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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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leben und den Ackerbau überschätzt hätten, und preist das geistig bewegte Leben
der großen Städte und den Luxus als einen Stachel der Industrie; Sparen
mache nicht reich, sondern arm.

Auch darf sich nicht jedes kleine Völkchen, wie etwa die Schweizer und
die Holländer (denen eine vorübergehende Konjunktur zu einer vorübergehenden
Weltstellung verholfen hat), einbilden, eine Nation zu sein und nationale
Handelspolitik treiben, ein selbständiges Wirtschaftsgebiet bilden zu können.
"Große Bevölkerung und ein weites, mit mannichfaltigen Naturfonds aus¬
gestattetes Territorium sind wesentliche Erfordernisse der normalen Nationalität."
(S. 257.) Die Schweiz, Belgien, Holland und Dänemark müssen Deutschland
wirtschaftlich eingegliedert werden, sodaß ein einziges großes Handelsgebiet da¬
raus wird, weiterhin haben sich alle Staaten des europäischen Festlands zu ver¬
bünden, um Englands Monopol zu brechen (S. 559); ganz Asien ist von diesem
europäischen Bunde "in Zucht und Pflege zu nehmen, wie bereits Ostindien
von England in Zucht und Pflege genommen worden ist." Jedem Bevöl¬
kerungszuwachs hat eine entsprechende Ausdehnung des Ernährungs- und
Wirkungsbereichs zu folgen, man dürfe nicht kaltherzig, wie die Schule thue,
die Überzähligen zum Verhungern verurteilen. "Wenn in einer Nation die
Bevölkerung höher steigt, als die Produktion an Lebensmitteln, wenn sich die
Kapitale am Ende so anhäufen, daß sie in der Nation kein Unterkommen mehr
finden, wenn die Maschinen eine Menge Menschen außer Thätigkeit setzen, und die
Fabrikate bis zum Übermaß sich aufhäufen, so ist dies nur ein Beweis, daß
die Natur nicht haben will, daß Industrie, Zivilisation, Reichtum und Macht
einer einzigen Nation ausschließlich zu teil werden, daß ein großer Teil der
Erde nur von Tieren bewohnt sei, und daß der größte Teil des Menschen¬
geschlechts in Roheit, Unwissenheit und Armut versunken bleibe." (S. 197.)
Vorzugsweise nach Nord- und Südamerika sei die Auswanderung zu leiten,
jedoch (unter anderm durch lebhaften Handelsverkehr und Einrichtung von
Dampferlinien) dafür zu sorgen, daß die Kolonisten in enger Verbindung mit
dem Mutterlande bleiben; Mittel- und Südamerika sei Nordamerika vor¬
zuziehen, weil die nordamerikanischen Deutschen zu leicht in der englischen Be¬
völkerung aufgingen. In zweiter Linie seien die Länder der europäischen Türkei
in Aussicht zu nehmen; daher müsse Osterreich in den Zollverein einbezogen
werden (S. 579 bis 585).

Aus alledem geht schon hervor, daß die Regierungen in wirtschaftspolitischer
Beziehung eine Menge Aufgaben zu lösen haben, wie Zölle einführen und auf¬
heben, Verträge schließen, Dampferlinien einrichten, die Auswanderung leiten,^



*) Was jedoch die Anlage von Kolonien betrifft, so sind unsre nationalen mit ihrer
Schätzung der Thätigkeit des Staates dafür im Irrtum. Es ist wunderbar, daß im Reichs¬
tage ein Redner sich und seine Freunde über die schwachen Erfolge unsrer vom Staate be-
trievneu Kolonialpolitik, ohne ausgelacht zu werden, mit der Redensart trösten konnte, aller

leben und den Ackerbau überschätzt hätten, und preist das geistig bewegte Leben
der großen Städte und den Luxus als einen Stachel der Industrie; Sparen
mache nicht reich, sondern arm.

Auch darf sich nicht jedes kleine Völkchen, wie etwa die Schweizer und
die Holländer (denen eine vorübergehende Konjunktur zu einer vorübergehenden
Weltstellung verholfen hat), einbilden, eine Nation zu sein und nationale
Handelspolitik treiben, ein selbständiges Wirtschaftsgebiet bilden zu können.
„Große Bevölkerung und ein weites, mit mannichfaltigen Naturfonds aus¬
gestattetes Territorium sind wesentliche Erfordernisse der normalen Nationalität."
(S. 257.) Die Schweiz, Belgien, Holland und Dänemark müssen Deutschland
wirtschaftlich eingegliedert werden, sodaß ein einziges großes Handelsgebiet da¬
raus wird, weiterhin haben sich alle Staaten des europäischen Festlands zu ver¬
bünden, um Englands Monopol zu brechen (S. 559); ganz Asien ist von diesem
europäischen Bunde „in Zucht und Pflege zu nehmen, wie bereits Ostindien
von England in Zucht und Pflege genommen worden ist." Jedem Bevöl¬
kerungszuwachs hat eine entsprechende Ausdehnung des Ernährungs- und
Wirkungsbereichs zu folgen, man dürfe nicht kaltherzig, wie die Schule thue,
die Überzähligen zum Verhungern verurteilen. „Wenn in einer Nation die
Bevölkerung höher steigt, als die Produktion an Lebensmitteln, wenn sich die
Kapitale am Ende so anhäufen, daß sie in der Nation kein Unterkommen mehr
finden, wenn die Maschinen eine Menge Menschen außer Thätigkeit setzen, und die
Fabrikate bis zum Übermaß sich aufhäufen, so ist dies nur ein Beweis, daß
die Natur nicht haben will, daß Industrie, Zivilisation, Reichtum und Macht
einer einzigen Nation ausschließlich zu teil werden, daß ein großer Teil der
Erde nur von Tieren bewohnt sei, und daß der größte Teil des Menschen¬
geschlechts in Roheit, Unwissenheit und Armut versunken bleibe." (S. 197.)
Vorzugsweise nach Nord- und Südamerika sei die Auswanderung zu leiten,
jedoch (unter anderm durch lebhaften Handelsverkehr und Einrichtung von
Dampferlinien) dafür zu sorgen, daß die Kolonisten in enger Verbindung mit
dem Mutterlande bleiben; Mittel- und Südamerika sei Nordamerika vor¬
zuziehen, weil die nordamerikanischen Deutschen zu leicht in der englischen Be¬
völkerung aufgingen. In zweiter Linie seien die Länder der europäischen Türkei
in Aussicht zu nehmen; daher müsse Osterreich in den Zollverein einbezogen
werden (S. 579 bis 585).

