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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Kurzschrift und Sprache

zu verarbeiten. Dieser Hauptteil der Kädingschen Untersuchungen ist also
nichts als eine ungeheure Arbeitsverschwendung. Außerdem ist seine Be¬
deutung wesentlich negativ, da seine Ergebnisse hoffentlich zur Abschaffung
vieler bisher gebräuchlichen Abkürzungen führen werdeu. Der zweite Teil der
Untersuchungen aber, die Feststellung der Hüufigkeitsverhältnisse der einzelnen
Laute und einiger Lautverbindungen, hätte sich, das will ich gleich hier
erwähnen, mit hinreichender Sicherheit an einem Stoffe von tausendmal
geringerm Umfange vornehmen lassen. Es hätte überhaupt eines so gro߬
artigen Apparates nicht bedurft.

Wir legen uns nun die Frage vor, wie die der Kurzschrift eigentümlichen
Schriftmittel die gewünschte Anpassung an die Sprache finden können. Die
Antwort kann nur ein vollständiger Überblick über die Mittel der Kurzschrift
geben. Ich beschränke mich auf die Darlegung dessen, was zum Verständnis
unbedingt notwendig ist.

Am meisten erwünscht wäre es offenbar, wenn sich für jeden Laut ein
solches Zeichen finden ließe, daß die bloße Aneinanderreihung eine Schrift
von genügender Kürze lieferte. Dieser Weg ist in Frankreich von Duployv
betreten worden und hat zum Ziele geführt. Zum Unglück läßt sich aber
seine Schrift weder schreiben noch lesen, sie ist kurz, aber ungemein unhandlich
und undeutlich. Obwohl es Zeichen genug giebt, von denen jedes für sich
alle drei gewünschten Eigenschaften hat, Kürze, Handlichkeit und Deutlichkeit,
läßt sich nicht die erforderliche Zahl aufbringen, die diese Eigenschaften auch
in der Verbindung zum Wortbilde behielte. Die Schwierigkeit der Verbin¬
dung ist auch nicht dadurch zu bemeistern, daß man für Lautgruppen, Silben
und Wörter besondre Zeichen aufstellt. Sind es wenig, so rudern sie nichts,
sind es viel, so fügen sie zu den alten Fehlern noch einen neuen hinzu. Dieser
Weg ist also ungangbar und deshalb in Deutschland aufgegeben worden.

Das Ziel läßt sich nur auf einem Umwege erreichen. Man muß erst
dafür Sorge tragen, daß die Zeichen verbindungsfühig werden auf Kosten
ihrer Kürze, und dann die erforderliche Kürze durch besondre Bestimmungen
herbeiführen. Beide Seiten dieses Verfahrens werden zugleich ermöglicht
durch eine veränderte Auffassung der Zeichen, die in ihnen nicht mehr starre,
fondern wandelbare Gebilde sieht. Sie scheidet die Schriftmittel in zwei
Klassen, in selbständige Zeichen und unselbständige Merkmale, denen die
Zeichen als Träger dienen. Die Scheidung ist rein künstlich. Jedes Zeichen
besteht aus einer Summe von Merkmalen, und alle Merkmale, Größe,
Richtung, Druckstärke, Gestalt und Stellung, lassen sich zum Aufbau einer
fast unübersehbaren Fülle selbständiger Zeichen verwenden. Beschränkt man
aber die Zeichenaufstcllnng, so kann man die übrigen Schriftmittel in Form
der Zeichenwandlung ausnutzen. Zum kleinsten Teil wird sie dadurch er¬
möglicht, daß ein Merkmal, die Stellung, kein notwendiger Bestandteil der


Kurzschrift und Sprache

zu verarbeiten. Dieser Hauptteil der Kädingschen Untersuchungen ist also
nichts als eine ungeheure Arbeitsverschwendung. Außerdem ist seine Be¬
deutung wesentlich negativ, da seine Ergebnisse hoffentlich zur Abschaffung
vieler bisher gebräuchlichen Abkürzungen führen werdeu. Der zweite Teil der
Untersuchungen aber, die Feststellung der Hüufigkeitsverhältnisse der einzelnen
Laute und einiger Lautverbindungen, hätte sich, das will ich gleich hier
erwähnen, mit hinreichender Sicherheit an einem Stoffe von tausendmal
geringerm Umfange vornehmen lassen. Es hätte überhaupt eines so gro߬
artigen Apparates nicht bedurft.

Wir legen uns nun die Frage vor, wie die der Kurzschrift eigentümlichen
Schriftmittel die gewünschte Anpassung an die Sprache finden können. Die
Antwort kann nur ein vollständiger Überblick über die Mittel der Kurzschrift
geben. Ich beschränke mich auf die Darlegung dessen, was zum Verständnis
unbedingt notwendig ist.

