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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Linien gar nicht füllen wollten, und so ist ein zerfcchrner musikalischer Cha¬
rakter entstanden, aus dem man nicht recht klug wird. Die Hexe ist die
schwächste Gestalt des ganzen Werkes. Musikalisch gute Züge hat sie nur noch
in ihrer Freude über Hänsels leckeres Züngelchen und in ihrem Ärger über
seine knochigen Finger. Auch die Fütterung mit Rosinen und Mandeln mag
noch angehen, dann aber hat sie ausgesungen. Glücklicherweise steckt sie bald
im Ofen, und mit der Freude der Kinder über die Befreiung gewinnt auch
der Komponist seine schöpferische Kraft zurück, die sich nun bis zum Schluß
behauptet. Der kunstvoll gearbeitete Freudenwalzer leitet hinüber in frucht¬
barere musikalische Regionen. Der leise Gesang der verzauberten Kinder ver¬
breitet eine geheimnisvolle Stimmung, die immer freudiger wird und schließlich
in hinreißenden Jubel einmündet. Das nun so ernst und wehmütig klingende
"Rallalala" des guten Vaters, der seine Kinder sucht, zieht wie ein leichter
Schatten über das heitere Bild; aber husch! ist er wieder verflogen, Kinder
und Eltern haben sich wieder, das Tanzlied vom Anfang klingt noch einmal
an, und zum Schluß wird, wie es sich gehört, dem lieben Gott gedankt, daß
er alles zum Guten gelenkt hat.

Da Engelbert Humperdiuck unter den bekannt gewordnen deutschen Opern¬
komponisten der Gegenwart jedenfalls den ersten Platz einnimmt, so sieht man
weitern Werken von ihm mit Spannung entgegen. Die große Frage ist, von
welcher Seite er sich künftig zeigen wird, ob von seiner produktiven oder von
der konstruirenden. Möchte er dessen eingedenk bleiben, daß der große Erfolg
seines Märchenspiels nur auf den Gedanken beruhte, die schön zu finden man
weder Musiker von Fach noch Wagnerianer zu sein braucht.

Am Anfange dieses Aufsatzes sprach ich noch von einer Oper, die, ohne
allgemein bekannt geworden zu sein, doch ihrer hervorragenden Eigenschaften
wegen eine Ausnahmestellung beanspruchen könne. Das Werk, das ich meine,
führt den unglückseligen Titel "Liebe," ist von dem jungen Münchner Kom¬
ponisten Anton Beer und wurde etwa vor einem Jahre in Lübeck so gut wie
abgelehnt.

Es ist mit dem Entdecken bedeutender Künstler bekanntlich eine mißliche
^>ache. Unter zehn Fällen entspricht das Ergebnis neunmal nicht den erregten
Erwartungen, da sich der Prophet aus irgend welchen Gründen zu Gunsten
seines Schützlings getäuscht hat. Wer ein Herz hat, wird ja an einem auf¬
strebenden Künstler immer lieber das Gute als das Schlechte hervorheben,
und überdies liegt in Zeiten, die künstlerisch etwas verwahrlost sind, die Ge¬
fahr nahe, da einen Messias oder wenigstens eine hohe Kraft zu sehen, wo
schließlich doch nur Mittelmäßigkeit zu finden ist. Aber gar zu vorsichtige
Zurückhaltung kann auch vom Übel werden. Ein mutiges und offnes Wort
wird unter Umständen zur Pflicht und kann, am rechten Platze gesprochen,
mehr nützen als die kühle oder unselbständige Zurückhaltung von Jahrzehnten.


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Linien gar nicht füllen wollten, und so ist ein zerfcchrner musikalischer Cha¬
rakter entstanden, aus dem man nicht recht klug wird. Die Hexe ist die
schwächste Gestalt des ganzen Werkes. Musikalisch gute Züge hat sie nur noch
in ihrer Freude über Hänsels leckeres Züngelchen und in ihrem Ärger über
seine knochigen Finger. Auch die Fütterung mit Rosinen und Mandeln mag
noch angehen, dann aber hat sie ausgesungen. Glücklicherweise steckt sie bald
im Ofen, und mit der Freude der Kinder über die Befreiung gewinnt auch
der Komponist seine schöpferische Kraft zurück, die sich nun bis zum Schluß
behauptet. Der kunstvoll gearbeitete Freudenwalzer leitet hinüber in frucht¬
barere musikalische Regionen. Der leise Gesang der verzauberten Kinder ver¬
breitet eine geheimnisvolle Stimmung, die immer freudiger wird und schließlich
in hinreißenden Jubel einmündet. Das nun so ernst und wehmütig klingende
„Rallalala" des guten Vaters, der seine Kinder sucht, zieht wie ein leichter
Schatten über das heitere Bild; aber husch! ist er wieder verflogen, Kinder
und Eltern haben sich wieder, das Tanzlied vom Anfang klingt noch einmal
an, und zum Schluß wird, wie es sich gehört, dem lieben Gott gedankt, daß
er alles zum Guten gelenkt hat.

