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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Diktatur und Verfassung

doch selbstverständlich. Wir hätten uns deshalb die neuen angeblichen Volks¬
vertreter in der Hauptsache nur aus der "jubelnden" Umgebung des Grafen
Mirbach, d. h. aus dem ostelbischen Großgrundbesitz und aus der westlichen
Großindustrie hervorgegangen zu denken. Es würde sich nun für die Regierung
darum handeln, dieses Parlament jederzeit so in der Hand zu behalten, daß
es zu den Regierungsvorlagen stets ein strammes und gläubiges Ja und
Amen sagte. Dazu bieten sich zwei Wege. Entweder die Machthaber ver¬
stehen es, die neuen Parlamentarier durch liebevolles Eingehen auf ihre Privat-
wünsche, als da sind Antrag Kanitz, oder was sonst an großen und durch¬
greifenden Mitteln zu Gunsten der Landwirtschaft gerade auf der Tagesord¬
nung stehen wird, radiale Schutzzölle, völlige Unterdrückung des Koalitions¬
rechts der Arbeiter u. dergl. bei Stimmung zu erhalten. Beiläufig keine ganz
leichte Aufgabe, da sich die beiden Regierungssitzen: Großgrundbesitz und
Großindustrie in rücksichtslosem Kampfe für ihre Sonderinteressen bald genug
in die Haare fahren dürften. Oder man zieht vor, das Reichstagsgebäude
dauernd mit einigen Kompagnien zuverlässiger Soldtruppen zu belegen. Jeden¬
falls würde auch der Scheinparlamentarismus nur eine vorübergehende Er¬
scheinung sein, und man hätte sich die reine Diktatur des Kaisers oder der
verbündeten Regierungen als den vermutlich bald eintretenden Normalzustand
zu denken. Nun wäre es ja nicht undenkbar, und manche scheinen sich dessen
ziemlich sicher zu getrosten, daß eben diese Diktatur die Geschicke der zu ihren
Füßen liegenden Nation mit so überlegner Weisheit und Stärke leiten würde, daß
den Deutschen wenigstens die innere materielle Wohlfahrt verbürgt wäre und
unser Vaterland auch nach außen mächtig und angesehen dastünde. Ge¬
schichtlich bietet ja das Protektorat Oliver Cromwells dafür ein Beispiel. Und
doch brach auch sein System, da er seine hohe Staatskunst nicht auch auf
seinen Sohn und Nachfolger hatte vererben können, fast unmittelbar uach
seinem Tode zusammen. Mamulay bezeugt, daß "selbst die Wiederherstellung
der alten Unregelmäßigkeiten und Mißbräuche, die immerhin dem Gesetze ent¬
sprochen hatten und nur durch das Schwert ausgerottet worden waren, dem
englischen Volke eine Genugthuung gewährte. Die ganze Nation war krank vom
Säbelregiment und schmachtete nach einer Regierung nach Gesetzen." Auch in
Deutschland könnte man die Erfahrung machen, daß dem jetzt so viel ge¬
schmähten Reichstag selbst von seinen heutigen geschworensten Gegnern einst
blutige Thränen nachgeweint werden würden.

Wie aber, wenn die neue Diktatur jener Weisheit und Stärke entbehrte?
Die Teilung der gesetzgebenden Gewalt zwischen Regierung und Volksver¬
tretung wirkt einer unfähigen Regierung gegenüber doch wenigstens nach
der negativen Seite günstig, insofern sie das Zustandekommen thörichter und
unüberlegter Gesetze hindert. Darf man auch von der eignen Anregung der
Parlamente uicht viel Positives erwarten, so können sich die Völker doch


Diktatur und Verfassung

doch selbstverständlich. Wir hätten uns deshalb die neuen angeblichen Volks¬
vertreter in der Hauptsache nur aus der „jubelnden" Umgebung des Grafen
Mirbach, d. h. aus dem ostelbischen Großgrundbesitz und aus der westlichen
Großindustrie hervorgegangen zu denken. Es würde sich nun für die Regierung
darum handeln, dieses Parlament jederzeit so in der Hand zu behalten, daß
es zu den Regierungsvorlagen stets ein strammes und gläubiges Ja und
Amen sagte. Dazu bieten sich zwei Wege. Entweder die Machthaber ver¬
stehen es, die neuen Parlamentarier durch liebevolles Eingehen auf ihre Privat-
wünsche, als da sind Antrag Kanitz, oder was sonst an großen und durch¬
greifenden Mitteln zu Gunsten der Landwirtschaft gerade auf der Tagesord¬
nung stehen wird, radiale Schutzzölle, völlige Unterdrückung des Koalitions¬
rechts der Arbeiter u. dergl. bei Stimmung zu erhalten. Beiläufig keine ganz
leichte Aufgabe, da sich die beiden Regierungssitzen: Großgrundbesitz und
Großindustrie in rücksichtslosem Kampfe für ihre Sonderinteressen bald genug
in die Haare fahren dürften. Oder man zieht vor, das Reichstagsgebäude
dauernd mit einigen Kompagnien zuverlässiger Soldtruppen zu belegen. Jeden¬
falls würde auch der Scheinparlamentarismus nur eine vorübergehende Er¬
scheinung sein, und man hätte sich die reine Diktatur des Kaisers oder der
verbündeten Regierungen als den vermutlich bald eintretenden Normalzustand
zu denken. Nun wäre es ja nicht undenkbar, und manche scheinen sich dessen
ziemlich sicher zu getrosten, daß eben diese Diktatur die Geschicke der zu ihren
Füßen liegenden Nation mit so überlegner Weisheit und Stärke leiten würde, daß
den Deutschen wenigstens die innere materielle Wohlfahrt verbürgt wäre und
unser Vaterland auch nach außen mächtig und angesehen dastünde. Ge¬
schichtlich bietet ja das Protektorat Oliver Cromwells dafür ein Beispiel. Und
doch brach auch sein System, da er seine hohe Staatskunst nicht auch auf
seinen Sohn und Nachfolger hatte vererben können, fast unmittelbar uach
seinem Tode zusammen. Mamulay bezeugt, daß „selbst die Wiederherstellung
der alten Unregelmäßigkeiten und Mißbräuche, die immerhin dem Gesetze ent¬
sprochen hatten und nur durch das Schwert ausgerottet worden waren, dem
englischen Volke eine Genugthuung gewährte. Die ganze Nation war krank vom
Säbelregiment und schmachtete nach einer Regierung nach Gesetzen." Auch in
Deutschland könnte man die Erfahrung machen, daß dem jetzt so viel ge¬
schmähten Reichstag selbst von seinen heutigen geschworensten Gegnern einst
blutige Thränen nachgeweint werden würden.

