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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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notwendig, mit der seiner Zeit der Bund begründet worden ist. Denn eine
Mehrheit von 45 über 13 Stimmen im Bundesrat ist nur dann ausreichend,
wenn die Verfassungsänderung ans dem verfassungsmäßig geordnete"? Wege
durch Neichsgesetz, somit unter Zustimmung auch des Reichstags, zu Stande
kommt. Wir halten es nun für ausgeschlossen, daß sich die zweiundzwanzig
deutschen Fürsten, ganz abgesehen von den Hansestädten, jemals auf eine ge¬
waltsame Änderung der Reichsverfassung, sei es auch uur durch Oktroyiruug
eines andern Wahlrechts, dnrch Vertrag und gütlich einigen werden. Wider¬
spräche aber auch nur einer, wenn auch der kleinsten einer, so wäre die Fiktion
einer Erneuerung des Buudesvertrags auf neuen Grundlagen, ohnehin ein
äußerst dürftiges Auskuuftsiuittel, überhaupt nicht aufrecht zu erhalten.

Selbst wenn aber die Vertragstreue nicht hinreichte, die Fürsten von
solchen Schritten abzuhalten, so würde es doch die Klugheit thun. Fürst
Bismarck hat oft hervorgehoben, daß das Reich die kräftigere Stütze zu An¬
fang mehr im deutschen Volke, später aber, man kann sagen seit dem Ende
der siebziger Jahre, mehr in den deutscheu Fürsten gefunden habe. Nun glauben
wir zwar nicht, daß der Neichsgedcmke -- uicht zu verwechseln mit der Zu¬
friedenheit über die jeweilige Leitung der Reichsangelegenheiten in Berlin --
im deutschen Volke zurückgegangen sei. Ganz gewiß hat er aber heute auch
unter den deutscheu Fürsten eine Kraft erlangt, die man früher nicht so un¬
bedingt zu behaupten wagte. Offenbar hat auch bei ihnen im letzten Ne-
giernngSjahrzehnt Kaiser Wilhelms I. die Verstimmung über einzelne preis¬
gegebne Hoheitsrechte und das anfängliche Mißtrauen gegen die Zentralgewalt
der Erkenntnis Platz gemacht, daß ihre eigne Stellung gerade unter dem
Schutze des Reichs unendlich an Sicherheit gewonnen hat. Waren doch die
kleinern Bundesstaaten bis zum Jahre 1866 vor ihre" mächtigern Bundes¬
genossen und vor dem Auslande eigentlich keinen Tag ihres Lebens sicher, und
wird doch, seit dein Emporkommen der sozialdemokratischen Bewegung, wenigstens
den industriellen deutschen Mittelstaaten, deren Bevölkerung zur reichliche" Hälfte
den roten Fahnen folgt, auch ihre innere Sicherheit vom Reiche gewährleistet.
Wir denken dabei nicht bloß an die Heeresmacht des Reichs, obwohl die Ge¬
wißheit, daß hinter dem Rechte jederzeit auch die Macht steht, dem Rechte erst
die Anerkennung sichert. Schon die im Laufe der letzten Generation herge¬
stellte tausendfältige Verbindung des Reichs und der Einzelstanten fast auf
alleu Gebieten des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens hat zwischen beiden
eine so enge und zugleich so wohlthätige Lebensgemeinschaft zu stände gebracht,
daß der Gedanke an ihre Wiederauflösung gar keine Stätte mehr hat. Ja so
stark ist die geschichtliche Macht einer fast dreißigjährigen ruhigen und ver¬
fassungsmäßigen Entwicklung, daß auch die unitarischen Bestrebungen bellte
allen Boden verloren haben. Niemand denkt mehr daran, auch den kleinen
Duodezstaaten, deren Daseinsberechtigung noch bis in die achtziger Jahre hinein


notwendig, mit der seiner Zeit der Bund begründet worden ist. Denn eine
Mehrheit von 45 über 13 Stimmen im Bundesrat ist nur dann ausreichend,
wenn die Verfassungsänderung ans dem verfassungsmäßig geordnete»? Wege
durch Neichsgesetz, somit unter Zustimmung auch des Reichstags, zu Stande
kommt. Wir halten es nun für ausgeschlossen, daß sich die zweiundzwanzig
deutschen Fürsten, ganz abgesehen von den Hansestädten, jemals auf eine ge¬
waltsame Änderung der Reichsverfassung, sei es auch uur durch Oktroyiruug
eines andern Wahlrechts, dnrch Vertrag und gütlich einigen werden. Wider¬
spräche aber auch nur einer, wenn auch der kleinsten einer, so wäre die Fiktion
einer Erneuerung des Buudesvertrags auf neuen Grundlagen, ohnehin ein
äußerst dürftiges Auskuuftsiuittel, überhaupt nicht aufrecht zu erhalten.

Selbst wenn aber die Vertragstreue nicht hinreichte, die Fürsten von
solchen Schritten abzuhalten, so würde es doch die Klugheit thun. Fürst
Bismarck hat oft hervorgehoben, daß das Reich die kräftigere Stütze zu An¬
fang mehr im deutschen Volke, später aber, man kann sagen seit dem Ende
der siebziger Jahre, mehr in den deutscheu Fürsten gefunden habe. Nun glauben
wir zwar nicht, daß der Neichsgedcmke — uicht zu verwechseln mit der Zu¬
friedenheit über die jeweilige Leitung der Reichsangelegenheiten in Berlin —
im deutschen Volke zurückgegangen sei. Ganz gewiß hat er aber heute auch
unter den deutscheu Fürsten eine Kraft erlangt, die man früher nicht so un¬
bedingt zu behaupten wagte. Offenbar hat auch bei ihnen im letzten Ne-
giernngSjahrzehnt Kaiser Wilhelms I. die Verstimmung über einzelne preis¬
gegebne Hoheitsrechte und das anfängliche Mißtrauen gegen die Zentralgewalt
der Erkenntnis Platz gemacht, daß ihre eigne Stellung gerade unter dem
Schutze des Reichs unendlich an Sicherheit gewonnen hat. Waren doch die
kleinern Bundesstaaten bis zum Jahre 1866 vor ihre« mächtigern Bundes¬
genossen und vor dem Auslande eigentlich keinen Tag ihres Lebens sicher, und
wird doch, seit dein Emporkommen der sozialdemokratischen Bewegung, wenigstens
den industriellen deutschen Mittelstaaten, deren Bevölkerung zur reichliche» Hälfte
den roten Fahnen folgt, auch ihre innere Sicherheit vom Reiche gewährleistet.
Wir denken dabei nicht bloß an die Heeresmacht des Reichs, obwohl die Ge¬
wißheit, daß hinter dem Rechte jederzeit auch die Macht steht, dem Rechte erst
die Anerkennung sichert. Schon die im Laufe der letzten Generation herge¬
stellte tausendfältige Verbindung des Reichs und der Einzelstanten fast auf
alleu Gebieten des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens hat zwischen beiden
eine so enge und zugleich so wohlthätige Lebensgemeinschaft zu stände gebracht,
daß der Gedanke an ihre Wiederauflösung gar keine Stätte mehr hat. Ja so
stark ist die geschichtliche Macht einer fast dreißigjährigen ruhigen und ver¬
fassungsmäßigen Entwicklung, daß auch die unitarischen Bestrebungen bellte
allen Boden verloren haben. Niemand denkt mehr daran, auch den kleinen
Duodezstaaten, deren Daseinsberechtigung noch bis in die achtziger Jahre hinein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/356>, abgerufen am 25.08.2024.