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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Geisteskrankheiten im Heere

die Abteilung, die, lange Zeit unthätig auf derselben Stelle stehend, jede Minute
den Befehl zum Vorgehen zu erwarten hat. Sehr interessant ist auch die
Beobachtung, die ich derselben Quelle verdanke, daß Verluste von Kameraden
nicht so schwer empfunden werden, wenn der Soldat den Feind deutlich vor
Augen hat, wie Verluste, die die Geschosse eines in weiter Ferne befindlichen,
vielleicht unsichtbaren Feindes veranlassen.

Das sind in großen Zügen die Nachteile, die der Krieg für die geistige
Gesundheit der Soldaten schafft. Natürlich würde man irre gehen, wenn
man aus den vorstehenden Erörterungen schließen wollte, daß der Krieg alle
die während oder nach ihm auftretenden Geisteskrankheiten verursacht habe.
Der Sanitätsbericht von 1870/71 hebt ausdrücklich hervor, daß bei der
größten Zahl der geisteskrank gewordnen Soldaten keine bestimmte Krank¬
heitsursache zu ermitteln gewesen ist. Die Behörden haben zwar in der Mehr¬
zahl der Fälle mit Rücksicht auf die Kranken und ihre Angehörigen einen
solchen Zusammenhang angenommen; wissenschaftlich nachweisbar war er
oft nicht.

Übrigens kommen ja auch im Frieden, gerade im jugendlichen Mannes¬
alter eine Anzahl von psychischen Erkrankungen vor, bei denen die Krankheit
ohne jede äußere Ursache auftritt. Es find das die periodischen Geistes¬
störungen und die psychischen Entartungsprozesse. Erkrankungen an periodischer
Geistesstörung, deren häufigste Form die periodische Tobsucht ist, sind leicht
zu erkennen. Außerordentlich wichtig für die militärischen Verhältnisse im
Krieg wie im Frieden ist aber die Kenntnis der psychischen Entartungsprozesse.
Hier bildet sich der Schwachsinn in der Regel sehr langsam aus. Das Leiden
wird oft erst spät für die verständlich, die sich nicht ausdrücklich mit der
Jrrenheilkunde beschäftigt haben, weil die Kranken noch lange Zeit über ein
gutes Gedächtnis verfügen. Viele Rekruten sind in diefer Weise krank, deren
Ausbildung so unendlich viel Schwierigkeiten macht, die die Geduld ihrer
Vorgesetzten in der erdenklichsten Weise in Anspruch nehmen, bis endlich, oft
erst nach zahlreichen Strafen (!), die Geistesmacht deutlich über sie hereinbricht
und ihr schwachsinniges Benehmen allen erkennbar wird. Die Irrenärzte
bezeichnen diese Form von Schwachsinn, der im jugendlichen Mannesalter
auftritt, als Hebephrenie.

Wir wollen die Nachteile, die der Krieg für die geistige Gesundheit des
Soldaten schafft, nicht überschützen. Glücklicherweise ist der Prozentsatz der
durch den Krieg geisteskrank gewordnen Soldaten nur gering. Der Kern unsrer
Armee ist Gott sei Dank in der Lage, Entbehrungen und Strapazen, äußern
und innern Krankheiten, Gemütsaufregungen und geistigen Anstrengungen ohne
Nachteil für Verstand und Gemüt zu trotzen. Aber wir wollen diese Nach¬
teile auch nicht unterschätzen und wollen alles thun, was zu ihrer Verringe¬
rung möglich ist.




Die Geisteskrankheiten im Heere

die Abteilung, die, lange Zeit unthätig auf derselben Stelle stehend, jede Minute
den Befehl zum Vorgehen zu erwarten hat. Sehr interessant ist auch die
Beobachtung, die ich derselben Quelle verdanke, daß Verluste von Kameraden
nicht so schwer empfunden werden, wenn der Soldat den Feind deutlich vor
Augen hat, wie Verluste, die die Geschosse eines in weiter Ferne befindlichen,
vielleicht unsichtbaren Feindes veranlassen.

Das sind in großen Zügen die Nachteile, die der Krieg für die geistige
Gesundheit der Soldaten schafft. Natürlich würde man irre gehen, wenn
man aus den vorstehenden Erörterungen schließen wollte, daß der Krieg alle
die während oder nach ihm auftretenden Geisteskrankheiten verursacht habe.
Der Sanitätsbericht von 1870/71 hebt ausdrücklich hervor, daß bei der
größten Zahl der geisteskrank gewordnen Soldaten keine bestimmte Krank¬
heitsursache zu ermitteln gewesen ist. Die Behörden haben zwar in der Mehr¬
zahl der Fälle mit Rücksicht auf die Kranken und ihre Angehörigen einen
solchen Zusammenhang angenommen; wissenschaftlich nachweisbar war er
oft nicht.

