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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Kurzschrift und Sprache

Fragen der Kurzschrift bilden. Und ob sie geeignet sind, diese Aufgabe zu
erfüllen, das kann nur eine sachliche Kritik entscheiden, die sich auf eine ge¬
schlossene Theorie der Kurzschrift stützt. Nur solche Untersuchungen der Sprache
können für die Kurzschrift Wert habe", deren Plan ihrer Theorie ent¬
nommen ist.

Der vor kurzem von mir in Gemeinschaft mit meinem Bruder veröffent¬
lichte erste Versuch einer allgemeinen Theorie der Kurzschrift^) hat die Re¬
daktion der Grenzboten zu der freundlichen Aufforderung veranlaßt, auf Grund
dieser Theorie eine Kritik der Kadingschen Zählungen zu geben und zugleich
meine Ansicht über die Beziehungen zwischen Kurzschrift nud Sprache cins-
zusprechen. Im nachfolgenden will ich versuchen, dieser Aufforderung zu
entsprechen.

Ein stenographisches System ist unzweifelhaft ein Werkzeug, das dem
praktischen Gebrauche dient. Eine Theorie der Kurzschrift kann daher nichts
andres enthalten als die Feststellung der praktischen Aufgaben in ihrem ganzen
Umfange und die kritische Untersuchung der Schriftmittel ans ihre Fähigkeit
zur Lösung dieser Aufgaben. Die Theorie soll gewissermaßen die Vorschule
für jeden künstigen Systemerfinder abgeben und zugleich einen greifbaren
Maßstab liefern zur Abschätzung der praktischen Brauchbarkeit irgend eines
stenographischen Systems. Bei der von Tag zu Tag steigenden Bedeutung
der Kurzschrift im öffentlichen Leben und bei der großen Auswahl vou
Systemen wird manchem mit einem solchen Wertmesser gedient sein. Vielen
mag freilich die Theorie der Kurzschrift als ein recht entlegnes Gebiet er¬
scheinen, aber andern Wissenszweigen gegenüber hat sie doch anch einen Vor¬
zug, nämlich den, daß sie verhältnismäßig wenig voraussetzt. Sie knüpft an
die Kurrentschrift und an die Muttersprache an, an weiter nichts. Der einen
entlehnt sie uur einige Grundbegriffe, mit der andern dagegen sucht sie engere
Fühlung zu gewinnen. Dieses Verhältnis zwischen Kurzschrift und Sprache
soll den Gegenstand unsrer Betrachtungen bilden.

Die Kädingscheu Untersuchungen stellen die Häufigkeit der einzelnen Laute,
Lautverbindungen, Wörter, Vor- und Nachsilbe" innerhalb von zwanzig
Millionen ans den verschiedensten Geisteserzeugnissen znsammengetragnen
Wörtern fest. Es liegt ihnen der Gedanke zu Grunde, aus der uugleich-
artcgen Behandlung der Sprachtcile Vorteil für die Stenographie zu ziehen.
Die Sprachteile sollen eine um so kürzere Bezeichnung erhalten, je häufiger
sie sind. Dieser Gedanke ist doch sehr vernünftig. Er erstrebt eine Anpassung
der Schrift um die Sprache, die von der der älter" Systeme wesentlich ab-



Die Kurzschrift als Wissenschaft und Kunst. Von Si. v. Kuuowski,
Dr. oval. und vrnltischcm Arzte, und F. v. Kuuowski, Sekondeleutnant im 4. Garderegi-
went z. F. Erster Teil: Die Theorie der Kurzschrift. Berlin, Julius Klink-
hlN'de, 189S,
Kurzschrift und Sprache

Fragen der Kurzschrift bilden. Und ob sie geeignet sind, diese Aufgabe zu
erfüllen, das kann nur eine sachliche Kritik entscheiden, die sich auf eine ge¬
schlossene Theorie der Kurzschrift stützt. Nur solche Untersuchungen der Sprache
können für die Kurzschrift Wert habe», deren Plan ihrer Theorie ent¬
nommen ist.

Der vor kurzem von mir in Gemeinschaft mit meinem Bruder veröffent¬
lichte erste Versuch einer allgemeinen Theorie der Kurzschrift^) hat die Re¬
daktion der Grenzboten zu der freundlichen Aufforderung veranlaßt, auf Grund
dieser Theorie eine Kritik der Kadingschen Zählungen zu geben und zugleich
meine Ansicht über die Beziehungen zwischen Kurzschrift nud Sprache cins-
zusprechen. Im nachfolgenden will ich versuchen, dieser Aufforderung zu
entsprechen.

Ein stenographisches System ist unzweifelhaft ein Werkzeug, das dem
praktischen Gebrauche dient. Eine Theorie der Kurzschrift kann daher nichts
andres enthalten als die Feststellung der praktischen Aufgaben in ihrem ganzen
Umfange und die kritische Untersuchung der Schriftmittel ans ihre Fähigkeit
zur Lösung dieser Aufgaben. Die Theorie soll gewissermaßen die Vorschule
für jeden künstigen Systemerfinder abgeben und zugleich einen greifbaren
Maßstab liefern zur Abschätzung der praktischen Brauchbarkeit irgend eines
stenographischen Systems. Bei der von Tag zu Tag steigenden Bedeutung
der Kurzschrift im öffentlichen Leben und bei der großen Auswahl vou
Systemen wird manchem mit einem solchen Wertmesser gedient sein. Vielen
mag freilich die Theorie der Kurzschrift als ein recht entlegnes Gebiet er¬
scheinen, aber andern Wissenszweigen gegenüber hat sie doch anch einen Vor¬
zug, nämlich den, daß sie verhältnismäßig wenig voraussetzt. Sie knüpft an
die Kurrentschrift und an die Muttersprache an, an weiter nichts. Der einen
entlehnt sie uur einige Grundbegriffe, mit der andern dagegen sucht sie engere
Fühlung zu gewinnen. Dieses Verhältnis zwischen Kurzschrift und Sprache
soll den Gegenstand unsrer Betrachtungen bilden.