Da Engelbert Humperdiuck unter den bekannt gewordnen deutschen Opern¬
komponisten der Gegenwart jedenfalls den ersten Platz einnimmt, so sieht man
weitern Werken von ihm mit Spannung entgegen. Die große Frage ist, von
welcher Seite er sich künftig zeigen wird, ob von seiner produktiven oder von
der konstruirenden. Möchte er dessen eingedenk bleiben, daß der große Erfolg
seines Märchenspiels nur auf den Gedanken beruhte, die schön zu finden man
weder Musiker von Fach noch Wagnerianer zu sein braucht.

Am Anfange dieses Aufsatzes sprach ich noch von einer Oper, die, ohne
allgemein bekannt geworden zu sein, doch ihrer hervorragenden Eigenschaften
wegen eine Ausnahmestellung beanspruchen könne. Das Werk, das ich meine,
führt den unglückseligen Titel „Liebe," ist von dem jungen Münchner Kom¬
ponisten Anton Beer und wurde etwa vor einem Jahre in Lübeck so gut wie
abgelehnt.

Es ist mit dem Entdecken bedeutender Künstler bekanntlich eine mißliche
^>ache. Unter zehn Fällen entspricht das Ergebnis neunmal nicht den erregten
Erwartungen, da sich der Prophet aus irgend welchen Gründen zu Gunsten
seines Schützlings getäuscht hat. Wer ein Herz hat, wird ja an einem auf¬
strebenden Künstler immer lieber das Gute als das Schlechte hervorheben,
und überdies liegt in Zeiten, die künstlerisch etwas verwahrlost sind, die Ge¬
fahr nahe, da einen Messias oder wenigstens eine hohe Kraft zu sehen, wo
schließlich doch nur Mittelmäßigkeit zu finden ist. Aber gar zu vorsichtige
Zurückhaltung kann auch vom Übel werden. Ein mutiges und offnes Wort
wird unter Umständen zur Pflicht und kann, am rechten Platze gesprochen,
mehr nützen als die kühle oder unselbständige Zurückhaltung von Jahrzehnten.


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[0291] Moderne Vpern Linien gar nicht füllen wollten, und so ist ein zerfcchrner musikalischer Cha¬ rakter entstanden, aus dem man nicht recht klug wird. Die Hexe ist die schwächste Gestalt des ganzen Werkes. Musikalisch gute Züge hat sie nur noch in ihrer Freude über Hänsels leckeres Züngelchen und in ihrem Ärger über seine knochigen Finger. Auch die Fütterung mit Rosinen und Mandeln mag noch angehen, dann aber hat sie ausgesungen. Glücklicherweise steckt sie bald im Ofen, und mit der Freude der Kinder über die Befreiung gewinnt auch der Komponist seine schöpferische Kraft zurück, die sich nun bis zum Schluß behauptet. Der kunstvoll gearbeitete Freudenwalzer leitet hinüber in frucht¬ barere musikalische Regionen. Der leise Gesang der verzauberten Kinder ver¬ breitet eine geheimnisvolle Stimmung, die immer freudiger wird und schließlich in hinreißenden Jubel einmündet. Das nun so ernst und wehmütig klingende „Rallalala" des guten Vaters, der seine Kinder sucht, zieht wie ein leichter Schatten über das heitere Bild; aber husch! ist er wieder verflogen, Kinder und Eltern haben sich wieder, das Tanzlied vom Anfang klingt noch einmal an, und zum Schluß wird, wie es sich gehört, dem lieben Gott gedankt, daß er alles zum Guten gelenkt hat. Da Engelbert Humperdiuck unter den bekannt gewordnen deutschen Opern¬ komponisten der Gegenwart jedenfalls den ersten Platz einnimmt, so sieht man weitern Werken von ihm mit Spannung entgegen. Die große Frage ist, von welcher Seite er sich künftig zeigen wird, ob von seiner produktiven oder von der konstruirenden. Möchte er dessen eingedenk bleiben, daß der große Erfolg seines Märchenspiels nur auf den Gedanken beruhte, die schön zu finden man weder Musiker von Fach noch Wagnerianer zu sein braucht. Am Anfange dieses Aufsatzes sprach ich noch von einer Oper, die, ohne allgemein bekannt geworden zu sein, doch ihrer hervorragenden Eigenschaften wegen eine Ausnahmestellung beanspruchen könne. Das Werk, das ich meine, führt den unglückseligen Titel „Liebe," ist von dem jungen Münchner Kom¬ ponisten Anton Beer und wurde etwa vor einem Jahre in Lübeck so gut wie abgelehnt. Es ist mit dem Entdecken bedeutender Künstler bekanntlich eine mißliche ^>ache. Unter zehn Fällen entspricht das Ergebnis neunmal nicht den erregten Erwartungen, da sich der Prophet aus irgend welchen Gründen zu Gunsten seines Schützlings getäuscht hat. Wer ein Herz hat, wird ja an einem auf¬ strebenden Künstler immer lieber das Gute als das Schlechte hervorheben, und überdies liegt in Zeiten, die künstlerisch etwas verwahrlost sind, die Ge¬ fahr nahe, da einen Messias oder wenigstens eine hohe Kraft zu sehen, wo schließlich doch nur Mittelmäßigkeit zu finden ist. Aber gar zu vorsichtige Zurückhaltung kann auch vom Übel werden. Ein mutiges und offnes Wort wird unter Umständen zur Pflicht und kann, am rechten Platze gesprochen, mehr nützen als die kühle oder unselbständige Zurückhaltung von Jahrzehnten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/291>, abgerufen am 22.12.2024.