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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Fehler der Gesamtanlage. Schon daß ein Bajazzo zum Mittelpunkte einer
tragischen Handlung gemacht wird, ist bedenklich, da die Gefahr, sich ins Krasse
zu verlieren, dadurch verzehnfacht wird. Ganz schlimm aber wird die Sache
vollends, wenn man dem Bajazzo alle tragischen Merkmale nimmt und ihn
lediglich zum Träger eines traurigen Geschicks macht. Canio ist ein Ehren¬
mann, er wird betrogen, ersticht, wie sich das in Italien gehört, Frau und
Liebhaber und steht am Schluß da als ein gebrochner, unglücklicher Mensch,
den fremde Schuld des besten Inhalts seines Lebens beraubt hat. Das ist
zwar sehr traurig, aber doch nichts weniger als tragisch. Wir begegnen dieser
Verwechslung des Traurigen und des Tragischen in der modernen Kunst auf
Schritt und Tritt. Leider ist hier nicht der Ort, sich eingehend darüber aus¬
zusprechen. Soviel ist sicher, daß das Zerrissene und Unbefriedigende der
Gesamtwirkung des Bajazzo wie vieler modernen sogenannten Tragödien vor
allem auf diese Ersetzung des Tragischen durch das Traurige zurückzuführen ist,

Ähnlich wie Mascagni in sein Vorspiel Turiddus Stündchen verflicht,
fügt Leoncavallo seiner musikalischen Introduktion einen Prolog ein. Die
Ähnlichkeit ist aber nur eine äußerliche. Während Turiddus Ständchen mit der
Handlung der Oper in unmittelbarem Zusammenhange steht, ist Leonccivallos
Prolog eine Art ästhetischer Vorlesung, die der Dichter zur Aufklärung und
Belehrung seiner Hörer vorausschicken zu müssen glaubt. Warum mit dieser
Aufgabe gerade der Tölpel Tonio betraut wird, ist nicht recht klar -- viel¬
leicht ist es in unbewußter Selbstkritik geschehen, denn die ästhetische Weis¬
heit, die Leoncavallo bei dieser Gelegenheit zum besten giebt, ist mehr als
zweifelhafter Art. Er thut sich sehr viel darauf zu gute, daß sein Bühnen¬
werk eine "wahrhafte" Begebenheit darstelle, wie er denn auch nicht vergißt,
den Tag des wirklichen Geschehens ausdrücklich anzugeben. Für diese Art von
"Realismus" läßt er nun seinen Prolog Propaganda machen. Bei uns in
Deutschland ist ein solcher Standpunkt nur noch in den Schaubuden der
Jahrmärkte und in Kolportageromanen denkbar. Selbst die Schlußbeteuerung
des Prologs, daß auch in der Brust des Gauklers ein warmes Herz schlage,
sowie der tiefsinnige Hinweis, daß wir alle auf Erden in demselben Lichte
wandeln, vermag uns nicht zu rühren. Mit der dichterischen Grundlage des
so viel gesungnen Prologs steht es also schlecht. Wie aber verhält sich dazu
die Musik?

Das ist uicht mit einem Worte zu sagen, denn Leoncavallo tritt uns
sofort in ganzer Gestalt entgegen, mit seinen Vorzügen, seinen Fehlern und
seinen Widersprüchen. Es wird daher, wenn man die einzelnen Bestandteile
seiner musikalischen Natur kennen lernen will, nichts weiter übrig bleiben, als
den Prolog in seinen Teilen zu prüfen.

Die Jnstrumentaleinleitung läßt sich vielversprechend an. Sie beginnt in
lebhaft energischem Dreiachteltakt und stürzt sich alsbald in eine Reihe har-


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Fehler der Gesamtanlage. Schon daß ein Bajazzo zum Mittelpunkte einer
tragischen Handlung gemacht wird, ist bedenklich, da die Gefahr, sich ins Krasse
zu verlieren, dadurch verzehnfacht wird. Ganz schlimm aber wird die Sache
vollends, wenn man dem Bajazzo alle tragischen Merkmale nimmt und ihn
lediglich zum Träger eines traurigen Geschicks macht. Canio ist ein Ehren¬
mann, er wird betrogen, ersticht, wie sich das in Italien gehört, Frau und
Liebhaber und steht am Schluß da als ein gebrochner, unglücklicher Mensch,
den fremde Schuld des besten Inhalts seines Lebens beraubt hat. Das ist
zwar sehr traurig, aber doch nichts weniger als tragisch. Wir begegnen dieser
Verwechslung des Traurigen und des Tragischen in der modernen Kunst auf
Schritt und Tritt. Leider ist hier nicht der Ort, sich eingehend darüber aus¬
zusprechen. Soviel ist sicher, daß das Zerrissene und Unbefriedigende der
Gesamtwirkung des Bajazzo wie vieler modernen sogenannten Tragödien vor
allem auf diese Ersetzung des Tragischen durch das Traurige zurückzuführen ist,

