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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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zum Ausdruck, und das Hexenlied vollends, in dem sich Scherz und Ernst
eigentümlich vermischen, schwingt sich wieder zu der Bedeutung des Vorher¬
gehenden auf. Was dazwischen liegt, ist aber nicht mehr frei von Flecken.
Die Erzählung von dem Verkauf der Besen und das Hoch auf die Besen¬
binderei haben bei allen Vorzügen im einzelnen doch etwas unangenehm
Tumultuarisches; das Gelächter der beiden Alten ist hölzern und häßlich und
würde am besten ganz gestrichen; die Geschichte mit dem Besen ist -- freilich
schon im Text an den Haaren herbeigezogen und verrät allzusehr die Ab¬
sicht, Reineckes bekanntes Liedchen zu verwerten. Außerdem läßt der Schluß
der ganzen Szene ebenso wie der Zorn des Vaters über den zerbrochnen Topf
den Humor vermissen. Es ist ja eine alte Sache, daß sich überall da, wo
eigentlich komische Ideen fehlen, rasch falsches Pathos einstellt mit dem An¬
sprüche, der einzig richtige Ausdruck zu sein. So ist es auch hier, wenn der
Alte seine Kümmelflasche holt, viel leichter mit wuchtigen Akkorden zu arbeiten,
als einen Ausdruck zu finden, der der zweifellos humoristischen Absicht des
Textes gerecht wird. Doch lassen wir uns dadurch nicht beirren, in seiner
Gesamtheit ist das erste Bild eine wertvolle Bereicherung unsrer musikalischen
Litteratur.

Der Hexenritt, der zum zweiten Bilde überleitet, ist ein ebenso bedeutendes
und vortreffliches Musikstück wie das Vorspiel; die Szene im Walde vollends
entfaltet mit ihrem Volksliedchen, ihrem Kuckucksruf und ihrem Vlumen-
kräuzchen einen Zauber ganz eigner Art. Was den Worten des Textes an
eigentlicher Märchenstimmung abgeht, ersetzt der Komponist reichlich durch den
Reiz seiner Musik. Um so eigentümlicher und unbegreiflicher ist es, daß die
Schönheit und Kindlichkeit der musikalischen Ideen plötzlich wie mit dem Messer
abgeschnitten erscheint. Während sich Häusel den Nest der Erdbeeren erobert,
rauscht und wogt es noch im Orchester ernst, als ob der Wind durch einen
Wald von hohen Buchen wehte; in dem Augenblick aber, wo Gretel entsetzt die
Hände zusammenschlägt, ist es mit der Schönheit zu Ende. An Stelle des
natürlich ungesuchten Flusses der Gedanken tritt ein wühlendes kontrapunktisches
Arbeiten, das sich zwar, äußerlich genommen, der Stimmung des Textes und
dem Sinne der Worte anschließt, dem es aber doch an eigentlich künstlerischem
Gehalt gebricht, es mag sich so bedeutend und leidenschaftlich geberden, wie es
will. Diese ganze Furchtszene ist unkindlich. Doch ist es nicht die Art des
Ausdrucks, gegen die ich mich in erster Linie .wenden möchte. Mag sich
Humperdinck in verwickelten Harmonien und kontrapnnktischen Gestaltungen
ergehen, wenn ihm das Freude und -- wie es scheint -- nicht die geringste
Mühe macht, wenn er nur dabei künstlerisch wertvollen Gehalt zu bieten vermag.
Hier aber dient die anspruchsvoll auftretende Arbeit nur dazu, ein großes
Loch in der Erfindung zu überkleistern. Der moderne Musiker vom linken
Flügel wird das allerdings nicht zugeben, sondern behaupten, daß gerade die


Moderne Vpern

zum Ausdruck, und das Hexenlied vollends, in dem sich Scherz und Ernst
eigentümlich vermischen, schwingt sich wieder zu der Bedeutung des Vorher¬
gehenden auf. Was dazwischen liegt, ist aber nicht mehr frei von Flecken.
Die Erzählung von dem Verkauf der Besen und das Hoch auf die Besen¬
binderei haben bei allen Vorzügen im einzelnen doch etwas unangenehm
Tumultuarisches; das Gelächter der beiden Alten ist hölzern und häßlich und
würde am besten ganz gestrichen; die Geschichte mit dem Besen ist — freilich
schon im Text an den Haaren herbeigezogen und verrät allzusehr die Ab¬
sicht, Reineckes bekanntes Liedchen zu verwerten. Außerdem läßt der Schluß
der ganzen Szene ebenso wie der Zorn des Vaters über den zerbrochnen Topf
den Humor vermissen. Es ist ja eine alte Sache, daß sich überall da, wo
eigentlich komische Ideen fehlen, rasch falsches Pathos einstellt mit dem An¬
sprüche, der einzig richtige Ausdruck zu sein. So ist es auch hier, wenn der
Alte seine Kümmelflasche holt, viel leichter mit wuchtigen Akkorden zu arbeiten,
als einen Ausdruck zu finden, der der zweifellos humoristischen Absicht des
Textes gerecht wird. Doch lassen wir uns dadurch nicht beirren, in seiner
Gesamtheit ist das erste Bild eine wertvolle Bereicherung unsrer musikalischen
Litteratur.

