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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Kuabeuerziehung und Knabenunterricht im alten Hellas

Wenn auch 7^"^,<a?,.x^ zunächst nur "die mechanische, zum Lesen
und Schreiben notwendige Kenntnis der Buchstaben" bedeutet, so ging doch
dieser reine Elementarunterricht sehr bald über den entsprechenden Unterricht
unsrer Volksschule hinaus. Aller Lesestoff war den gefeiertsten Dichtern, be¬
sonders dem Homer entlehnt, und das Gelesene wurde sofort dem Gedächtnis
eingeprägt. War doch die Schulung und Stärkung der Gedächtniskraft ein Ziel,
das der griechische Unterricht nie aus dem Auge verlor. Schon Pythcigoras
hatte seinen Schülern tägliche Gedächtnisübungen vorgeschrieben, und später
wurde, angeblich von Simonides, eine eigne Erinnerungstunst, die Mnemo¬
technik, erfunden und fleißig gepflegt. Beim Lesen aber sah man in erster
Linie auf richtige und deutliche Aussprache, auf angemessene Betonung und
aus Ausbildung eines angenehmen, klangreichen Organs. Diese Sorgfalt, bei
der der Leseunterricht allerdings längere Zeit in Anspruch nahm, als wir
dafür übrig zu haben glauben, schuf, unterstützt von dem, was im Musik¬
unterrichte gewonnen wurde, jenes feine Sprachgefühl und jene Empfindlichkeit
des attischen Ohrs gegen Verstöße wider korrekte und deutliche Aussprache,
von der wir uns kaum eine Vorstellung machen können. Wehe dem Redner
oder gar dem Schauspieler, dem solch ein Versehen begegnete! Er verfiel un¬
rettbar dem Spott der Komödie, auch wenn es nur ein armseliger Apostroph
war, den er nicht genügend beachtet hatte. Auch die schöne Sitte ätherischer
Eltern wie der des Lysis, sich vom Sohne vorlesen zu lassen, war in dieser
Hinsicht gewiß von heilsamem Einfluß.

Wie beim Leseunterricht durchweg Verse den Übungen zu Grunde gelegt
wurden, indem der Lehrer zuerst vorlas, und der Schüler das Wiedergelesene
sofort auswendig lerute und dann vom Lehrer überhört wurde, so verfuhr
man auch beim Schreiben. Viel zu schreiben freilich und lange Diktate oder
Aufsätze zu fertigen verbot schon der teure Preis des Papiers und des sonstigen
Schreibmaterials. So nahm z. B. der junge Kleanthes, weil er bei seiner
Armut kein Papier erschwingen konnte, Tierknochen zu Hilfe, um sich darauf
Notizen zu machen. Ganze Gedichte, die in der Schule gebraucht wurden,
schrieben sich die Knaben gelegentlich wohl selbst ab, natürlich zugleich ein
treffliches Mittel, sich den Inhalt anzueignen. Aus dem letzten Grnnde soll
sich Demosthenes, der doch nicht unvermögend war, das ganze Geschichtswerk
des Thukydides -- sechshundert Oktavdruckseiten bei Teubner! -- achtmal ab¬
geschrieben haben; freilich wurde er wegen seiner Kränklichkeit zu Hause unter-
richtet und konnte an den gymnastischen Übungen und den Vergnügungen seiner
Altersgenossen nicht teilnehmen. Im allgemeinen begnügte sich der Lehrer mit
kurzen Diktaten, Merkversen, die man mit Vorliebe aus den Komödien Me-
nnnders, aus den Tragödien oder aus Homer nahm; die schrieben die Schüler
nach und lernten sie dann auswendig. Auf einem Holztäfelchen aus Ägypten
ist noch ein solches Diktat in der Nachschrift eines Knaben zu lesen:


Kuabeuerziehung und Knabenunterricht im alten Hellas

Wenn auch 7^«^,<a?,.x^ zunächst nur „die mechanische, zum Lesen
und Schreiben notwendige Kenntnis der Buchstaben" bedeutet, so ging doch
dieser reine Elementarunterricht sehr bald über den entsprechenden Unterricht
unsrer Volksschule hinaus. Aller Lesestoff war den gefeiertsten Dichtern, be¬
sonders dem Homer entlehnt, und das Gelesene wurde sofort dem Gedächtnis
eingeprägt. War doch die Schulung und Stärkung der Gedächtniskraft ein Ziel,
das der griechische Unterricht nie aus dem Auge verlor. Schon Pythcigoras
hatte seinen Schülern tägliche Gedächtnisübungen vorgeschrieben, und später
wurde, angeblich von Simonides, eine eigne Erinnerungstunst, die Mnemo¬
technik, erfunden und fleißig gepflegt. Beim Lesen aber sah man in erster
Linie auf richtige und deutliche Aussprache, auf angemessene Betonung und
aus Ausbildung eines angenehmen, klangreichen Organs. Diese Sorgfalt, bei
der der Leseunterricht allerdings längere Zeit in Anspruch nahm, als wir
dafür übrig zu haben glauben, schuf, unterstützt von dem, was im Musik¬
unterrichte gewonnen wurde, jenes feine Sprachgefühl und jene Empfindlichkeit
des attischen Ohrs gegen Verstöße wider korrekte und deutliche Aussprache,
von der wir uns kaum eine Vorstellung machen können. Wehe dem Redner
oder gar dem Schauspieler, dem solch ein Versehen begegnete! Er verfiel un¬
rettbar dem Spott der Komödie, auch wenn es nur ein armseliger Apostroph
war, den er nicht genügend beachtet hatte. Auch die schöne Sitte ätherischer
Eltern wie der des Lysis, sich vom Sohne vorlesen zu lassen, war in dieser
Hinsicht gewiß von heilsamem Einfluß.

