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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Eduard Hanslicks Lebenserinnermigen

man trotz des Umwegs, der in dem Verzicht auf die höchste Kürze der Zeichen
zu Gunsten ihrer Verbindungsfähigkeit liegt, doch schließlich fast bis zu der¬
selben Einfachheit der Anlage gelangen kann, die die unbrauchbare, nnr über
starre Lautzeichen verfügende Kurzschrift DuplotM auszeichnete. Es braucht
zu den dreißig wandelbaren Lautzeichen noch kein halbes Dutzend wirklich ein¬
schneidender Kürzungsregeln hinzuzutreten, um die gleiche Kürze herbeizuführen
wie dort, hier aber verbunden mit einer unvergleichlich viel größern Deutlich¬
keit und Handlichkeit.

Wir haben gesehen, die Beziehungen zwischen Kurzschrift und Sprache
liegen nicht an der Oberfläche. Erst die Ermittelung der obersten Schrift¬
gesetze giebt der Sprache die richtige Beleuchtung und läßt die Seiten er¬
kennen, an die eine Anpassung der Schrift erfolgen kaun. Die Schriftgesetze
zu finden ist schwer, die Untersuchung der Sprache leicht. Die Schriftgesetze
gewinnt man nicht aus irgend welchen peinlichen Einzeluntersuchungen, sondern
nur aus einer lebensvollen Auffassung der Schriftmittel, die selbst wieder
nur aus einer gesetzmäßigen Entwicklung der Zeichen aus den letzten Schrift¬
einheiten hervorgehen kann. Nur auf diesem Wege vermag man ein steno¬
graphisches System zu einem Organismus zu machen, der in seinen großen
Zügen allein auf Schriftgesetzen aufgebaut und doch fähig ist, sich innig an
das Gefüge der Sprache anzulehnen. Auf der andern Seite erhält man durch
die Untersuchung der Sprache, nach einem eben durch die Schriftgesetze vor¬
gezeichneten Plane, rückwirkend die Fingerzeige für die endgiltige Ausgestaltung
der Kurzschrift in allen ihren Einzelheiten. Das ist das Verhältnis zwischen
Kurzschrift und Sprache.




Eduard Hanslicks Lebenserinnerungen

lief, was ich hier erzähle, ist vollständig so erlebt und gefühlt,
ist auch buchstäblich getreu. Aber nicht alles, was ich erlebt
und empfunden habe, erzähle ich" ^ so antwortete Hanslick
seinem Freunde Billroth, der nach dem Lesen des ersten Heftes
der Erinnerungen kräftigere Schatten und schärfere Betonung
der innern Konflikte wünschte. Man hat diese Bemerkung wohl zu beachten.
Wir lernen Hanslick ans seinen Mitteilungen nicht ganz so kennen, wie
er war und ist, sondern so, wie er gerne erscheinen möchte. Nun dürfte es


Eduard Hanslicks Lebenserinnermigen

man trotz des Umwegs, der in dem Verzicht auf die höchste Kürze der Zeichen
zu Gunsten ihrer Verbindungsfähigkeit liegt, doch schließlich fast bis zu der¬
selben Einfachheit der Anlage gelangen kann, die die unbrauchbare, nnr über
starre Lautzeichen verfügende Kurzschrift DuplotM auszeichnete. Es braucht
zu den dreißig wandelbaren Lautzeichen noch kein halbes Dutzend wirklich ein¬
schneidender Kürzungsregeln hinzuzutreten, um die gleiche Kürze herbeizuführen
wie dort, hier aber verbunden mit einer unvergleichlich viel größern Deutlich¬
keit und Handlichkeit.