Wie aber, wenn die neue Diktatur jener Weisheit und Stärke entbehrte?
Die Teilung der gesetzgebenden Gewalt zwischen Regierung und Volksver¬
tretung wirkt einer unfähigen Regierung gegenüber doch wenigstens nach
der negativen Seite günstig, insofern sie das Zustandekommen thörichter und
unüberlegter Gesetze hindert. Darf man auch von der eignen Anregung der
Parlamente uicht viel Positives erwarten, so können sich die Völker doch


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[0359] Diktatur und Verfassung doch selbstverständlich. Wir hätten uns deshalb die neuen angeblichen Volks¬ vertreter in der Hauptsache nur aus der „jubelnden" Umgebung des Grafen Mirbach, d. h. aus dem ostelbischen Großgrundbesitz und aus der westlichen Großindustrie hervorgegangen zu denken. Es würde sich nun für die Regierung darum handeln, dieses Parlament jederzeit so in der Hand zu behalten, daß es zu den Regierungsvorlagen stets ein strammes und gläubiges Ja und Amen sagte. Dazu bieten sich zwei Wege. Entweder die Machthaber ver¬ stehen es, die neuen Parlamentarier durch liebevolles Eingehen auf ihre Privat- wünsche, als da sind Antrag Kanitz, oder was sonst an großen und durch¬ greifenden Mitteln zu Gunsten der Landwirtschaft gerade auf der Tagesord¬ nung stehen wird, radiale Schutzzölle, völlige Unterdrückung des Koalitions¬ rechts der Arbeiter u. dergl. bei Stimmung zu erhalten. Beiläufig keine ganz leichte Aufgabe, da sich die beiden Regierungssitzen: Großgrundbesitz und Großindustrie in rücksichtslosem Kampfe für ihre Sonderinteressen bald genug in die Haare fahren dürften. Oder man zieht vor, das Reichstagsgebäude dauernd mit einigen Kompagnien zuverlässiger Soldtruppen zu belegen. Jeden¬ falls würde auch der Scheinparlamentarismus nur eine vorübergehende Er¬ scheinung sein, und man hätte sich die reine Diktatur des Kaisers oder der verbündeten Regierungen als den vermutlich bald eintretenden Normalzustand zu denken. Nun wäre es ja nicht undenkbar, und manche scheinen sich dessen ziemlich sicher zu getrosten, daß eben diese Diktatur die Geschicke der zu ihren Füßen liegenden Nation mit so überlegner Weisheit und Stärke leiten würde, daß den Deutschen wenigstens die innere materielle Wohlfahrt verbürgt wäre und unser Vaterland auch nach außen mächtig und angesehen dastünde. Ge¬ schichtlich bietet ja das Protektorat Oliver Cromwells dafür ein Beispiel. Und doch brach auch sein System, da er seine hohe Staatskunst nicht auch auf seinen Sohn und Nachfolger hatte vererben können, fast unmittelbar uach seinem Tode zusammen. Mamulay bezeugt, daß „selbst die Wiederherstellung der alten Unregelmäßigkeiten und Mißbräuche, die immerhin dem Gesetze ent¬ sprochen hatten und nur durch das Schwert ausgerottet worden waren, dem englischen Volke eine Genugthuung gewährte. Die ganze Nation war krank vom Säbelregiment und schmachtete nach einer Regierung nach Gesetzen." Auch in Deutschland könnte man die Erfahrung machen, daß dem jetzt so viel ge¬ schmähten Reichstag selbst von seinen heutigen geschworensten Gegnern einst blutige Thränen nachgeweint werden würden. Wie aber, wenn die neue Diktatur jener Weisheit und Stärke entbehrte? Die Teilung der gesetzgebenden Gewalt zwischen Regierung und Volksver¬ tretung wirkt einer unfähigen Regierung gegenüber doch wenigstens nach der negativen Seite günstig, insofern sie das Zustandekommen thörichter und unüberlegter Gesetze hindert. Darf man auch von der eignen Anregung der Parlamente uicht viel Positives erwarten, so können sich die Völker doch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/359>, abgerufen am 25.08.2024.