Die Kädingscheu Untersuchungen stellen die Häufigkeit der einzelnen Laute,
Lautverbindungen, Wörter, Vor- und Nachsilbe» innerhalb von zwanzig
Millionen ans den verschiedensten Geisteserzeugnissen znsammengetragnen
Wörtern fest. Es liegt ihnen der Gedanke zu Grunde, aus der uugleich-
artcgen Behandlung der Sprachtcile Vorteil für die Stenographie zu ziehen.
Die Sprachteile sollen eine um so kürzere Bezeichnung erhalten, je häufiger
sie sind. Dieser Gedanke ist doch sehr vernünftig. Er erstrebt eine Anpassung
der Schrift um die Sprache, die von der der älter» Systeme wesentlich ab-



Die Kurzschrift als Wissenschaft und Kunst. Von Si. v. Kuuowski,
Dr. oval. und vrnltischcm Arzte, und F. v. Kuuowski, Sekondeleutnant im 4. Garderegi-
went z. F. Erster Teil: Die Theorie der Kurzschrift. Berlin, Julius Klink-
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[0322] Kurzschrift und Sprache Fragen der Kurzschrift bilden. Und ob sie geeignet sind, diese Aufgabe zu erfüllen, das kann nur eine sachliche Kritik entscheiden, die sich auf eine ge¬ schlossene Theorie der Kurzschrift stützt. Nur solche Untersuchungen der Sprache können für die Kurzschrift Wert habe», deren Plan ihrer Theorie ent¬ nommen ist. Der vor kurzem von mir in Gemeinschaft mit meinem Bruder veröffent¬ lichte erste Versuch einer allgemeinen Theorie der Kurzschrift^) hat die Re¬ daktion der Grenzboten zu der freundlichen Aufforderung veranlaßt, auf Grund dieser Theorie eine Kritik der Kadingschen Zählungen zu geben und zugleich meine Ansicht über die Beziehungen zwischen Kurzschrift nud Sprache cins- zusprechen. Im nachfolgenden will ich versuchen, dieser Aufforderung zu entsprechen. Ein stenographisches System ist unzweifelhaft ein Werkzeug, das dem praktischen Gebrauche dient. Eine Theorie der Kurzschrift kann daher nichts andres enthalten als die Feststellung der praktischen Aufgaben in ihrem ganzen Umfange und die kritische Untersuchung der Schriftmittel ans ihre Fähigkeit zur Lösung dieser Aufgaben. Die Theorie soll gewissermaßen die Vorschule für jeden künstigen Systemerfinder abgeben und zugleich einen greifbaren Maßstab liefern zur Abschätzung der praktischen Brauchbarkeit irgend eines stenographischen Systems. Bei der von Tag zu Tag steigenden Bedeutung der Kurzschrift im öffentlichen Leben und bei der großen Auswahl vou Systemen wird manchem mit einem solchen Wertmesser gedient sein. Vielen mag freilich die Theorie der Kurzschrift als ein recht entlegnes Gebiet er¬ scheinen, aber andern Wissenszweigen gegenüber hat sie doch anch einen Vor¬ zug, nämlich den, daß sie verhältnismäßig wenig voraussetzt. Sie knüpft an die Kurrentschrift und an die Muttersprache an, an weiter nichts. Der einen entlehnt sie uur einige Grundbegriffe, mit der andern dagegen sucht sie engere Fühlung zu gewinnen. Dieses Verhältnis zwischen Kurzschrift und Sprache soll den Gegenstand unsrer Betrachtungen bilden. Die Kädingscheu Untersuchungen stellen die Häufigkeit der einzelnen Laute, Lautverbindungen, Wörter, Vor- und Nachsilbe» innerhalb von zwanzig Millionen ans den verschiedensten Geisteserzeugnissen znsammengetragnen Wörtern fest. Es liegt ihnen der Gedanke zu Grunde, aus der uugleich- artcgen Behandlung der Sprachtcile Vorteil für die Stenographie zu ziehen. Die Sprachteile sollen eine um so kürzere Bezeichnung erhalten, je häufiger sie sind. Dieser Gedanke ist doch sehr vernünftig. Er erstrebt eine Anpassung der Schrift um die Sprache, die von der der älter» Systeme wesentlich ab- Die Kurzschrift als Wissenschaft und Kunst. Von Si. v. Kuuowski, Dr. oval. und vrnltischcm Arzte, und F. v. Kuuowski, Sekondeleutnant im 4. Garderegi- went z. F. Erster Teil: Die Theorie der Kurzschrift. Berlin, Julius Klink- hlN'de, 189S,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/322>, abgerufen am 25.08.2024.