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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Knabenerziehüng und Riiabenunterricht im alten lsellas

teilen im wissenschaftlichen Unterricht von Anfang Ins zu Ende festgehalten
haben. Dieser Grundsatz findet seinen Ausdruck bereits in dem Spruch des
ionischen Weltweisen Heraklit: Vielwisser belehrt den Geist nicht. Ihm huldigen
Plato, Aristoteles, Diogenes und wer sonst über Erziehung geschrieben'öder
sich geäußert hat. Es ist besser, ein Ding wohl gelernt zu haben, als sich
mit vielen äußerlich zu behängen, lautet der Spruch eines Komödiendichters,
der den Herausgeber der Fragmente der griechischen Komiker, den Philologen
Meineke im Jahre 1842 zu einer schwungvollen Lobrede in klassischem Latein
auf die griechische Weisheit gegenüber moderner Unwcisheit in diesem Punkte
begeisterthat.

Freilich, wie in so vielen Dingen waren die Hellenen auch darin vor
andern Völkern in hohem Grade begünstigt, daß sie jenen einheitlichen, all¬
gemein anerkannten Mittelpunkt des Unterrichts, um den sich alles natürlich
und ungezwungen gruppiren soll, jenen Mittelpunkt, den die moderne Schule
seit langem mit heißem Bemühe" sucht, in ihrem Homer thatsächlich hatten.
Hvmerlektüre und Homererklärung beherrschte den Elementarunterricht des
Grammatisten wie den höhern Unterricht des Sophisten und Grammatikers.
An Homer lernte der Knabe lesen und schreiben; Homer bildete die Unterlage
für seine Rede- und Denkübungen; Homer war und blieb jederzeit die Haupt¬
quelle seiner grammatischen, ästhetischen, litterarischen, mythologischen, geschicht¬
lichen, geographischen und naturgeschichtlichen Kenntnisse. Ihn deklamirte er
in der Schule vor dem Lehrer, zu Hause vor dem Vater, bei festlichen Zu¬
sammenkünften vor den Freunden des Hauses. Ihn so inne zu haben , daß
er an jeder beliebigen Stelle einsetzen und seinen Vordermann im Deklamiren
ablösen konnte, war eine seiner Hauptleistungen bei Schulprüfungen und Schul¬
festen. Angeben zu können, in welchem Homerverse ein bestimmtes Wort vor¬
kommt, oder bei der Erwähnung eines Versanfangs sofort den ganzen Vers
hersagen zu können, war seine Kurzweil in der Gesellschaft gleichaltriger
Spielgenossen. Hochangesehene Athener wiesen ihre Söhne an, den Homer
oder wenigstens die Ilias auswendig zu lernen, und diese freuen sich später
als Männer dieser Fertigkeit als ihres höchsten Ruhmestitels. Alexander der
Große und der makedonische König Kassander konnten die ganze Ilias und
einen großen Teil der Odyssee hersagen. Und als der unter Trajan lebende
Rhetor Dio Chrysostomos nach den südrussischen Steppen in eine von skal-
pirenden Skythenhorden umdrängte griechische Kolonialstadt kommt, da trifft
er in skythischer Bewaffnung und Kleidung einen achtzehnjährigen Jüngling
aus einem dort angesehenen Hause, der wie alle Bewohner der Stadt ein
Freund des Homer ist und wie seine Landsleute, trotz ihrer halbbarbarischen
Sprache, den Homer auswendig weiß. Ja Homer bildete wirklich "Mitte, Ende
und Anfang für jeden Knaben, jeden Mann und jeden Greis," und das seit
den Tagey Solons bis in die Zeiten der Konstantine herab; er gab dem


Knabenerziehüng und Riiabenunterricht im alten lsellas

teilen im wissenschaftlichen Unterricht von Anfang Ins zu Ende festgehalten
haben. Dieser Grundsatz findet seinen Ausdruck bereits in dem Spruch des
ionischen Weltweisen Heraklit: Vielwisser belehrt den Geist nicht. Ihm huldigen
Plato, Aristoteles, Diogenes und wer sonst über Erziehung geschrieben'öder
sich geäußert hat. Es ist besser, ein Ding wohl gelernt zu haben, als sich
mit vielen äußerlich zu behängen, lautet der Spruch eines Komödiendichters,
der den Herausgeber der Fragmente der griechischen Komiker, den Philologen
Meineke im Jahre 1842 zu einer schwungvollen Lobrede in klassischem Latein
auf die griechische Weisheit gegenüber moderner Unwcisheit in diesem Punkte
begeisterthat.

