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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Diktatur und Verfassung

als Landesgesetze verkünden sollten. Und auch hier gälte wieder: fehlte auch
nur ein einziger Staat, wenn auch der kleinsten einer, so wäre die rechtlich
ohnedies unhaltbare Fiktion auch thatsächlich zerstört. Wollte man aber
selbst das Unmögliche für möglich halten, so setzte doch die Geneigtheit, an
einem Bruche der Reichsverfassung mitzuwirken, bei den deutschen Landes¬
vertretungen eine solche Schwächung des Reichsgedankens voraus, daß man
darauf gefaßt sein müßte, ihre Zustimmung von der Erfüllung der ausschwei¬
fendsten Partikularistischen Forderungen abhängig gemacht zu sehen. Die
Macht des Reichs, durch den Rechtsbruch allein schon im innersten Mark
angefressen, würde dann auch äußerlich in ein nur lose verbnndnes Gefüge
zusammenfallen. Wollten aber die Einzelregierungen gar versuchen, die neue
Reichsverfassung über die Köpfe ihrer widerstrebenden Landesvertretungen hin¬
weg zu dekretiren, fo würden dem einen Staatsstreich im Reiche fünfund¬
zwanzig Staatsstreiche in den einzelnen Bundesstaaten auf dem Fuße folgen
müssen. Es wäre aber doch der helle Wahnsinn, den Einzelregierungen zuzu¬
muten, daß sie ein jahrzehntelanges freundliches oder doch überall wenigstens
erträgliches Verhältnis zu den heimischen Landtagen, dem Eide auf die ein¬
heimische Verfassung zum Trotze, um den Preis einer höchst unsichern, für sie
selbst geradezu lebensgefährlichen Veränderung der Verhältnisse in: Reiche aufs
Spiel setzen und neben den großen Wirren im Reiche anch im eignen Lande
Wirren von unabsehbarer Tragweite heraufbeschwören sollten.

Da unser "vorgetragner Fall nur so ein Spiel des Witzes" sein soll,
den es sich gleichwohl "lohnt, im Ernste durchzudenken," so gehen wir auch
noch einen Schritt weiter. Wir nehmen an, es sei in Deutschland wirklich
gelungen, sagen wir durch einen Machtspruch des Kaisers, mit oder ohne Zu¬
stimmung der verbündeten Regierungen, mit oder ohne Zustimmung der ein-
zelnen Landesvertretungen, vielleicht auch nach militärischer Niederwerfung der
widerstrebenden Einzelstanten im Wege der Bundesexektion, die alte Reichs-
verfassung ganz oder teilweise zu zertrümmern und eine neue wenigstens zu
Papier zu bringen. Da wir immerhin im neunzehnten Jahrhundert und in¬
mitten eines Weltteils leben, der, abgesehen von zwei in ihn hineinragenden
asiatischen Großmächten, durchweg parlamentarische Einrichtungen genießt, so
nehmen wir weiter an, daß die neuen Gewalthaber wenigstens den Schein
einer Volksvertretung zu wahren und deshalb eine Art von Reichstag an
ihrer Seite oder vielmehr zu ihrer Verfügung zu haben wünschen. Denken
wir uns diesen sogenannten Reichstag beispielsweise aus Abordnungen der
Einzellandtage, wenn auch vielleicht nnr als Rumpfparlament zusammengesetzt,
oder nehmen wir selbst an, er sei aus einem vorsichtig beschnittenen Wahl¬
recht der besitzenden Klassen hervorgegangen. Denn daß die neuen Gewalten
den nichtbesitzenden, d. h. den arbeitenden und den bloß gebildeten Klassen als
ihren unversöhnlichen Todfeinden keinerlei Vertretung zugestehen würden, wäre


Diktatur und Verfassung

als Landesgesetze verkünden sollten. Und auch hier gälte wieder: fehlte auch
nur ein einziger Staat, wenn auch der kleinsten einer, so wäre die rechtlich
ohnedies unhaltbare Fiktion auch thatsächlich zerstört. Wollte man aber
selbst das Unmögliche für möglich halten, so setzte doch die Geneigtheit, an
einem Bruche der Reichsverfassung mitzuwirken, bei den deutschen Landes¬
vertretungen eine solche Schwächung des Reichsgedankens voraus, daß man
darauf gefaßt sein müßte, ihre Zustimmung von der Erfüllung der ausschwei¬
fendsten Partikularistischen Forderungen abhängig gemacht zu sehen. Die
Macht des Reichs, durch den Rechtsbruch allein schon im innersten Mark
angefressen, würde dann auch äußerlich in ein nur lose verbnndnes Gefüge
zusammenfallen. Wollten aber die Einzelregierungen gar versuchen, die neue
Reichsverfassung über die Köpfe ihrer widerstrebenden Landesvertretungen hin¬
weg zu dekretiren, fo würden dem einen Staatsstreich im Reiche fünfund¬
zwanzig Staatsstreiche in den einzelnen Bundesstaaten auf dem Fuße folgen
müssen. Es wäre aber doch der helle Wahnsinn, den Einzelregierungen zuzu¬
muten, daß sie ein jahrzehntelanges freundliches oder doch überall wenigstens
erträgliches Verhältnis zu den heimischen Landtagen, dem Eide auf die ein¬
heimische Verfassung zum Trotze, um den Preis einer höchst unsichern, für sie
selbst geradezu lebensgefährlichen Veränderung der Verhältnisse in: Reiche aufs
Spiel setzen und neben den großen Wirren im Reiche anch im eignen Lande
Wirren von unabsehbarer Tragweite heraufbeschwören sollten.

Da unser „vorgetragner Fall nur so ein Spiel des Witzes" sein soll,
den es sich gleichwohl „lohnt, im Ernste durchzudenken," so gehen wir auch
noch einen Schritt weiter. Wir nehmen an, es sei in Deutschland wirklich
gelungen, sagen wir durch einen Machtspruch des Kaisers, mit oder ohne Zu¬
stimmung der verbündeten Regierungen, mit oder ohne Zustimmung der ein-
zelnen Landesvertretungen, vielleicht auch nach militärischer Niederwerfung der
widerstrebenden Einzelstanten im Wege der Bundesexektion, die alte Reichs-
verfassung ganz oder teilweise zu zertrümmern und eine neue wenigstens zu
Papier zu bringen. Da wir immerhin im neunzehnten Jahrhundert und in¬
mitten eines Weltteils leben, der, abgesehen von zwei in ihn hineinragenden
asiatischen Großmächten, durchweg parlamentarische Einrichtungen genießt, so
nehmen wir weiter an, daß die neuen Gewalthaber wenigstens den Schein
einer Volksvertretung zu wahren und deshalb eine Art von Reichstag an
ihrer Seite oder vielmehr zu ihrer Verfügung zu haben wünschen. Denken
wir uns diesen sogenannten Reichstag beispielsweise aus Abordnungen der
Einzellandtage, wenn auch vielleicht nnr als Rumpfparlament zusammengesetzt,
oder nehmen wir selbst an, er sei aus einem vorsichtig beschnittenen Wahl¬
recht der besitzenden Klassen hervorgegangen. Denn daß die neuen Gewalten
den nichtbesitzenden, d. h. den arbeitenden und den bloß gebildeten Klassen als
ihren unversöhnlichen Todfeinden keinerlei Vertretung zugestehen würden, wäre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/358>, abgerufen am 25.08.2024.