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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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wann es sich um geistige Erkrankung handelt, damit sie erfahren, daß ein der¬
artiges Leiden nicht ausschließlich in tollem Handeln und verwirrten Reden
zur Erscheinung kommt. Können doch Wahnideen, die die ganze Persönlichkeit
beherrschen, mit ziemlich großer Besonnenheit verbunden sein, vermag doch
tiefe Gemütsverstimmung neben leidlich geordnetem Betragen einherzugehen.

Aber nicht nnr um bei der Erkennung krankhafter Seelenzustände zu helfen,
was übrigens auch bei der Aushebung und bei der Verabschiedung von großem
Nutzen sein kann, auch um Geisteskrankheiten zu verhüten, ist es wichtig, schon
im Frieden darauf hinzuweisen, welche Nachteile der Krieg für die geistige
Gesundheit des Soldaten haben kann. Endlich aber sollte der Psychiatrie auch
in den Kriegsgerichten bei der Beurteilung derer, die sich gesetzwidrige Hand¬
lungen haben zu schulden kommen lassen, ein Platz angewiesen werden. Kann
doch auch im Kriege keine strafbare Handlung vorliegen, wenn sich der Thäter
zur Zeit der That in einem Zustande krankhafter Störung der Geistes¬
thätigkeit befunden hat, wodurch die freie Willensbestimmung ausgeschlossen
war. Das Gutachten darüber, ob eine solche Störung vorgelegen hat oder
nicht, wird natürlich im Kriege wie im Frieden von sachverständigen Ärzten
zu erstatten sein. Aber die Entscheidung, ob einem solchen Gutachten Folge
zu geben sei, steht dem Richter zu, liegt also in den Händen der Offiziere.

Die deutschen Kriegsministerien haben in ihrem gemeinsam veröffentlichten
SanitntSbericht über die deutschen Heere im Kriege gegen Frankreich 1870/71
die an und für sich wahrscheinliche, aber eine Zeit lang von den französischen
Irrenärzten in Abrede gestellte Thatsache nachgewiesen, daß der Krieg zahlreiche
Geisteskrankheiten hervorruft. Freilich sind über einzelne Fälle von psychischen
Erkrankungen während des Feldzugs von 1870/71 nur spärliche Nachrichten
vorhanden; die Ärzte waren mit andern, für den Augenblick wichtigern Dingen
beschäftigt und waren deshalb nicht imstande, auch noch Untersuchungen oder
gar Aufzeichnungen über geistige Erkrankungen zu machen. Aber da die
während des Krieges von Geisteskrankheit befallnen meist zugleich noch an
andern Krankheiten litten, sind sie nachweislich bei der Berechnung vielfach
an andrer Stelle gezählt worden. Da ferner Geisteskrankheit im Kriege durch¬
aus nicht immer zur Krankmeldung und Lazarettbehandlung führt, ist die Zahl
der während des Feldzugs geistig Erkrankten viel hoher zu schätzen, als aus-
gerechnet worden ist. Irrenärzte von Fach, die am letzten Feldzuge beteiligt
gewesen sind, haben zahlreiche psychische Erkrankungen bei der Feldarmee be¬
obachtet. Viele dieser Psychose" spielten sich noch während des Krieges ab.
In andern Fallen dauerte die Krankheit lange über den Friedensschluß hinaus,
und vielfach besteht sie noch jetzt. Für die Zeit nach dem Kriege haben die
statistischen Erhebungen mit großer Bestimmtheit ergeben, daß in Deutschland
wie in Frankreich sehr viele Geisteskranke aus der Armee in die Irrenanstalten
gebracht worden sind. Es handelte sich dabei nicht nur um solche, die während


wann es sich um geistige Erkrankung handelt, damit sie erfahren, daß ein der¬
artiges Leiden nicht ausschließlich in tollem Handeln und verwirrten Reden
zur Erscheinung kommt. Können doch Wahnideen, die die ganze Persönlichkeit
beherrschen, mit ziemlich großer Besonnenheit verbunden sein, vermag doch
tiefe Gemütsverstimmung neben leidlich geordnetem Betragen einherzugehen.

Aber nicht nnr um bei der Erkennung krankhafter Seelenzustände zu helfen,
was übrigens auch bei der Aushebung und bei der Verabschiedung von großem
Nutzen sein kann, auch um Geisteskrankheiten zu verhüten, ist es wichtig, schon
im Frieden darauf hinzuweisen, welche Nachteile der Krieg für die geistige
Gesundheit des Soldaten haben kann. Endlich aber sollte der Psychiatrie auch
in den Kriegsgerichten bei der Beurteilung derer, die sich gesetzwidrige Hand¬
lungen haben zu schulden kommen lassen, ein Platz angewiesen werden. Kann
doch auch im Kriege keine strafbare Handlung vorliegen, wenn sich der Thäter
zur Zeit der That in einem Zustande krankhafter Störung der Geistes¬
thätigkeit befunden hat, wodurch die freie Willensbestimmung ausgeschlossen
war. Das Gutachten darüber, ob eine solche Störung vorgelegen hat oder
nicht, wird natürlich im Kriege wie im Frieden von sachverständigen Ärzten
zu erstatten sein. Aber die Entscheidung, ob einem solchen Gutachten Folge
zu geben sei, steht dem Richter zu, liegt also in den Händen der Offiziere.

Die deutschen Kriegsministerien haben in ihrem gemeinsam veröffentlichten
SanitntSbericht über die deutschen Heere im Kriege gegen Frankreich 1870/71
die an und für sich wahrscheinliche, aber eine Zeit lang von den französischen
Irrenärzten in Abrede gestellte Thatsache nachgewiesen, daß der Krieg zahlreiche
Geisteskrankheiten hervorruft. Freilich sind über einzelne Fälle von psychischen
Erkrankungen während des Feldzugs von 1870/71 nur spärliche Nachrichten
vorhanden; die Ärzte waren mit andern, für den Augenblick wichtigern Dingen
beschäftigt und waren deshalb nicht imstande, auch noch Untersuchungen oder
gar Aufzeichnungen über geistige Erkrankungen zu machen. Aber da die
während des Krieges von Geisteskrankheit befallnen meist zugleich noch an
andern Krankheiten litten, sind sie nachweislich bei der Berechnung vielfach
an andrer Stelle gezählt worden. Da ferner Geisteskrankheit im Kriege durch¬
aus nicht immer zur Krankmeldung und Lazarettbehandlung führt, ist die Zahl
der während des Feldzugs geistig Erkrankten viel hoher zu schätzen, als aus-
gerechnet worden ist. Irrenärzte von Fach, die am letzten Feldzuge beteiligt
gewesen sind, haben zahlreiche psychische Erkrankungen bei der Feldarmee be¬
obachtet. Viele dieser Psychose» spielten sich noch während des Krieges ab.
In andern Fallen dauerte die Krankheit lange über den Friedensschluß hinaus,
und vielfach besteht sie noch jetzt. Für die Zeit nach dem Kriege haben die
statistischen Erhebungen mit großer Bestimmtheit ergeben, daß in Deutschland
wie in Frankreich sehr viele Geisteskranke aus der Armee in die Irrenanstalten
gebracht worden sind. Es handelte sich dabei nicht nur um solche, die während


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/269>, abgerufen am 27.08.2024.