Freilich, wie in so vielen Dingen waren die Hellenen auch darin vor
andern Völkern in hohem Grade begünstigt, daß sie jenen einheitlichen, all¬
gemein anerkannten Mittelpunkt des Unterrichts, um den sich alles natürlich
und ungezwungen gruppiren soll, jenen Mittelpunkt, den die moderne Schule
seit langem mit heißem Bemühe» sucht, in ihrem Homer thatsächlich hatten.
Hvmerlektüre und Homererklärung beherrschte den Elementarunterricht des
Grammatisten wie den höhern Unterricht des Sophisten und Grammatikers.
An Homer lernte der Knabe lesen und schreiben; Homer bildete die Unterlage
für seine Rede- und Denkübungen; Homer war und blieb jederzeit die Haupt¬
quelle seiner grammatischen, ästhetischen, litterarischen, mythologischen, geschicht¬
lichen, geographischen und naturgeschichtlichen Kenntnisse. Ihn deklamirte er
in der Schule vor dem Lehrer, zu Hause vor dem Vater, bei festlichen Zu¬
sammenkünften vor den Freunden des Hauses. Ihn so inne zu haben , daß
er an jeder beliebigen Stelle einsetzen und seinen Vordermann im Deklamiren
ablösen konnte, war eine seiner Hauptleistungen bei Schulprüfungen und Schul¬
festen. Angeben zu können, in welchem Homerverse ein bestimmtes Wort vor¬
kommt, oder bei der Erwähnung eines Versanfangs sofort den ganzen Vers
hersagen zu können, war seine Kurzweil in der Gesellschaft gleichaltriger
Spielgenossen. Hochangesehene Athener wiesen ihre Söhne an, den Homer
oder wenigstens die Ilias auswendig zu lernen, und diese freuen sich später
als Männer dieser Fertigkeit als ihres höchsten Ruhmestitels. Alexander der
Große und der makedonische König Kassander konnten die ganze Ilias und
einen großen Teil der Odyssee hersagen. Und als der unter Trajan lebende
Rhetor Dio Chrysostomos nach den südrussischen Steppen in eine von skal-
pirenden Skythenhorden umdrängte griechische Kolonialstadt kommt, da trifft
er in skythischer Bewaffnung und Kleidung einen achtzehnjährigen Jüngling
aus einem dort angesehenen Hause, der wie alle Bewohner der Stadt ein
Freund des Homer ist und wie seine Landsleute, trotz ihrer halbbarbarischen
Sprache, den Homer auswendig weiß. Ja Homer bildete wirklich „Mitte, Ende
und Anfang für jeden Knaben, jeden Mann und jeden Greis," und das seit
den Tagey Solons bis in die Zeiten der Konstantine herab; er gab dem


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[0234] Knabenerziehüng und Riiabenunterricht im alten lsellas teilen im wissenschaftlichen Unterricht von Anfang Ins zu Ende festgehalten haben. Dieser Grundsatz findet seinen Ausdruck bereits in dem Spruch des ionischen Weltweisen Heraklit: Vielwisser belehrt den Geist nicht. Ihm huldigen Plato, Aristoteles, Diogenes und wer sonst über Erziehung geschrieben'öder sich geäußert hat. Es ist besser, ein Ding wohl gelernt zu haben, als sich mit vielen äußerlich zu behängen, lautet der Spruch eines Komödiendichters, der den Herausgeber der Fragmente der griechischen Komiker, den Philologen Meineke im Jahre 1842 zu einer schwungvollen Lobrede in klassischem Latein auf die griechische Weisheit gegenüber moderner Unwcisheit in diesem Punkte begeisterthat. Freilich, wie in so vielen Dingen waren die Hellenen auch darin vor andern Völkern in hohem Grade begünstigt, daß sie jenen einheitlichen, all¬ gemein anerkannten Mittelpunkt des Unterrichts, um den sich alles natürlich und ungezwungen gruppiren soll, jenen Mittelpunkt, den die moderne Schule seit langem mit heißem Bemühe» sucht, in ihrem Homer thatsächlich hatten. Hvmerlektüre und Homererklärung beherrschte den Elementarunterricht des Grammatisten wie den höhern Unterricht des Sophisten und Grammatikers. An Homer lernte der Knabe lesen und schreiben; Homer bildete die Unterlage für seine Rede- und Denkübungen; Homer war und blieb jederzeit die Haupt¬ quelle seiner grammatischen, ästhetischen, litterarischen, mythologischen, geschicht¬ lichen, geographischen und naturgeschichtlichen Kenntnisse. Ihn deklamirte er in der Schule vor dem Lehrer, zu Hause vor dem Vater, bei festlichen Zu¬ sammenkünften vor den Freunden des Hauses. Ihn so inne zu haben , daß er an jeder beliebigen Stelle einsetzen und seinen Vordermann im Deklamiren ablösen konnte, war eine seiner Hauptleistungen bei Schulprüfungen und Schul¬ festen. Angeben zu können, in welchem Homerverse ein bestimmtes Wort vor¬ kommt, oder bei der Erwähnung eines Versanfangs sofort den ganzen Vers hersagen zu können, war seine Kurzweil in der Gesellschaft gleichaltriger Spielgenossen. Hochangesehene Athener wiesen ihre Söhne an, den Homer oder wenigstens die Ilias auswendig zu lernen, und diese freuen sich später als Männer dieser Fertigkeit als ihres höchsten Ruhmestitels. Alexander der Große und der makedonische König Kassander konnten die ganze Ilias und einen großen Teil der Odyssee hersagen. Und als der unter Trajan lebende Rhetor Dio Chrysostomos nach den südrussischen Steppen in eine von skal- pirenden Skythenhorden umdrängte griechische Kolonialstadt kommt, da trifft er in skythischer Bewaffnung und Kleidung einen achtzehnjährigen Jüngling aus einem dort angesehenen Hause, der wie alle Bewohner der Stadt ein Freund des Homer ist und wie seine Landsleute, trotz ihrer halbbarbarischen Sprache, den Homer auswendig weiß. Ja Homer bildete wirklich „Mitte, Ende und Anfang für jeden Knaben, jeden Mann und jeden Greis," und das seit den Tagey Solons bis in die Zeiten der Konstantine herab; er gab dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/234>, abgerufen am 30.08.2024.