Der Hexenritt, der zum zweiten Bilde überleitet, ist ein ebenso bedeutendes
und vortreffliches Musikstück wie das Vorspiel; die Szene im Walde vollends
entfaltet mit ihrem Volksliedchen, ihrem Kuckucksruf und ihrem Vlumen-
kräuzchen einen Zauber ganz eigner Art. Was den Worten des Textes an
eigentlicher Märchenstimmung abgeht, ersetzt der Komponist reichlich durch den
Reiz seiner Musik. Um so eigentümlicher und unbegreiflicher ist es, daß die
Schönheit und Kindlichkeit der musikalischen Ideen plötzlich wie mit dem Messer
abgeschnitten erscheint. Während sich Häusel den Nest der Erdbeeren erobert,
rauscht und wogt es noch im Orchester ernst, als ob der Wind durch einen
Wald von hohen Buchen wehte; in dem Augenblick aber, wo Gretel entsetzt die
Hände zusammenschlägt, ist es mit der Schönheit zu Ende. An Stelle des
natürlich ungesuchten Flusses der Gedanken tritt ein wühlendes kontrapunktisches
Arbeiten, das sich zwar, äußerlich genommen, der Stimmung des Textes und
dem Sinne der Worte anschließt, dem es aber doch an eigentlich künstlerischem
Gehalt gebricht, es mag sich so bedeutend und leidenschaftlich geberden, wie es
will. Diese ganze Furchtszene ist unkindlich. Doch ist es nicht die Art des
Ausdrucks, gegen die ich mich in erster Linie .wenden möchte. Mag sich
Humperdinck in verwickelten Harmonien und kontrapnnktischen Gestaltungen
ergehen, wenn ihm das Freude und — wie es scheint — nicht die geringste
Mühe macht, wenn er nur dabei künstlerisch wertvollen Gehalt zu bieten vermag.
Hier aber dient die anspruchsvoll auftretende Arbeit nur dazu, ein großes
Loch in der Erfindung zu überkleistern. Der moderne Musiker vom linken
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[0288] Moderne Vpern zum Ausdruck, und das Hexenlied vollends, in dem sich Scherz und Ernst eigentümlich vermischen, schwingt sich wieder zu der Bedeutung des Vorher¬ gehenden auf. Was dazwischen liegt, ist aber nicht mehr frei von Flecken. Die Erzählung von dem Verkauf der Besen und das Hoch auf die Besen¬ binderei haben bei allen Vorzügen im einzelnen doch etwas unangenehm Tumultuarisches; das Gelächter der beiden Alten ist hölzern und häßlich und würde am besten ganz gestrichen; die Geschichte mit dem Besen ist — freilich schon im Text an den Haaren herbeigezogen und verrät allzusehr die Ab¬ sicht, Reineckes bekanntes Liedchen zu verwerten. Außerdem läßt der Schluß der ganzen Szene ebenso wie der Zorn des Vaters über den zerbrochnen Topf den Humor vermissen. Es ist ja eine alte Sache, daß sich überall da, wo eigentlich komische Ideen fehlen, rasch falsches Pathos einstellt mit dem An¬ sprüche, der einzig richtige Ausdruck zu sein. So ist es auch hier, wenn der Alte seine Kümmelflasche holt, viel leichter mit wuchtigen Akkorden zu arbeiten, als einen Ausdruck zu finden, der der zweifellos humoristischen Absicht des Textes gerecht wird. Doch lassen wir uns dadurch nicht beirren, in seiner Gesamtheit ist das erste Bild eine wertvolle Bereicherung unsrer musikalischen Litteratur. Der Hexenritt, der zum zweiten Bilde überleitet, ist ein ebenso bedeutendes und vortreffliches Musikstück wie das Vorspiel; die Szene im Walde vollends entfaltet mit ihrem Volksliedchen, ihrem Kuckucksruf und ihrem Vlumen- kräuzchen einen Zauber ganz eigner Art. Was den Worten des Textes an eigentlicher Märchenstimmung abgeht, ersetzt der Komponist reichlich durch den Reiz seiner Musik. Um so eigentümlicher und unbegreiflicher ist es, daß die Schönheit und Kindlichkeit der musikalischen Ideen plötzlich wie mit dem Messer abgeschnitten erscheint. Während sich Häusel den Nest der Erdbeeren erobert, rauscht und wogt es noch im Orchester ernst, als ob der Wind durch einen Wald von hohen Buchen wehte; in dem Augenblick aber, wo Gretel entsetzt die Hände zusammenschlägt, ist es mit der Schönheit zu Ende. An Stelle des natürlich ungesuchten Flusses der Gedanken tritt ein wühlendes kontrapunktisches Arbeiten, das sich zwar, äußerlich genommen, der Stimmung des Textes und dem Sinne der Worte anschließt, dem es aber doch an eigentlich künstlerischem Gehalt gebricht, es mag sich so bedeutend und leidenschaftlich geberden, wie es will. Diese ganze Furchtszene ist unkindlich. Doch ist es nicht die Art des Ausdrucks, gegen die ich mich in erster Linie .wenden möchte. Mag sich Humperdinck in verwickelten Harmonien und kontrapnnktischen Gestaltungen ergehen, wenn ihm das Freude und — wie es scheint — nicht die geringste Mühe macht, wenn er nur dabei künstlerisch wertvollen Gehalt zu bieten vermag. Hier aber dient die anspruchsvoll auftretende Arbeit nur dazu, ein großes Loch in der Erfindung zu überkleistern. Der moderne Musiker vom linken Flügel wird das allerdings nicht zugeben, sondern behaupten, daß gerade die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/288>, abgerufen am 26.08.2024.