Am meisten erwünscht wäre es offenbar, wenn sich für jeden Laut ein
solches Zeichen finden ließe, daß die bloße Aneinanderreihung eine Schrift
von genügender Kürze lieferte. Dieser Weg ist in Frankreich von Duployv
betreten worden und hat zum Ziele geführt. Zum Unglück läßt sich aber
seine Schrift weder schreiben noch lesen, sie ist kurz, aber ungemein unhandlich
und undeutlich. Obwohl es Zeichen genug giebt, von denen jedes für sich
alle drei gewünschten Eigenschaften hat, Kürze, Handlichkeit und Deutlichkeit,
läßt sich nicht die erforderliche Zahl aufbringen, die diese Eigenschaften auch
in der Verbindung zum Wortbilde behielte. Die Schwierigkeit der Verbin¬
dung ist auch nicht dadurch zu bemeistern, daß man für Lautgruppen, Silben
und Wörter besondre Zeichen aufstellt. Sind es wenig, so rudern sie nichts,
sind es viel, so fügen sie zu den alten Fehlern noch einen neuen hinzu. Dieser
Weg ist also ungangbar und deshalb in Deutschland aufgegeben worden.

Das Ziel läßt sich nur auf einem Umwege erreichen. Man muß erst
dafür Sorge tragen, daß die Zeichen verbindungsfühig werden auf Kosten
ihrer Kürze, und dann die erforderliche Kürze durch besondre Bestimmungen
herbeiführen. Beide Seiten dieses Verfahrens werden zugleich ermöglicht
durch eine veränderte Auffassung der Zeichen, die in ihnen nicht mehr starre,
fondern wandelbare Gebilde sieht. Sie scheidet die Schriftmittel in zwei
Klassen, in selbständige Zeichen und unselbständige Merkmale, denen die
Zeichen als Träger dienen. Die Scheidung ist rein künstlich. Jedes Zeichen
besteht aus einer Summe von Merkmalen, und alle Merkmale, Größe,
Richtung, Druckstärke, Gestalt und Stellung, lassen sich zum Aufbau einer
fast unübersehbaren Fülle selbständiger Zeichen verwenden. Beschränkt man
aber die Zeichenaufstcllnng, so kann man die übrigen Schriftmittel in Form
der Zeichenwandlung ausnutzen. Zum kleinsten Teil wird sie dadurch er¬
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[0324] Kurzschrift und Sprache zu verarbeiten. Dieser Hauptteil der Kädingschen Untersuchungen ist also nichts als eine ungeheure Arbeitsverschwendung. Außerdem ist seine Be¬ deutung wesentlich negativ, da seine Ergebnisse hoffentlich zur Abschaffung vieler bisher gebräuchlichen Abkürzungen führen werdeu. Der zweite Teil der Untersuchungen aber, die Feststellung der Hüufigkeitsverhältnisse der einzelnen Laute und einiger Lautverbindungen, hätte sich, das will ich gleich hier erwähnen, mit hinreichender Sicherheit an einem Stoffe von tausendmal geringerm Umfange vornehmen lassen. Es hätte überhaupt eines so gro߬ artigen Apparates nicht bedurft. Wir legen uns nun die Frage vor, wie die der Kurzschrift eigentümlichen Schriftmittel die gewünschte Anpassung an die Sprache finden können. Die Antwort kann nur ein vollständiger Überblick über die Mittel der Kurzschrift geben. Ich beschränke mich auf die Darlegung dessen, was zum Verständnis unbedingt notwendig ist. Am meisten erwünscht wäre es offenbar, wenn sich für jeden Laut ein solches Zeichen finden ließe, daß die bloße Aneinanderreihung eine Schrift von genügender Kürze lieferte. Dieser Weg ist in Frankreich von Duployv betreten worden und hat zum Ziele geführt. Zum Unglück läßt sich aber seine Schrift weder schreiben noch lesen, sie ist kurz, aber ungemein unhandlich und undeutlich. Obwohl es Zeichen genug giebt, von denen jedes für sich alle drei gewünschten Eigenschaften hat, Kürze, Handlichkeit und Deutlichkeit, läßt sich nicht die erforderliche Zahl aufbringen, die diese Eigenschaften auch in der Verbindung zum Wortbilde behielte. Die Schwierigkeit der Verbin¬ dung ist auch nicht dadurch zu bemeistern, daß man für Lautgruppen, Silben und Wörter besondre Zeichen aufstellt. Sind es wenig, so rudern sie nichts, sind es viel, so fügen sie zu den alten Fehlern noch einen neuen hinzu. Dieser Weg ist also ungangbar und deshalb in Deutschland aufgegeben worden. Das Ziel läßt sich nur auf einem Umwege erreichen. Man muß erst dafür Sorge tragen, daß die Zeichen verbindungsfühig werden auf Kosten ihrer Kürze, und dann die erforderliche Kürze durch besondre Bestimmungen herbeiführen. Beide Seiten dieses Verfahrens werden zugleich ermöglicht durch eine veränderte Auffassung der Zeichen, die in ihnen nicht mehr starre, fondern wandelbare Gebilde sieht. Sie scheidet die Schriftmittel in zwei Klassen, in selbständige Zeichen und unselbständige Merkmale, denen die Zeichen als Träger dienen. Die Scheidung ist rein künstlich. Jedes Zeichen besteht aus einer Summe von Merkmalen, und alle Merkmale, Größe, Richtung, Druckstärke, Gestalt und Stellung, lassen sich zum Aufbau einer fast unübersehbaren Fülle selbständiger Zeichen verwenden. Beschränkt man aber die Zeichenaufstcllnng, so kann man die übrigen Schriftmittel in Form der Zeichenwandlung ausnutzen. Zum kleinsten Teil wird sie dadurch er¬ möglicht, daß ein Merkmal, die Stellung, kein notwendiger Bestandteil der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/324>, abgerufen am 25.08.2024.