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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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gern nachahmen," und der Weisung des alten Pythagoras, der seinen Schülern
geradezu untersagt hatte, fremde Sprachen zu lernen. Wie grundverschieden
von dieser griechischen Auffassung die der germanischen Völker schon von ältester
Zeit an gewesen ist, lehrt die Edda. Da wird der künftige Besitz höchster
Glückseligkeit so prophezeit:


Sie wird dich Recken Runen lehren,
Die sämtliche Menschen besitzen möchten,
Dazu auch fremder Völker Sprachen,
Und die Gabe der Heilkunst -- sei glücklich, Herrscher.

(Schluß folgt)




Moderne Gpern
Von Paul lNoos (Fortsetzung)

icht ganz so günstig kann das Urteil lauten über Leoneavallos
Bajazzo. Leoncavallo hat, den Spuren Richard Wagners fol¬
gend, den Text zu seiner Oper selbst geschrieben. Warum auch
nicht? Ohne gerade Dichter zu sein, hat Leoncavallo die Fähig¬
keit, eine Handlung bühnenmäßig anzulegen, straff zu entwickeln
und dramatisch wirksam zu Ende zu führen. In der Zahl der gut angelegten
Charaktere steht der Bajazzo allerdings hinter der Cavalleria zurück, deren
Gestalten sämtlich wenigstens einen Hauch individuellen Lebens haben. Bei
Leoncavallo kann nur eine Gestalt als gelungen bezeichnet werden, das ist
Canio, der Bajazzo selbst, der nur für einen wandernden italienischen Komö¬
dianten vielleicht zu sehr Gentleman ist. Nedda, sein Weib, hat wenig indi¬
viduelles. Sie ist mit der obligaten Theateruntrene behaftet, neigt erst zur
Sentimentalität und wird schließlich zur wilden Katze, die lieber zu Grunde
geht, als daß sie nachgiebt. Silvio ist der unumgänglich nötige Liebhaber,
Tonio aber ist dichterisch und musikalisch unklar: so spricht und singt kein
Tölpel. Der Gedanke, zum Schluß die Vorgänge des Lebens und der Bühne
zu vermengen, ist originell und hat jedenfalls viel zum Erfolge der Oper
beigetragen, wenn man auch nicht allzu gründlich darüber nachdenken darf,
ob es wahrscheinlich sei, daß sich ein Mann wie Canio dazu verstehen werde,
Komödie zu spielen, anstatt sich sofort mit seinem Weibe auseinanderzusetzen.
Doch derartige Unebenheiten finden sich ja überall. Viel schwerer wiegt ein


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gern nachahmen," und der Weisung des alten Pythagoras, der seinen Schülern
geradezu untersagt hatte, fremde Sprachen zu lernen. Wie grundverschieden
von dieser griechischen Auffassung die der germanischen Völker schon von ältester
Zeit an gewesen ist, lehrt die Edda. Da wird der künftige Besitz höchster
Glückseligkeit so prophezeit:


Sie wird dich Recken Runen lehren,
Die sämtliche Menschen besitzen möchten,
Dazu auch fremder Völker Sprachen,
Und die Gabe der Heilkunst — sei glücklich, Herrscher.

(Schluß folgt)




Moderne Gpern
Von Paul lNoos (Fortsetzung)

icht ganz so günstig kann das Urteil lauten über Leoneavallos
Bajazzo. Leoncavallo hat, den Spuren Richard Wagners fol¬
gend, den Text zu seiner Oper selbst geschrieben. Warum auch
nicht? Ohne gerade Dichter zu sein, hat Leoncavallo die Fähig¬
keit, eine Handlung bühnenmäßig anzulegen, straff zu entwickeln
und dramatisch wirksam zu Ende zu führen. In der Zahl der gut angelegten
Charaktere steht der Bajazzo allerdings hinter der Cavalleria zurück, deren
Gestalten sämtlich wenigstens einen Hauch individuellen Lebens haben. Bei
Leoncavallo kann nur eine Gestalt als gelungen bezeichnet werden, das ist
Canio, der Bajazzo selbst, der nur für einen wandernden italienischen Komö¬
dianten vielleicht zu sehr Gentleman ist. Nedda, sein Weib, hat wenig indi¬
viduelles. Sie ist mit der obligaten Theateruntrene behaftet, neigt erst zur
Sentimentalität und wird schließlich zur wilden Katze, die lieber zu Grunde
geht, als daß sie nachgiebt. Silvio ist der unumgänglich nötige Liebhaber,
Tonio aber ist dichterisch und musikalisch unklar: so spricht und singt kein
Tölpel. Der Gedanke, zum Schluß die Vorgänge des Lebens und der Bühne
zu vermengen, ist originell und hat jedenfalls viel zum Erfolge der Oper
beigetragen, wenn man auch nicht allzu gründlich darüber nachdenken darf,
ob es wahrscheinlich sei, daß sich ein Mann wie Canio dazu verstehen werde,
Komödie zu spielen, anstatt sich sofort mit seinem Weibe auseinanderzusetzen.
Doch derartige Unebenheiten finden sich ja überall. Viel schwerer wiegt ein


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[0236] Moderne Gpern gern nachahmen," und der Weisung des alten Pythagoras, der seinen Schülern geradezu untersagt hatte, fremde Sprachen zu lernen. Wie grundverschieden von dieser griechischen Auffassung die der germanischen Völker schon von ältester Zeit an gewesen ist, lehrt die Edda. Da wird der künftige Besitz höchster Glückseligkeit so prophezeit: Sie wird dich Recken Runen lehren, Die sämtliche Menschen besitzen möchten, Dazu auch fremder Völker Sprachen, Und die Gabe der Heilkunst — sei glücklich, Herrscher. (Schluß folgt) Moderne Gpern Von Paul lNoos (Fortsetzung) icht ganz so günstig kann das Urteil lauten über Leoneavallos Bajazzo. Leoncavallo hat, den Spuren Richard Wagners fol¬ gend, den Text zu seiner Oper selbst geschrieben. Warum auch nicht? Ohne gerade Dichter zu sein, hat Leoncavallo die Fähig¬ keit, eine Handlung bühnenmäßig anzulegen, straff zu entwickeln und dramatisch wirksam zu Ende zu führen. In der Zahl der gut angelegten Charaktere steht der Bajazzo allerdings hinter der Cavalleria zurück, deren Gestalten sämtlich wenigstens einen Hauch individuellen Lebens haben. Bei Leoncavallo kann nur eine Gestalt als gelungen bezeichnet werden, das ist Canio, der Bajazzo selbst, der nur für einen wandernden italienischen Komö¬ dianten vielleicht zu sehr Gentleman ist. Nedda, sein Weib, hat wenig indi¬ viduelles. Sie ist mit der obligaten Theateruntrene behaftet, neigt erst zur Sentimentalität und wird schließlich zur wilden Katze, die lieber zu Grunde geht, als daß sie nachgiebt. Silvio ist der unumgänglich nötige Liebhaber, Tonio aber ist dichterisch und musikalisch unklar: so spricht und singt kein Tölpel. Der Gedanke, zum Schluß die Vorgänge des Lebens und der Bühne zu vermengen, ist originell und hat jedenfalls viel zum Erfolge der Oper beigetragen, wenn man auch nicht allzu gründlich darüber nachdenken darf, ob es wahrscheinlich sei, daß sich ein Mann wie Canio dazu verstehen werde, Komödie zu spielen, anstatt sich sofort mit seinem Weibe auseinanderzusetzen. Doch derartige Unebenheiten finden sich ja überall. Viel schwerer wiegt ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/236>, abgerufen am 30.08.2024.