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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Der Kritiker muß sich glücklich schätzen, wenn er durch Förderung einer her¬
vorragenden Persönlichkeit auch einmal etwas Positives leisten kann. Er muß
nur seiner Sache sicher und jederzeit bereit sein, das, was er verkündet, mit
seinem Namen zu decken. Und so spreche ich es denn ohne Scheu aus: Anton
Beers "Liebe" ist ein Werk von hervorragender Bedeutung, und der Kom¬
ponist verdiente in der ersten Reihe der lebenden Musiker genannt zu werden.

Aber der Durchfall in Lübeck? Ich will darüber nicht viele Worte ver¬
lieren. Manches gute Werk muß ja erst einen Mißerfolg erleben, ehe es end-
giltige Gestalt gewinnt, und so ging es auch Beer mit seiner "Liebe." Zu
drei Vierteln mögen die Gründe des Mißerfolgs in der Aufführung gelegen
haben, die trotz des besten Willens der Beteiligten aus Beers klaren Gedanken
ein unentwirrbares Chaos machte, zu einem Viertel auch in Mängeln, die dem
Werke selbst anhafteten. Es waren das namentlich Mängel des Textes, kleine leicht
zu beseitigende dramatische Verstöße des Komponisten und die Eintönigkeit der
Jnstrumentation, die einer gewissen Schüchternheit entsprang und durch Bei¬
mischung kräftigerer Farben ohne weiteres zu heben wäre. Die Mängel des
Textes freilich sind, soweit sie nicht in Plattheiten des Ausdrucks liegen, un¬
verbesserlich. Der Text ist zwar nicht so schablonenhaft wie der zu Mara, aber
er hat eben Fehler andrer Art. Er entnimmt seinen Stoff Körners Sühne und
behält so manches Veraltete bei. Die beiden Brüder sind geblieben, die das¬
selbe Mädchen lieben, und von denen der ältere, totgeglaubte, am Tage der Ver¬
mählung des jüngern aus dem Feldzuge zurückkehrt. Das wäre noch nicht
so schlimm. Bedenklicher ist die Beibehaltung des Verwechslungsmordes im
zweiten Akt: Konrad will den Bruder töten, ersticht aber, getäuscht durch den
weißen Mantel, das von beiden begehrte Klärchen. Der Schluß macht diese
poetische Sünde insofern wieder gut, als Konrad, im Gegensatze zu seinem Vor¬
bilde bei Körner, nicht vom Bruder erschossen wird, sondern sich selbst tötet.
Dennoch könnte das Altmodische in der Anlage dem Werke für immer verhängnis¬
voll werden, wenn eben nicht Beers Musik alle Unebenheiten vergessen machte.
Hat Humperdinck die Kinderstubenpoesie seiner Schwester zum entzückenden
Märchenspiel erhoben, so gestaltet Beer diese in vielen Dingen unmoderne
Liebe zur ergreifenden Tragödie.

Es ist ja nun nicht bloß schwer, Musik in Worten zu schildern, sondern,
genau genommen, eigentlich unmöglich. Man mag Bild auf Bild häufen und
so schwungvoll und poetisch werden, wie man will, man hat doch eben immer
nur Worte und keine Töne. So wäre ich auch jetzt in größter Verlegenheit,
die Eigentümlichkeit der Beerschen Musik zu beschreiben, wenn nicht zufällig
die Musik Humperdincks einen naheliegenden und guten Vergleich böte. Denn
bei aller Verschiedenheit stehen Beer und Humperdinck in ihren guten Zügen
doch auf gleichem Boden. Wer wollte behaupten, daß Humperdincks Vorspiel,
das Tanzlied, die Gesänge des Vaters, des Sandmännchens, des Taumännchens


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Der Kritiker muß sich glücklich schätzen, wenn er durch Förderung einer her¬
vorragenden Persönlichkeit auch einmal etwas Positives leisten kann. Er muß
nur seiner Sache sicher und jederzeit bereit sein, das, was er verkündet, mit
seinem Namen zu decken. Und so spreche ich es denn ohne Scheu aus: Anton
Beers „Liebe" ist ein Werk von hervorragender Bedeutung, und der Kom¬
ponist verdiente in der ersten Reihe der lebenden Musiker genannt zu werden.

Aber der Durchfall in Lübeck? Ich will darüber nicht viele Worte ver¬
lieren. Manches gute Werk muß ja erst einen Mißerfolg erleben, ehe es end-
giltige Gestalt gewinnt, und so ging es auch Beer mit seiner „Liebe." Zu
drei Vierteln mögen die Gründe des Mißerfolgs in der Aufführung gelegen
haben, die trotz des besten Willens der Beteiligten aus Beers klaren Gedanken
ein unentwirrbares Chaos machte, zu einem Viertel auch in Mängeln, die dem
Werke selbst anhafteten. Es waren das namentlich Mängel des Textes, kleine leicht
zu beseitigende dramatische Verstöße des Komponisten und die Eintönigkeit der
Jnstrumentation, die einer gewissen Schüchternheit entsprang und durch Bei¬
mischung kräftigerer Farben ohne weiteres zu heben wäre. Die Mängel des
Textes freilich sind, soweit sie nicht in Plattheiten des Ausdrucks liegen, un¬
verbesserlich. Der Text ist zwar nicht so schablonenhaft wie der zu Mara, aber
er hat eben Fehler andrer Art. Er entnimmt seinen Stoff Körners Sühne und
behält so manches Veraltete bei. Die beiden Brüder sind geblieben, die das¬
selbe Mädchen lieben, und von denen der ältere, totgeglaubte, am Tage der Ver¬
mählung des jüngern aus dem Feldzuge zurückkehrt. Das wäre noch nicht
so schlimm. Bedenklicher ist die Beibehaltung des Verwechslungsmordes im
zweiten Akt: Konrad will den Bruder töten, ersticht aber, getäuscht durch den
weißen Mantel, das von beiden begehrte Klärchen. Der Schluß macht diese
poetische Sünde insofern wieder gut, als Konrad, im Gegensatze zu seinem Vor¬
bilde bei Körner, nicht vom Bruder erschossen wird, sondern sich selbst tötet.
Dennoch könnte das Altmodische in der Anlage dem Werke für immer verhängnis¬
voll werden, wenn eben nicht Beers Musik alle Unebenheiten vergessen machte.
Hat Humperdinck die Kinderstubenpoesie seiner Schwester zum entzückenden
Märchenspiel erhoben, so gestaltet Beer diese in vielen Dingen unmoderne
Liebe zur ergreifenden Tragödie.