Wie beim Leseunterricht durchweg Verse den Übungen zu Grunde gelegt
wurden, indem der Lehrer zuerst vorlas, und der Schüler das Wiedergelesene
sofort auswendig lerute und dann vom Lehrer überhört wurde, so verfuhr
man auch beim Schreiben. Viel zu schreiben freilich und lange Diktate oder
Aufsätze zu fertigen verbot schon der teure Preis des Papiers und des sonstigen
Schreibmaterials. So nahm z. B. der junge Kleanthes, weil er bei seiner
Armut kein Papier erschwingen konnte, Tierknochen zu Hilfe, um sich darauf
Notizen zu machen. Ganze Gedichte, die in der Schule gebraucht wurden,
schrieben sich die Knaben gelegentlich wohl selbst ab, natürlich zugleich ein
treffliches Mittel, sich den Inhalt anzueignen. Aus dem letzten Grnnde soll
sich Demosthenes, der doch nicht unvermögend war, das ganze Geschichtswerk
des Thukydides — sechshundert Oktavdruckseiten bei Teubner! — achtmal ab¬
geschrieben haben; freilich wurde er wegen seiner Kränklichkeit zu Hause unter-
richtet und konnte an den gymnastischen Übungen und den Vergnügungen seiner
Altersgenossen nicht teilnehmen. Im allgemeinen begnügte sich der Lehrer mit
kurzen Diktaten, Merkversen, die man mit Vorliebe aus den Komödien Me-
nnnders, aus den Tragödien oder aus Homer nahm; die schrieben die Schüler
nach und lernten sie dann auswendig. Auf einem Holztäfelchen aus Ägypten
ist noch ein solches Diktat in der Nachschrift eines Knaben zu lesen:


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[0232] Kuabeuerziehung und Knabenunterricht im alten Hellas Wenn auch 7^«^,<a?,.x^ zunächst nur „die mechanische, zum Lesen und Schreiben notwendige Kenntnis der Buchstaben" bedeutet, so ging doch dieser reine Elementarunterricht sehr bald über den entsprechenden Unterricht unsrer Volksschule hinaus. Aller Lesestoff war den gefeiertsten Dichtern, be¬ sonders dem Homer entlehnt, und das Gelesene wurde sofort dem Gedächtnis eingeprägt. War doch die Schulung und Stärkung der Gedächtniskraft ein Ziel, das der griechische Unterricht nie aus dem Auge verlor. Schon Pythcigoras hatte seinen Schülern tägliche Gedächtnisübungen vorgeschrieben, und später wurde, angeblich von Simonides, eine eigne Erinnerungstunst, die Mnemo¬ technik, erfunden und fleißig gepflegt. Beim Lesen aber sah man in erster Linie auf richtige und deutliche Aussprache, auf angemessene Betonung und aus Ausbildung eines angenehmen, klangreichen Organs. Diese Sorgfalt, bei der der Leseunterricht allerdings längere Zeit in Anspruch nahm, als wir dafür übrig zu haben glauben, schuf, unterstützt von dem, was im Musik¬ unterrichte gewonnen wurde, jenes feine Sprachgefühl und jene Empfindlichkeit des attischen Ohrs gegen Verstöße wider korrekte und deutliche Aussprache, von der wir uns kaum eine Vorstellung machen können. Wehe dem Redner oder gar dem Schauspieler, dem solch ein Versehen begegnete! Er verfiel un¬ rettbar dem Spott der Komödie, auch wenn es nur ein armseliger Apostroph war, den er nicht genügend beachtet hatte. Auch die schöne Sitte ätherischer Eltern wie der des Lysis, sich vom Sohne vorlesen zu lassen, war in dieser Hinsicht gewiß von heilsamem Einfluß. Wie beim Leseunterricht durchweg Verse den Übungen zu Grunde gelegt wurden, indem der Lehrer zuerst vorlas, und der Schüler das Wiedergelesene sofort auswendig lerute und dann vom Lehrer überhört wurde, so verfuhr man auch beim Schreiben. Viel zu schreiben freilich und lange Diktate oder Aufsätze zu fertigen verbot schon der teure Preis des Papiers und des sonstigen Schreibmaterials. So nahm z. B. der junge Kleanthes, weil er bei seiner Armut kein Papier erschwingen konnte, Tierknochen zu Hilfe, um sich darauf Notizen zu machen. Ganze Gedichte, die in der Schule gebraucht wurden, schrieben sich die Knaben gelegentlich wohl selbst ab, natürlich zugleich ein treffliches Mittel, sich den Inhalt anzueignen. Aus dem letzten Grnnde soll sich Demosthenes, der doch nicht unvermögend war, das ganze Geschichtswerk des Thukydides — sechshundert Oktavdruckseiten bei Teubner! — achtmal ab¬ geschrieben haben; freilich wurde er wegen seiner Kränklichkeit zu Hause unter- richtet und konnte an den gymnastischen Übungen und den Vergnügungen seiner Altersgenossen nicht teilnehmen. Im allgemeinen begnügte sich der Lehrer mit kurzen Diktaten, Merkversen, die man mit Vorliebe aus den Komödien Me- nnnders, aus den Tragödien oder aus Homer nahm; die schrieben die Schüler nach und lernten sie dann auswendig. Auf einem Holztäfelchen aus Ägypten ist noch ein solches Diktat in der Nachschrift eines Knaben zu lesen:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/232>, abgerufen am 30.08.2024.