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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Geisteskrankheiten im Heere

durch den Flecktyphus gefährlich werden. Diesen innern Krankheiten sind noch
die Influenza und die Lungenentzündung, sowie die epidemische Hirnhaut¬
entzündung und der Gelenkrheumatismus anzureihen. Im Anschluß an Ver¬
letzungen kann es zu Blutarmut, Blutvergiftung und Rose kommen.

Innere Erkrankungen fuhren nun zuweilen durch die Steigerung der Tempe¬
ratur und der Blutfülle des Gehirns im Fieber oder durch die Wirkung des
von den Krankheitskeimen im Körper gebildeten Giftes zu Geisteskrankheiten.
Hier sind namentlich die Delirien zu nennen. Das Wesentliche an ihnen sind
Bewußtseinstrübungen, Aufregung, gesteigerter Bewegungsdrang, Wahnideen
und Sinnestäuschungen. Wahnideen sind auf krankhaften Schlüssen beruhende
Ansichten. Um Sinnestäuschungen handelt es sich, wenn der Kranke Personen
und Gegenstünde verkennt, aus harmlosen Geräuschen Worte, Zurufe u. dergl.
heraushört, oder wenn er da, wo sich nichts befindet, Gestalten und andre
Erscheinungen, oft beängstigender, schreckhafter Natur wahrnimmt, wenn er zu
Zeiten, wo alles um ihn herum still ist, Stimmen, angenehme oder traurige,
verspottende oder belustigende Reden hört, wenn er etwas, von dem alle andern
nichts bemerken, riecht oder schmeckt, oder wenn er ohne äußern Grund fühlt,
wie er betastet, gestreichelt, gestoßen, elektrisirt wird u. ni. in. Delirien treten
gewöhnlich nur bei schweren innern Erkrankungen auf. Gelingt es dem Körper,
das Fieber zu besiegen und die von den Mikroorganismen gebildeten Gifte
auszuscheiden, so tritt das Delirium meist schnell zurück.

Am häufigsten jedoch führen innere Krankheiten dadurch zu Geistes¬
störungen, daß sie den Körper entkräften und die Ernährung des Gehirns be¬
einträchtigen. Bei dem Sinken der körperlichen Kräfte kommt es dann zu
einem Zuscuumenbruch der Thätigkeit der Seele. Im Frieden sind Psychosen,
die auf Erschöpfung durch innere Krankheiten zurückzuführen sind, nicht so
häusig wie im Felde, wo die Seuchen heftiger wüten, wo die innere Krankheit
einen durch erhöhte Ausgaben verschiedenster Art und oft geringere Ein¬
nahmen geschwächten Leib mit überreiztem Nervensystem vorfindet. Die Seelen-
störungen, die durch Entkräftung zu stände kommen, nennt man Erschöpfungs¬
psychosen. In der Regel kommen sie erst nach dem Wegfall der Fieber-
erscheinungen zum Ausbruch. Sie sind durch mehr oder weniger vollständige
Zusammenhangslosigkeit des Denkens, durch außerordentlich starken Bewegungs¬
drang, durch Jdeeuflucht, schnell wechselnde Stimmung, bunt durcheinander¬
gehende Sinnestäuschungen und Schlaflosigkeit gekennzeichnet. Zuweilen äußert
sich die Erschöpfung weniger in Reizerscheinungen als in plötzlich auftretenden
Zuständen von Schwachsinn oder geistiger Hemmung. Im Kriege gehen ohne
Zweifel viele von dieser Form befallne Soldaten schnell zu Grunde. Nur
einer besonders guten Behandlung und Pflege gelingt es, solche Kranke zu
retten. Im Frieden gewähren die Erschöpfungspsychosen im Verhältnis zu
andern Geisteskrankheiten viel Aussicht auf Heilung. Die Durchsicht der im


Die Geisteskrankheiten im Heere

durch den Flecktyphus gefährlich werden. Diesen innern Krankheiten sind noch
die Influenza und die Lungenentzündung, sowie die epidemische Hirnhaut¬
entzündung und der Gelenkrheumatismus anzureihen. Im Anschluß an Ver¬
letzungen kann es zu Blutarmut, Blutvergiftung und Rose kommen.

Innere Erkrankungen fuhren nun zuweilen durch die Steigerung der Tempe¬
ratur und der Blutfülle des Gehirns im Fieber oder durch die Wirkung des
von den Krankheitskeimen im Körper gebildeten Giftes zu Geisteskrankheiten.
Hier sind namentlich die Delirien zu nennen. Das Wesentliche an ihnen sind
Bewußtseinstrübungen, Aufregung, gesteigerter Bewegungsdrang, Wahnideen
und Sinnestäuschungen. Wahnideen sind auf krankhaften Schlüssen beruhende
Ansichten. Um Sinnestäuschungen handelt es sich, wenn der Kranke Personen
und Gegenstünde verkennt, aus harmlosen Geräuschen Worte, Zurufe u. dergl.
heraushört, oder wenn er da, wo sich nichts befindet, Gestalten und andre
Erscheinungen, oft beängstigender, schreckhafter Natur wahrnimmt, wenn er zu
Zeiten, wo alles um ihn herum still ist, Stimmen, angenehme oder traurige,
verspottende oder belustigende Reden hört, wenn er etwas, von dem alle andern
nichts bemerken, riecht oder schmeckt, oder wenn er ohne äußern Grund fühlt,
wie er betastet, gestreichelt, gestoßen, elektrisirt wird u. ni. in. Delirien treten
gewöhnlich nur bei schweren innern Erkrankungen auf. Gelingt es dem Körper,
das Fieber zu besiegen und die von den Mikroorganismen gebildeten Gifte
auszuscheiden, so tritt das Delirium meist schnell zurück.