Es ist ja nun nicht bloß schwer, Musik in Worten zu schildern, sondern,
genau genommen, eigentlich unmöglich. Man mag Bild auf Bild häufen und
so schwungvoll und poetisch werden, wie man will, man hat doch eben immer
nur Worte und keine Töne. So wäre ich auch jetzt in größter Verlegenheit,
die Eigentümlichkeit der Beerschen Musik zu beschreiben, wenn nicht zufällig
die Musik Humperdincks einen naheliegenden und guten Vergleich böte. Denn
bei aller Verschiedenheit stehen Beer und Humperdinck in ihren guten Zügen
doch auf gleichem Boden. Wer wollte behaupten, daß Humperdincks Vorspiel,
das Tanzlied, die Gesänge des Vaters, des Sandmännchens, des Taumännchens


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[0292] Moderne Gpern Der Kritiker muß sich glücklich schätzen, wenn er durch Förderung einer her¬ vorragenden Persönlichkeit auch einmal etwas Positives leisten kann. Er muß nur seiner Sache sicher und jederzeit bereit sein, das, was er verkündet, mit seinem Namen zu decken. Und so spreche ich es denn ohne Scheu aus: Anton Beers „Liebe" ist ein Werk von hervorragender Bedeutung, und der Kom¬ ponist verdiente in der ersten Reihe der lebenden Musiker genannt zu werden. Aber der Durchfall in Lübeck? Ich will darüber nicht viele Worte ver¬ lieren. Manches gute Werk muß ja erst einen Mißerfolg erleben, ehe es end- giltige Gestalt gewinnt, und so ging es auch Beer mit seiner „Liebe." Zu drei Vierteln mögen die Gründe des Mißerfolgs in der Aufführung gelegen haben, die trotz des besten Willens der Beteiligten aus Beers klaren Gedanken ein unentwirrbares Chaos machte, zu einem Viertel auch in Mängeln, die dem Werke selbst anhafteten. Es waren das namentlich Mängel des Textes, kleine leicht zu beseitigende dramatische Verstöße des Komponisten und die Eintönigkeit der Jnstrumentation, die einer gewissen Schüchternheit entsprang und durch Bei¬ mischung kräftigerer Farben ohne weiteres zu heben wäre. Die Mängel des Textes freilich sind, soweit sie nicht in Plattheiten des Ausdrucks liegen, un¬ verbesserlich. Der Text ist zwar nicht so schablonenhaft wie der zu Mara, aber er hat eben Fehler andrer Art. Er entnimmt seinen Stoff Körners Sühne und behält so manches Veraltete bei. Die beiden Brüder sind geblieben, die das¬ selbe Mädchen lieben, und von denen der ältere, totgeglaubte, am Tage der Ver¬ mählung des jüngern aus dem Feldzuge zurückkehrt. Das wäre noch nicht so schlimm. Bedenklicher ist die Beibehaltung des Verwechslungsmordes im zweiten Akt: Konrad will den Bruder töten, ersticht aber, getäuscht durch den weißen Mantel, das von beiden begehrte Klärchen. Der Schluß macht diese poetische Sünde insofern wieder gut, als Konrad, im Gegensatze zu seinem Vor¬ bilde bei Körner, nicht vom Bruder erschossen wird, sondern sich selbst tötet. Dennoch könnte das Altmodische in der Anlage dem Werke für immer verhängnis¬ voll werden, wenn eben nicht Beers Musik alle Unebenheiten vergessen machte. Hat Humperdinck die Kinderstubenpoesie seiner Schwester zum entzückenden Märchenspiel erhoben, so gestaltet Beer diese in vielen Dingen unmoderne Liebe zur ergreifenden Tragödie. Es ist ja nun nicht bloß schwer, Musik in Worten zu schildern, sondern, genau genommen, eigentlich unmöglich. Man mag Bild auf Bild häufen und so schwungvoll und poetisch werden, wie man will, man hat doch eben immer nur Worte und keine Töne. So wäre ich auch jetzt in größter Verlegenheit, die Eigentümlichkeit der Beerschen Musik zu beschreiben, wenn nicht zufällig die Musik Humperdincks einen naheliegenden und guten Vergleich böte. Denn bei aller Verschiedenheit stehen Beer und Humperdinck in ihren guten Zügen doch auf gleichem Boden. Wer wollte behaupten, daß Humperdincks Vorspiel, das Tanzlied, die Gesänge des Vaters, des Sandmännchens, des Taumännchens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/292>, abgerufen am 25.08.2024.