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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Maßnahmen dringend nötig. Hier rächt sich eine mangelhafte Zucht im Heere
an der Gesundheit des ganzen Volkes.

Ferner können Gifte zu Geisteskrankheiten führen. Das auch im Kriege
für die Psychiatrie einflußreichste Gift ist der Alkohol. Der Alkoholgenuß im
Kriege ist gewiß aus mancherlei Gründen anders zu beurteilen als der im
Frieden; man denke an feuchte Biwaks, an Mangel an gutem Wasser u. a. in.
Aber übermäßiger Alkoholgebrauch ist stets schädlich. Trinker erkranken unter
dem Einfluß irgend einer den Körper schwächenden, z. B. einer fieberhaften
Krankheit oder einer Verwundung nicht selten an Säuferwahnsinn. Verstand,
Wille und Gemüt leiden regelmäßig durch den fortgesetzten Gebrauch größerer
Mengen von Alkohol. Noch größere Gefahren für die geistige Gesundheit
bringt der Absynthgenuß mit sich, den wir Deutschen glücklicherweise nicht
kennen.

Dem Vernehmen nach soll in den Offizierkreiscn der Kavallerieregimenter,
hoffentlich nur auswärtiger, der Mvrphiummißbrauch heimisch sein. Wer aber
im Frieden Morphium gebraucht, kann es im Kriege nicht entbehren. Die
Bethörten greifen zur Morphiumspritze, um sich, oft vielleicht quälende, nicht
selten aber auch nur geringfügige Schmerzen zu ersparen, um sich in an¬
genehmere Stimmung zu versetzen, um sich -- wie sie meinen -- widerstands¬
fähiger und arbeitstüchtiger zu machen. Werden aber Morphiumgaben auch
nur einige Zeit lang dem Körper regelmäßig verabreicht, so tritt eine be¬
merkenswerte Veränderung des Charakters ein. Es kommt zu einer gefährlichen
Sucht, dem Morphinismus. Das Morphium vernichtet alle Willenskraft und
Selbstbeherrschung und macht brave, zuverlässige Menschen zu bedingungs¬
losen Sklaven des Giftes, zu Lügnern und Memmen. Noch gefährlicher als
das Morphium wirkt das Kokain. Endlich muß noch vor dem zu eifrigen
Ausstreuen von Jodoform auf Wunden gewarnt werden. Es ist nicht richtig,
Krankenträgern und Lazarettgehilfen Büchsen mit Jodoform zur selbständigen
Verwendung in die Hand zu geben. Das Jodoform kann Erregungszustände
mit Verworrenheit und Sinnestäuschungen hervorrufen.

Es giebt eine Anzahl sehr angesehener Irrenärzte, die nichts davon wissen
wollen, daß der menschliche Geist durch Gemütserregungen krank werden könne,
sich nicht davon überzeugen können, daß hochgradige Schwankungen des ge¬
mütlichen Gleichgewichts, die einer Seelenstörung vorausgegangen sind, oft deren
Ursachen sind. Ich weiß, daß hier große Vorsicht geboten ist, kann aber nach
meinen Erfahrungen starke Gemütserregungen als Ursache von Seelenstörungen
nicht ablehnen. Nach mehrfachen Berichten aus dem deutsch-französischen Kriege
haben Schreck bei plötzlich niederfallenden Geschossen, der Anblick des Schlacht-
feldes, der Verlust guter Kameraden, Verstimmungen oder Selbstvorwürfe nach
Verlornen Gefechten, gekränkter Ehrgeiz, Zurücksetzungen, Sehnsucht nach der
Familie, Sorgen um ihr Schicksal u. dergl. sehr nachteilig auf die geistige


Maßnahmen dringend nötig. Hier rächt sich eine mangelhafte Zucht im Heere
an der Gesundheit des ganzen Volkes.

Ferner können Gifte zu Geisteskrankheiten führen. Das auch im Kriege
für die Psychiatrie einflußreichste Gift ist der Alkohol. Der Alkoholgenuß im
Kriege ist gewiß aus mancherlei Gründen anders zu beurteilen als der im
Frieden; man denke an feuchte Biwaks, an Mangel an gutem Wasser u. a. in.
Aber übermäßiger Alkoholgebrauch ist stets schädlich. Trinker erkranken unter
dem Einfluß irgend einer den Körper schwächenden, z. B. einer fieberhaften
Krankheit oder einer Verwundung nicht selten an Säuferwahnsinn. Verstand,
Wille und Gemüt leiden regelmäßig durch den fortgesetzten Gebrauch größerer
Mengen von Alkohol. Noch größere Gefahren für die geistige Gesundheit
bringt der Absynthgenuß mit sich, den wir Deutschen glücklicherweise nicht
kennen.