Am häufigsten jedoch führen innere Krankheiten dadurch zu Geistes¬
störungen, daß sie den Körper entkräften und die Ernährung des Gehirns be¬
einträchtigen. Bei dem Sinken der körperlichen Kräfte kommt es dann zu
einem Zuscuumenbruch der Thätigkeit der Seele. Im Frieden sind Psychosen,
die auf Erschöpfung durch innere Krankheiten zurückzuführen sind, nicht so
häusig wie im Felde, wo die Seuchen heftiger wüten, wo die innere Krankheit
einen durch erhöhte Ausgaben verschiedenster Art und oft geringere Ein¬
nahmen geschwächten Leib mit überreiztem Nervensystem vorfindet. Die Seelen-
störungen, die durch Entkräftung zu stände kommen, nennt man Erschöpfungs¬
psychosen. In der Regel kommen sie erst nach dem Wegfall der Fieber-
erscheinungen zum Ausbruch. Sie sind durch mehr oder weniger vollständige
Zusammenhangslosigkeit des Denkens, durch außerordentlich starken Bewegungs¬
drang, durch Jdeeuflucht, schnell wechselnde Stimmung, bunt durcheinander¬
gehende Sinnestäuschungen und Schlaflosigkeit gekennzeichnet. Zuweilen äußert
sich die Erschöpfung weniger in Reizerscheinungen als in plötzlich auftretenden
Zuständen von Schwachsinn oder geistiger Hemmung. Im Kriege gehen ohne
Zweifel viele von dieser Form befallne Soldaten schnell zu Grunde. Nur
einer besonders guten Behandlung und Pflege gelingt es, solche Kranke zu
retten. Im Frieden gewähren die Erschöpfungspsychosen im Verhältnis zu
andern Geisteskrankheiten viel Aussicht auf Heilung. Die Durchsicht der im


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[0272] Die Geisteskrankheiten im Heere durch den Flecktyphus gefährlich werden. Diesen innern Krankheiten sind noch die Influenza und die Lungenentzündung, sowie die epidemische Hirnhaut¬ entzündung und der Gelenkrheumatismus anzureihen. Im Anschluß an Ver¬ letzungen kann es zu Blutarmut, Blutvergiftung und Rose kommen. Innere Erkrankungen fuhren nun zuweilen durch die Steigerung der Tempe¬ ratur und der Blutfülle des Gehirns im Fieber oder durch die Wirkung des von den Krankheitskeimen im Körper gebildeten Giftes zu Geisteskrankheiten. Hier sind namentlich die Delirien zu nennen. Das Wesentliche an ihnen sind Bewußtseinstrübungen, Aufregung, gesteigerter Bewegungsdrang, Wahnideen und Sinnestäuschungen. Wahnideen sind auf krankhaften Schlüssen beruhende Ansichten. Um Sinnestäuschungen handelt es sich, wenn der Kranke Personen und Gegenstünde verkennt, aus harmlosen Geräuschen Worte, Zurufe u. dergl. heraushört, oder wenn er da, wo sich nichts befindet, Gestalten und andre Erscheinungen, oft beängstigender, schreckhafter Natur wahrnimmt, wenn er zu Zeiten, wo alles um ihn herum still ist, Stimmen, angenehme oder traurige, verspottende oder belustigende Reden hört, wenn er etwas, von dem alle andern nichts bemerken, riecht oder schmeckt, oder wenn er ohne äußern Grund fühlt, wie er betastet, gestreichelt, gestoßen, elektrisirt wird u. ni. in. Delirien treten gewöhnlich nur bei schweren innern Erkrankungen auf. Gelingt es dem Körper, das Fieber zu besiegen und die von den Mikroorganismen gebildeten Gifte auszuscheiden, so tritt das Delirium meist schnell zurück. Am häufigsten jedoch führen innere Krankheiten dadurch zu Geistes¬ störungen, daß sie den Körper entkräften und die Ernährung des Gehirns be¬ einträchtigen. Bei dem Sinken der körperlichen Kräfte kommt es dann zu einem Zuscuumenbruch der Thätigkeit der Seele. Im Frieden sind Psychosen, die auf Erschöpfung durch innere Krankheiten zurückzuführen sind, nicht so häusig wie im Felde, wo die Seuchen heftiger wüten, wo die innere Krankheit einen durch erhöhte Ausgaben verschiedenster Art und oft geringere Ein¬ nahmen geschwächten Leib mit überreiztem Nervensystem vorfindet. Die Seelen- störungen, die durch Entkräftung zu stände kommen, nennt man Erschöpfungs¬ psychosen. In der Regel kommen sie erst nach dem Wegfall der Fieber- erscheinungen zum Ausbruch. Sie sind durch mehr oder weniger vollständige Zusammenhangslosigkeit des Denkens, durch außerordentlich starken Bewegungs¬ drang, durch Jdeeuflucht, schnell wechselnde Stimmung, bunt durcheinander¬ gehende Sinnestäuschungen und Schlaflosigkeit gekennzeichnet. Zuweilen äußert sich die Erschöpfung weniger in Reizerscheinungen als in plötzlich auftretenden Zuständen von Schwachsinn oder geistiger Hemmung. Im Kriege gehen ohne Zweifel viele von dieser Form befallne Soldaten schnell zu Grunde. Nur einer besonders guten Behandlung und Pflege gelingt es, solche Kranke zu retten. Im Frieden gewähren die Erschöpfungspsychosen im Verhältnis zu andern Geisteskrankheiten viel Aussicht auf Heilung. Die Durchsicht der im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/272>, abgerufen am 27.08.2024.