Ähnlich wie Mascagni in sein Vorspiel Turiddus Stündchen verflicht,
fügt Leoncavallo seiner musikalischen Introduktion einen Prolog ein. Die
Ähnlichkeit ist aber nur eine äußerliche. Während Turiddus Ständchen mit der
Handlung der Oper in unmittelbarem Zusammenhange steht, ist Leonccivallos
Prolog eine Art ästhetischer Vorlesung, die der Dichter zur Aufklärung und
Belehrung seiner Hörer vorausschicken zu müssen glaubt. Warum mit dieser
Aufgabe gerade der Tölpel Tonio betraut wird, ist nicht recht klar — viel¬
leicht ist es in unbewußter Selbstkritik geschehen, denn die ästhetische Weis¬
heit, die Leoncavallo bei dieser Gelegenheit zum besten giebt, ist mehr als
zweifelhafter Art. Er thut sich sehr viel darauf zu gute, daß sein Bühnen¬
werk eine „wahrhafte" Begebenheit darstelle, wie er denn auch nicht vergißt,
den Tag des wirklichen Geschehens ausdrücklich anzugeben. Für diese Art von
»Realismus" läßt er nun seinen Prolog Propaganda machen. Bei uns in
Deutschland ist ein solcher Standpunkt nur noch in den Schaubuden der
Jahrmärkte und in Kolportageromanen denkbar. Selbst die Schlußbeteuerung
des Prologs, daß auch in der Brust des Gauklers ein warmes Herz schlage,
sowie der tiefsinnige Hinweis, daß wir alle auf Erden in demselben Lichte
wandeln, vermag uns nicht zu rühren. Mit der dichterischen Grundlage des
so viel gesungnen Prologs steht es also schlecht. Wie aber verhält sich dazu
die Musik?

Das ist uicht mit einem Worte zu sagen, denn Leoncavallo tritt uns
sofort in ganzer Gestalt entgegen, mit seinen Vorzügen, seinen Fehlern und
seinen Widersprüchen. Es wird daher, wenn man die einzelnen Bestandteile
seiner musikalischen Natur kennen lernen will, nichts weiter übrig bleiben, als
den Prolog in seinen Teilen zu prüfen.

Die Jnstrumentaleinleitung läßt sich vielversprechend an. Sie beginnt in
lebhaft energischem Dreiachteltakt und stürzt sich alsbald in eine Reihe har-


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[0237] Moderne Gpern Fehler der Gesamtanlage. Schon daß ein Bajazzo zum Mittelpunkte einer tragischen Handlung gemacht wird, ist bedenklich, da die Gefahr, sich ins Krasse zu verlieren, dadurch verzehnfacht wird. Ganz schlimm aber wird die Sache vollends, wenn man dem Bajazzo alle tragischen Merkmale nimmt und ihn lediglich zum Träger eines traurigen Geschicks macht. Canio ist ein Ehren¬ mann, er wird betrogen, ersticht, wie sich das in Italien gehört, Frau und Liebhaber und steht am Schluß da als ein gebrochner, unglücklicher Mensch, den fremde Schuld des besten Inhalts seines Lebens beraubt hat. Das ist zwar sehr traurig, aber doch nichts weniger als tragisch. Wir begegnen dieser Verwechslung des Traurigen und des Tragischen in der modernen Kunst auf Schritt und Tritt. Leider ist hier nicht der Ort, sich eingehend darüber aus¬ zusprechen. Soviel ist sicher, daß das Zerrissene und Unbefriedigende der Gesamtwirkung des Bajazzo wie vieler modernen sogenannten Tragödien vor allem auf diese Ersetzung des Tragischen durch das Traurige zurückzuführen ist, Ähnlich wie Mascagni in sein Vorspiel Turiddus Stündchen verflicht, fügt Leoncavallo seiner musikalischen Introduktion einen Prolog ein. Die Ähnlichkeit ist aber nur eine äußerliche. Während Turiddus Ständchen mit der Handlung der Oper in unmittelbarem Zusammenhange steht, ist Leonccivallos Prolog eine Art ästhetischer Vorlesung, die der Dichter zur Aufklärung und Belehrung seiner Hörer vorausschicken zu müssen glaubt. Warum mit dieser Aufgabe gerade der Tölpel Tonio betraut wird, ist nicht recht klar — viel¬ leicht ist es in unbewußter Selbstkritik geschehen, denn die ästhetische Weis¬ heit, die Leoncavallo bei dieser Gelegenheit zum besten giebt, ist mehr als zweifelhafter Art. Er thut sich sehr viel darauf zu gute, daß sein Bühnen¬ werk eine „wahrhafte" Begebenheit darstelle, wie er denn auch nicht vergißt, den Tag des wirklichen Geschehens ausdrücklich anzugeben. Für diese Art von »Realismus" läßt er nun seinen Prolog Propaganda machen. Bei uns in Deutschland ist ein solcher Standpunkt nur noch in den Schaubuden der Jahrmärkte und in Kolportageromanen denkbar. Selbst die Schlußbeteuerung des Prologs, daß auch in der Brust des Gauklers ein warmes Herz schlage, sowie der tiefsinnige Hinweis, daß wir alle auf Erden in demselben Lichte wandeln, vermag uns nicht zu rühren. Mit der dichterischen Grundlage des so viel gesungnen Prologs steht es also schlecht. Wie aber verhält sich dazu die Musik? Das ist uicht mit einem Worte zu sagen, denn Leoncavallo tritt uns sofort in ganzer Gestalt entgegen, mit seinen Vorzügen, seinen Fehlern und seinen Widersprüchen. Es wird daher, wenn man die einzelnen Bestandteile seiner musikalischen Natur kennen lernen will, nichts weiter übrig bleiben, als den Prolog in seinen Teilen zu prüfen. Die Jnstrumentaleinleitung läßt sich vielversprechend an. Sie beginnt in lebhaft energischem Dreiachteltakt und stürzt sich alsbald in eine Reihe har-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/237>, abgerufen am 22.12.2024.