Übrigens kommen ja auch im Frieden, gerade im jugendlichen Mannes¬
alter eine Anzahl von psychischen Erkrankungen vor, bei denen die Krankheit
ohne jede äußere Ursache auftritt. Es find das die periodischen Geistes¬
störungen und die psychischen Entartungsprozesse. Erkrankungen an periodischer
Geistesstörung, deren häufigste Form die periodische Tobsucht ist, sind leicht
zu erkennen. Außerordentlich wichtig für die militärischen Verhältnisse im
Krieg wie im Frieden ist aber die Kenntnis der psychischen Entartungsprozesse.
Hier bildet sich der Schwachsinn in der Regel sehr langsam aus. Das Leiden
wird oft erst spät für die verständlich, die sich nicht ausdrücklich mit der
Jrrenheilkunde beschäftigt haben, weil die Kranken noch lange Zeit über ein
gutes Gedächtnis verfügen. Viele Rekruten sind in diefer Weise krank, deren
Ausbildung so unendlich viel Schwierigkeiten macht, die die Geduld ihrer
Vorgesetzten in der erdenklichsten Weise in Anspruch nehmen, bis endlich, oft
erst nach zahlreichen Strafen (!), die Geistesmacht deutlich über sie hereinbricht
und ihr schwachsinniges Benehmen allen erkennbar wird. Die Irrenärzte
bezeichnen diese Form von Schwachsinn, der im jugendlichen Mannesalter
auftritt, als Hebephrenie.

Wir wollen die Nachteile, die der Krieg für die geistige Gesundheit des
Soldaten schafft, nicht überschützen. Glücklicherweise ist der Prozentsatz der
durch den Krieg geisteskrank gewordnen Soldaten nur gering. Der Kern unsrer
Armee ist Gott sei Dank in der Lage, Entbehrungen und Strapazen, äußern
und innern Krankheiten, Gemütsaufregungen und geistigen Anstrengungen ohne
Nachteil für Verstand und Gemüt zu trotzen. Aber wir wollen diese Nach¬
teile auch nicht unterschätzen und wollen alles thun, was zu ihrer Verringe¬
rung möglich ist.




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[0279] Die Geisteskrankheiten im Heere die Abteilung, die, lange Zeit unthätig auf derselben Stelle stehend, jede Minute den Befehl zum Vorgehen zu erwarten hat. Sehr interessant ist auch die Beobachtung, die ich derselben Quelle verdanke, daß Verluste von Kameraden nicht so schwer empfunden werden, wenn der Soldat den Feind deutlich vor Augen hat, wie Verluste, die die Geschosse eines in weiter Ferne befindlichen, vielleicht unsichtbaren Feindes veranlassen. Das sind in großen Zügen die Nachteile, die der Krieg für die geistige Gesundheit der Soldaten schafft. Natürlich würde man irre gehen, wenn man aus den vorstehenden Erörterungen schließen wollte, daß der Krieg alle die während oder nach ihm auftretenden Geisteskrankheiten verursacht habe. Der Sanitätsbericht von 1870/71 hebt ausdrücklich hervor, daß bei der größten Zahl der geisteskrank gewordnen Soldaten keine bestimmte Krank¬ heitsursache zu ermitteln gewesen ist. Die Behörden haben zwar in der Mehr¬ zahl der Fälle mit Rücksicht auf die Kranken und ihre Angehörigen einen solchen Zusammenhang angenommen; wissenschaftlich nachweisbar war er oft nicht. Übrigens kommen ja auch im Frieden, gerade im jugendlichen Mannes¬ alter eine Anzahl von psychischen Erkrankungen vor, bei denen die Krankheit ohne jede äußere Ursache auftritt. Es find das die periodischen Geistes¬ störungen und die psychischen Entartungsprozesse. Erkrankungen an periodischer Geistesstörung, deren häufigste Form die periodische Tobsucht ist, sind leicht zu erkennen. Außerordentlich wichtig für die militärischen Verhältnisse im Krieg wie im Frieden ist aber die Kenntnis der psychischen Entartungsprozesse. Hier bildet sich der Schwachsinn in der Regel sehr langsam aus. Das Leiden wird oft erst spät für die verständlich, die sich nicht ausdrücklich mit der Jrrenheilkunde beschäftigt haben, weil die Kranken noch lange Zeit über ein gutes Gedächtnis verfügen. Viele Rekruten sind in diefer Weise krank, deren Ausbildung so unendlich viel Schwierigkeiten macht, die die Geduld ihrer Vorgesetzten in der erdenklichsten Weise in Anspruch nehmen, bis endlich, oft erst nach zahlreichen Strafen (!), die Geistesmacht deutlich über sie hereinbricht und ihr schwachsinniges Benehmen allen erkennbar wird. Die Irrenärzte bezeichnen diese Form von Schwachsinn, der im jugendlichen Mannesalter auftritt, als Hebephrenie. Wir wollen die Nachteile, die der Krieg für die geistige Gesundheit des Soldaten schafft, nicht überschützen. Glücklicherweise ist der Prozentsatz der durch den Krieg geisteskrank gewordnen Soldaten nur gering. Der Kern unsrer Armee ist Gott sei Dank in der Lage, Entbehrungen und Strapazen, äußern und innern Krankheiten, Gemütsaufregungen und geistigen Anstrengungen ohne Nachteil für Verstand und Gemüt zu trotzen. Aber wir wollen diese Nach¬ teile auch nicht unterschätzen und wollen alles thun, was zu ihrer Verringe¬ rung möglich ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/279>, abgerufen am 26.08.2024.