Aus alledem geht schon hervor, daß die Regierungen in wirtschaftspolitischer
Beziehung eine Menge Aufgaben zu lösen haben, wie Zölle einführen und auf¬
heben, Verträge schließen, Dampferlinien einrichten, die Auswanderung leiten,^



*) Was jedoch die Anlage von Kolonien betrifft, so sind unsre nationalen mit ihrer
Schätzung der Thätigkeit des Staates dafür im Irrtum. Es ist wunderbar, daß im Reichs¬
tage ein Redner sich und seine Freunde über die schwachen Erfolge unsrer vom Staate be-
trievneu Kolonialpolitik, ohne ausgelacht zu werden, mit der Redensart trösten konnte, aller
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[0264] leben und den Ackerbau überschätzt hätten, und preist das geistig bewegte Leben der großen Städte und den Luxus als einen Stachel der Industrie; Sparen mache nicht reich, sondern arm. Auch darf sich nicht jedes kleine Völkchen, wie etwa die Schweizer und die Holländer (denen eine vorübergehende Konjunktur zu einer vorübergehenden Weltstellung verholfen hat), einbilden, eine Nation zu sein und nationale Handelspolitik treiben, ein selbständiges Wirtschaftsgebiet bilden zu können. „Große Bevölkerung und ein weites, mit mannichfaltigen Naturfonds aus¬ gestattetes Territorium sind wesentliche Erfordernisse der normalen Nationalität." (S. 257.) Die Schweiz, Belgien, Holland und Dänemark müssen Deutschland wirtschaftlich eingegliedert werden, sodaß ein einziges großes Handelsgebiet da¬ raus wird, weiterhin haben sich alle Staaten des europäischen Festlands zu ver¬ bünden, um Englands Monopol zu brechen (S. 559); ganz Asien ist von diesem europäischen Bunde „in Zucht und Pflege zu nehmen, wie bereits Ostindien von England in Zucht und Pflege genommen worden ist." Jedem Bevöl¬ kerungszuwachs hat eine entsprechende Ausdehnung des Ernährungs- und Wirkungsbereichs zu folgen, man dürfe nicht kaltherzig, wie die Schule thue, die Überzähligen zum Verhungern verurteilen. „Wenn in einer Nation die Bevölkerung höher steigt, als die Produktion an Lebensmitteln, wenn sich die Kapitale am Ende so anhäufen, daß sie in der Nation kein Unterkommen mehr finden, wenn die Maschinen eine Menge Menschen außer Thätigkeit setzen, und die Fabrikate bis zum Übermaß sich aufhäufen, so ist dies nur ein Beweis, daß die Natur nicht haben will, daß Industrie, Zivilisation, Reichtum und Macht einer einzigen Nation ausschließlich zu teil werden, daß ein großer Teil der Erde nur von Tieren bewohnt sei, und daß der größte Teil des Menschen¬ geschlechts in Roheit, Unwissenheit und Armut versunken bleibe." (S. 197.) Vorzugsweise nach Nord- und Südamerika sei die Auswanderung zu leiten, jedoch (unter anderm durch lebhaften Handelsverkehr und Einrichtung von Dampferlinien) dafür zu sorgen, daß die Kolonisten in enger Verbindung mit dem Mutterlande bleiben; Mittel- und Südamerika sei Nordamerika vor¬ zuziehen, weil die nordamerikanischen Deutschen zu leicht in der englischen Be¬ völkerung aufgingen. In zweiter Linie seien die Länder der europäischen Türkei in Aussicht zu nehmen; daher müsse Osterreich in den Zollverein einbezogen werden (S. 579 bis 585). Aus alledem geht schon hervor, daß die Regierungen in wirtschaftspolitischer Beziehung eine Menge Aufgaben zu lösen haben, wie Zölle einführen und auf¬ heben, Verträge schließen, Dampferlinien einrichten, die Auswanderung leiten,^ *) Was jedoch die Anlage von Kolonien betrifft, so sind unsre nationalen mit ihrer Schätzung der Thätigkeit des Staates dafür im Irrtum. Es ist wunderbar, daß im Reichs¬ tage ein Redner sich und seine Freunde über die schwachen Erfolge unsrer vom Staate be- trievneu Kolonialpolitik, ohne ausgelacht zu werden, mit der Redensart trösten konnte, aller

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/264>, abgerufen am 22.12.2024.