Dem Vernehmen nach soll in den Offizierkreiscn der Kavallerieregimenter,
hoffentlich nur auswärtiger, der Mvrphiummißbrauch heimisch sein. Wer aber
im Frieden Morphium gebraucht, kann es im Kriege nicht entbehren. Die
Bethörten greifen zur Morphiumspritze, um sich, oft vielleicht quälende, nicht
selten aber auch nur geringfügige Schmerzen zu ersparen, um sich in an¬
genehmere Stimmung zu versetzen, um sich — wie sie meinen — widerstands¬
fähiger und arbeitstüchtiger zu machen. Werden aber Morphiumgaben auch
nur einige Zeit lang dem Körper regelmäßig verabreicht, so tritt eine be¬
merkenswerte Veränderung des Charakters ein. Es kommt zu einer gefährlichen
Sucht, dem Morphinismus. Das Morphium vernichtet alle Willenskraft und
Selbstbeherrschung und macht brave, zuverlässige Menschen zu bedingungs¬
losen Sklaven des Giftes, zu Lügnern und Memmen. Noch gefährlicher als
das Morphium wirkt das Kokain. Endlich muß noch vor dem zu eifrigen
Ausstreuen von Jodoform auf Wunden gewarnt werden. Es ist nicht richtig,
Krankenträgern und Lazarettgehilfen Büchsen mit Jodoform zur selbständigen
Verwendung in die Hand zu geben. Das Jodoform kann Erregungszustände
mit Verworrenheit und Sinnestäuschungen hervorrufen.

Es giebt eine Anzahl sehr angesehener Irrenärzte, die nichts davon wissen
wollen, daß der menschliche Geist durch Gemütserregungen krank werden könne,
sich nicht davon überzeugen können, daß hochgradige Schwankungen des ge¬
mütlichen Gleichgewichts, die einer Seelenstörung vorausgegangen sind, oft deren
Ursachen sind. Ich weiß, daß hier große Vorsicht geboten ist, kann aber nach
meinen Erfahrungen starke Gemütserregungen als Ursache von Seelenstörungen
nicht ablehnen. Nach mehrfachen Berichten aus dem deutsch-französischen Kriege
haben Schreck bei plötzlich niederfallenden Geschossen, der Anblick des Schlacht-
feldes, der Verlust guter Kameraden, Verstimmungen oder Selbstvorwürfe nach
Verlornen Gefechten, gekränkter Ehrgeiz, Zurücksetzungen, Sehnsucht nach der
Familie, Sorgen um ihr Schicksal u. dergl. sehr nachteilig auf die geistige


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[0275] Maßnahmen dringend nötig. Hier rächt sich eine mangelhafte Zucht im Heere an der Gesundheit des ganzen Volkes. Ferner können Gifte zu Geisteskrankheiten führen. Das auch im Kriege für die Psychiatrie einflußreichste Gift ist der Alkohol. Der Alkoholgenuß im Kriege ist gewiß aus mancherlei Gründen anders zu beurteilen als der im Frieden; man denke an feuchte Biwaks, an Mangel an gutem Wasser u. a. in. Aber übermäßiger Alkoholgebrauch ist stets schädlich. Trinker erkranken unter dem Einfluß irgend einer den Körper schwächenden, z. B. einer fieberhaften Krankheit oder einer Verwundung nicht selten an Säuferwahnsinn. Verstand, Wille und Gemüt leiden regelmäßig durch den fortgesetzten Gebrauch größerer Mengen von Alkohol. Noch größere Gefahren für die geistige Gesundheit bringt der Absynthgenuß mit sich, den wir Deutschen glücklicherweise nicht kennen. Dem Vernehmen nach soll in den Offizierkreiscn der Kavallerieregimenter, hoffentlich nur auswärtiger, der Mvrphiummißbrauch heimisch sein. Wer aber im Frieden Morphium gebraucht, kann es im Kriege nicht entbehren. Die Bethörten greifen zur Morphiumspritze, um sich, oft vielleicht quälende, nicht selten aber auch nur geringfügige Schmerzen zu ersparen, um sich in an¬ genehmere Stimmung zu versetzen, um sich — wie sie meinen — widerstands¬ fähiger und arbeitstüchtiger zu machen. Werden aber Morphiumgaben auch nur einige Zeit lang dem Körper regelmäßig verabreicht, so tritt eine be¬ merkenswerte Veränderung des Charakters ein. Es kommt zu einer gefährlichen Sucht, dem Morphinismus. Das Morphium vernichtet alle Willenskraft und Selbstbeherrschung und macht brave, zuverlässige Menschen zu bedingungs¬ losen Sklaven des Giftes, zu Lügnern und Memmen. Noch gefährlicher als das Morphium wirkt das Kokain. Endlich muß noch vor dem zu eifrigen Ausstreuen von Jodoform auf Wunden gewarnt werden. Es ist nicht richtig, Krankenträgern und Lazarettgehilfen Büchsen mit Jodoform zur selbständigen Verwendung in die Hand zu geben. Das Jodoform kann Erregungszustände mit Verworrenheit und Sinnestäuschungen hervorrufen. Es giebt eine Anzahl sehr angesehener Irrenärzte, die nichts davon wissen wollen, daß der menschliche Geist durch Gemütserregungen krank werden könne, sich nicht davon überzeugen können, daß hochgradige Schwankungen des ge¬ mütlichen Gleichgewichts, die einer Seelenstörung vorausgegangen sind, oft deren Ursachen sind. Ich weiß, daß hier große Vorsicht geboten ist, kann aber nach meinen Erfahrungen starke Gemütserregungen als Ursache von Seelenstörungen nicht ablehnen. Nach mehrfachen Berichten aus dem deutsch-französischen Kriege haben Schreck bei plötzlich niederfallenden Geschossen, der Anblick des Schlacht- feldes, der Verlust guter Kameraden, Verstimmungen oder Selbstvorwürfe nach Verlornen Gefechten, gekränkter Ehrgeiz, Zurücksetzungen, Sehnsucht nach der Familie, Sorgen um ihr Schicksal u. dergl. sehr nachteilig auf die geistige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/275>, abgerufen am 27.08.2024.