbeilassen, daß wir nicht hoffen können, er werde jemals in der<lb/>
Lage sein, seiner Pflicht besser nachzukommen. Die ganze Theorie ist aber<lb/>
falsch, sie gründet sich auf eine irrige Anschauung von dem Wesen des<lb/>
Staates. Den Verfechtern der absoluten Theorien ist der Staat das Prinzip<lb/>
der Sittlichkeit, die menschliche Hand, die die göttliche Gerechtigkeit in ihrem<lb/>
Bestände sichert, die verkörperte Vernunft und Sittlichkeit. Der Zweck der<lb/>
Sittlichkeit braucht nicht bewiesen zu werden, also auch nicht der Zweck des<lb/>
Staates: der Staat ist Selbstzweck. Baut man den Staat so bis in die<lb/>
Wolken hinein, sieht man in ihm etwas so erhabnes und überirdisches, daß<lb/>
man bei ihm gar nicht von niedrigen Zwecken reden darf, dann freilich kann<lb/>
man auch die Äußerungen des Staates ganz unbesehen das Hervortreten der<lb/>
sittlichen Idee nennen und auch der Strafe Selbstzweck zuschreiben. Dann ist<lb/>
auch die Kritik in ihrem Rechte, wenn sie spöttisch auf das klägliche Ver¬<lb/>
hältnis zwischen Soll und Haben hinweist. Diese Kritik ist jedoch hinfällig, und<lb/>
zwar deshalb, weil der Staat gar nicht die Aufgabe und auch nicht die Fähigkeit<lb/>
hat, durch Zufügung des der Übelthat entsprechenden Strafübels Gerechtigkeit<lb/>
zu üben. Der andre Hieb sitzt, nämlich der, daß der Staat auch nicht für<lb/>
Wiedergutmachung des angerichteten Schadens sorge; denn dafür könnte er<lb/>
allerdings thätig sein.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0036] Die Behandlung des Verbrechers der Freiheit beraubt ist, er merkt nichts davon, daß durch die Negation der Negation das Recht wieder hergestellt ist. Er würde dieses Exempel erst dann verstehen, wenn der Dieb gezwungen würde, so lange sür ihn zu arbeiten, bis der Schaden gedeckt wäre. Verfolgen wir aber dieses Beispiel noch etwas weiter und sehen wir zu, ob wenigstens der Staat und die Gesellschaft be¬ friedigt sein können. B kann, wie 95 Prozent aller Bestraften, keine Kosten bezahlen. In den Strafanstalten, die unter dem preußischen Ministerium des Innern stehen, betragen die jährlichen Ausgaben für den einzelnen Gefangnen 331 Mark — durchschnittlich! —, die Einnahmen dagegen bloß 122 Mark 47 Pfennige, daher muß der Staat noch etwa 208 Mark, vielleicht noch mehr zuzählen, außer den Prozeßkosten. Hat B Familie, so dürfte auch die Armenpflege in Anspruch genommen werden, um die schuldlosen Angehörigen des Gefangnen wenigstens nicht gänzlich verhungern zu lassen. Endlich wird B noch eine Arbeitsprämie in Empfang zu nehmen haben, die vielleicht nur 20 oder 30 Mark beträgt, wenn er aber Glück, Geschick und Fleiß hat, auch 70 oder 80 Mark betragen kann. Somit hat der Diebstahl der hundert Thaler die Folge, daß der Staat und die Gesellschaft noch hundert Thaler aufbringen müssen, damit die verletzte Gerechtigkeit wieder hergestellt werde. Wenn also der Zweck der Strafe darin bestünde, ausgleichende Ge¬ rechtigkeit zu üben, so müßte man zugestehen, daß der Staat den verkehrtesten Weg einschlägt, wenigstens den kostspieligsten, daß er sich seiner Aufgabe wirklich in kläglicher Weise entledigt, ja wir müssen uns zu dem betrübenden Geständnis herbeilassen, daß wir nicht hoffen können, er werde jemals in der Lage sein, seiner Pflicht besser nachzukommen. Die ganze Theorie ist aber falsch, sie gründet sich auf eine irrige Anschauung von dem Wesen des Staates. Den Verfechtern der absoluten Theorien ist der Staat das Prinzip der Sittlichkeit, die menschliche Hand, die die göttliche Gerechtigkeit in ihrem Bestände sichert, die verkörperte Vernunft und Sittlichkeit. Der Zweck der Sittlichkeit braucht nicht bewiesen zu werden, also auch nicht der Zweck des Staates: der Staat ist Selbstzweck. Baut man den Staat so bis in die Wolken hinein, sieht man in ihm etwas so erhabnes und überirdisches, daß man bei ihm gar nicht von niedrigen Zwecken reden darf, dann freilich kann man auch die Äußerungen des Staates ganz unbesehen das Hervortreten der sittlichen Idee nennen und auch der Strafe Selbstzweck zuschreiben. Dann ist auch die Kritik in ihrem Rechte, wenn sie spöttisch auf das klägliche Ver¬ hältnis zwischen Soll und Haben hinweist. Diese Kritik ist jedoch hinfällig, und zwar deshalb, weil der Staat gar nicht die Aufgabe und auch nicht die Fähigkeit hat, durch Zufügung des der Übelthat entsprechenden Strafübels Gerechtigkeit zu üben. Der andre Hieb sitzt, nämlich der, daß der Staat auch nicht für Wiedergutmachung des angerichteten Schadens sorge; denn dafür könnte er allerdings thätig sein.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/36
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/36>, abgerufen am 25.08.2024.