Wir haben gesehen, die Beziehungen zwischen Kurzschrift und Sprache
liegen nicht an der Oberfläche. Erst die Ermittelung der obersten Schrift¬
gesetze giebt der Sprache die richtige Beleuchtung und läßt die Seiten er¬
kennen, an die eine Anpassung der Schrift erfolgen kaun. Die Schriftgesetze
zu finden ist schwer, die Untersuchung der Sprache leicht. Die Schriftgesetze
gewinnt man nicht aus irgend welchen peinlichen Einzeluntersuchungen, sondern
nur aus einer lebensvollen Auffassung der Schriftmittel, die selbst wieder
nur aus einer gesetzmäßigen Entwicklung der Zeichen aus den letzten Schrift¬
einheiten hervorgehen kann. Nur auf diesem Wege vermag man ein steno¬
graphisches System zu einem Organismus zu machen, der in seinen großen
Zügen allein auf Schriftgesetzen aufgebaut und doch fähig ist, sich innig an
das Gefüge der Sprache anzulehnen. Auf der andern Seite erhält man durch
die Untersuchung der Sprache, nach einem eben durch die Schriftgesetze vor¬
gezeichneten Plane, rückwirkend die Fingerzeige für die endgiltige Ausgestaltung
der Kurzschrift in allen ihren Einzelheiten. Das ist das Verhältnis zwischen
Kurzschrift und Sprache.




Eduard Hanslicks Lebenserinnerungen

lief, was ich hier erzähle, ist vollständig so erlebt und gefühlt,
ist auch buchstäblich getreu. Aber nicht alles, was ich erlebt
und empfunden habe, erzähle ich" ^ so antwortete Hanslick
seinem Freunde Billroth, der nach dem Lesen des ersten Heftes
der Erinnerungen kräftigere Schatten und schärfere Betonung
der innern Konflikte wünschte. Man hat diese Bemerkung wohl zu beachten.
Wir lernen Hanslick ans seinen Mitteilungen nicht ganz so kennen, wie
er war und ist, sondern so, wie er gerne erscheinen möchte. Nun dürfte es


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[0328] Eduard Hanslicks Lebenserinnermigen man trotz des Umwegs, der in dem Verzicht auf die höchste Kürze der Zeichen zu Gunsten ihrer Verbindungsfähigkeit liegt, doch schließlich fast bis zu der¬ selben Einfachheit der Anlage gelangen kann, die die unbrauchbare, nnr über starre Lautzeichen verfügende Kurzschrift DuplotM auszeichnete. Es braucht zu den dreißig wandelbaren Lautzeichen noch kein halbes Dutzend wirklich ein¬ schneidender Kürzungsregeln hinzuzutreten, um die gleiche Kürze herbeizuführen wie dort, hier aber verbunden mit einer unvergleichlich viel größern Deutlich¬ keit und Handlichkeit. Wir haben gesehen, die Beziehungen zwischen Kurzschrift und Sprache liegen nicht an der Oberfläche. Erst die Ermittelung der obersten Schrift¬ gesetze giebt der Sprache die richtige Beleuchtung und läßt die Seiten er¬ kennen, an die eine Anpassung der Schrift erfolgen kaun. Die Schriftgesetze zu finden ist schwer, die Untersuchung der Sprache leicht. Die Schriftgesetze gewinnt man nicht aus irgend welchen peinlichen Einzeluntersuchungen, sondern nur aus einer lebensvollen Auffassung der Schriftmittel, die selbst wieder nur aus einer gesetzmäßigen Entwicklung der Zeichen aus den letzten Schrift¬ einheiten hervorgehen kann. Nur auf diesem Wege vermag man ein steno¬ graphisches System zu einem Organismus zu machen, der in seinen großen Zügen allein auf Schriftgesetzen aufgebaut und doch fähig ist, sich innig an das Gefüge der Sprache anzulehnen. Auf der andern Seite erhält man durch die Untersuchung der Sprache, nach einem eben durch die Schriftgesetze vor¬ gezeichneten Plane, rückwirkend die Fingerzeige für die endgiltige Ausgestaltung der Kurzschrift in allen ihren Einzelheiten. Das ist das Verhältnis zwischen Kurzschrift und Sprache. Eduard Hanslicks Lebenserinnerungen lief, was ich hier erzähle, ist vollständig so erlebt und gefühlt, ist auch buchstäblich getreu. Aber nicht alles, was ich erlebt und empfunden habe, erzähle ich" ^ so antwortete Hanslick seinem Freunde Billroth, der nach dem Lesen des ersten Heftes der Erinnerungen kräftigere Schatten und schärfere Betonung der innern Konflikte wünschte. Man hat diese Bemerkung wohl zu beachten. Wir lernen Hanslick ans seinen Mitteilungen nicht ganz so kennen, wie er war und ist, sondern so, wie er gerne erscheinen möchte. Nun dürfte es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/328>, abgerufen am 26.08.2024.