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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Unabenerziehung und Rnabennnterricht im alten Hellas

auf die Kithara oder Leier und den Gesang. Die Knaben sollten lernen, sich
beim Singen selbst mit der Kithara zu begleiten. Gern ließen sich die Eltern
nach Tische von ihren Söhnen etwas vorsingen und vorspielen. Aber auch
bei geselligen Vereinigungen Erwachsener wurde die Kithara herumgegeben,
damit jeder ein Gesellschnftslied, ein Skolion, zum besten gäbe, und wer, wie
der junge Themistokles, das nicht vermochte, erregte Befremden. Also auch
in diesem Unterrichtsgegenstände war das Ziel nicht Vielkönnen und Vielwisser,
sondern die gleichmäßige Durchbildung aller Geistes- und Körperkräfte (e^vA-
/Ut" und e^"^/,c>a^'t"), und jene Wohlaustündigkeit (evxoo^t/"), der alles
Unschöne ein Abscheu ist. Dabei verdankte aber der junge Athener diesem
Kithara- und Gesangunterricht eine frühe Vertrautheit mit der Rhythmik und
Metrik seiner Muttersprache, er lernte in frühster Jugend schon die lyrischen
Dichtungen seines Volkes auswendig. Denn weit enger als bei uns war die
Lyrik mit der Musik verbunden. Nicht nur jedes lyrische Gedicht war in
Musik gesetzt, sondern auch die zahlreichen Spruchdichtungen, die 7,^"/^ wie
selbst Hesiods Tage und Werke, wurden eigentlich mehr gesungen als deklamirt,
ebenso die Elegien des Phokylides, Theoanis, Solon, Simonides, selbstver¬
ständlich auch die Gedichte der eigentlichen Lyriker wie Anakreon und später
auch Chvirilos und Kallimachos, endlich die zahlreichen Dithyramben, Hymnen
und Püane. Jeder griechische Stamm hatte seine Lieblingsdichter, deren Werke
der Jugend zeitig eingeprägt wurden, Sparta z. B. seinen Tyrtäos und
Alkman. Selbst Gesetze, wie die angeblich von Minos stammenden der Kreter
und die des Charondas, waren metrisch abgefaßt, in Musik gesetzt und wurden
im Gesang eingeprägt. Dabei stattete namentlich die Spruchdichtung, z. B.
eines Theognis und Phokylides, den Knaben mit einem Schatz trefflicher
Lehren aus, die ihm später im Leben bei den unausbleiblichen Konflikten
zwischen Pflicht und Leidenschaft einen sittlichen Halt gewähren konnten. Denn
um sie später im Leben anzuwenden, sagt der Redner Äschines, lernen wir
in der Jugend Gedichte; für den Griechen waren die Dichter in Wahrheit
"Väter und Führer der Weisheit." Wenn am dritten Tage des athenischen
Apaturienfestes die Stammgenossen mit ihren Familien im Hause des an¬
gesehensten unter ihnen zusammen kamen, setzten die Väter ihren Söhnen
Preise aus für den mit Musik begleiteten Gcsangvortrag von Gedichten uach
eigner Wahl, wobei dann von den Knaben besonders neuere, noch nicht allgemein
bekannte Dichtungen bevorzugt wurden. "In Gedichten stark sein macht einen
großen Teil der Bildung aus," sagt Protagoras bei Plato. Daher lernte
die Jugend teils ganze Dichter, teils aus Dichtern zusammengestellte Chresto¬
mathien auswendig.

sorgte so der musikalische Unterricht für eine frühe Erlernung der
religiösen, lyrischen und Spruchdichtung, so führte der Lese- und Schreib¬
unterricht zu ähnlichen Ergebnissen auf andern Gebieten der Dichtkunst. Denn


Unabenerziehung und Rnabennnterricht im alten Hellas

auf die Kithara oder Leier und den Gesang. Die Knaben sollten lernen, sich
beim Singen selbst mit der Kithara zu begleiten. Gern ließen sich die Eltern
nach Tische von ihren Söhnen etwas vorsingen und vorspielen. Aber auch
bei geselligen Vereinigungen Erwachsener wurde die Kithara herumgegeben,
damit jeder ein Gesellschnftslied, ein Skolion, zum besten gäbe, und wer, wie
der junge Themistokles, das nicht vermochte, erregte Befremden. Also auch
in diesem Unterrichtsgegenstände war das Ziel nicht Vielkönnen und Vielwisser,
sondern die gleichmäßige Durchbildung aller Geistes- und Körperkräfte (e^vA-
/Ut« und e^«^/,c>a^'t«), und jene Wohlaustündigkeit (evxoo^t/«), der alles
Unschöne ein Abscheu ist. Dabei verdankte aber der junge Athener diesem
Kithara- und Gesangunterricht eine frühe Vertrautheit mit der Rhythmik und
Metrik seiner Muttersprache, er lernte in frühster Jugend schon die lyrischen
Dichtungen seines Volkes auswendig. Denn weit enger als bei uns war die
Lyrik mit der Musik verbunden. Nicht nur jedes lyrische Gedicht war in
Musik gesetzt, sondern auch die zahlreichen Spruchdichtungen, die 7,^«/^ wie
selbst Hesiods Tage und Werke, wurden eigentlich mehr gesungen als deklamirt,
ebenso die Elegien des Phokylides, Theoanis, Solon, Simonides, selbstver¬
ständlich auch die Gedichte der eigentlichen Lyriker wie Anakreon und später
auch Chvirilos und Kallimachos, endlich die zahlreichen Dithyramben, Hymnen
und Püane. Jeder griechische Stamm hatte seine Lieblingsdichter, deren Werke
der Jugend zeitig eingeprägt wurden, Sparta z. B. seinen Tyrtäos und
Alkman. Selbst Gesetze, wie die angeblich von Minos stammenden der Kreter
und die des Charondas, waren metrisch abgefaßt, in Musik gesetzt und wurden
im Gesang eingeprägt. Dabei stattete namentlich die Spruchdichtung, z. B.
eines Theognis und Phokylides, den Knaben mit einem Schatz trefflicher
Lehren aus, die ihm später im Leben bei den unausbleiblichen Konflikten
zwischen Pflicht und Leidenschaft einen sittlichen Halt gewähren konnten. Denn
um sie später im Leben anzuwenden, sagt der Redner Äschines, lernen wir
in der Jugend Gedichte; für den Griechen waren die Dichter in Wahrheit
„Väter und Führer der Weisheit." Wenn am dritten Tage des athenischen
Apaturienfestes die Stammgenossen mit ihren Familien im Hause des an¬
gesehensten unter ihnen zusammen kamen, setzten die Väter ihren Söhnen
Preise aus für den mit Musik begleiteten Gcsangvortrag von Gedichten uach
eigner Wahl, wobei dann von den Knaben besonders neuere, noch nicht allgemein
bekannte Dichtungen bevorzugt wurden. „In Gedichten stark sein macht einen
großen Teil der Bildung aus," sagt Protagoras bei Plato. Daher lernte
die Jugend teils ganze Dichter, teils aus Dichtern zusammengestellte Chresto¬
mathien auswendig.

sorgte so der musikalische Unterricht für eine frühe Erlernung der
religiösen, lyrischen und Spruchdichtung, so führte der Lese- und Schreib¬
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[0231] Unabenerziehung und Rnabennnterricht im alten Hellas auf die Kithara oder Leier und den Gesang. Die Knaben sollten lernen, sich beim Singen selbst mit der Kithara zu begleiten. Gern ließen sich die Eltern nach Tische von ihren Söhnen etwas vorsingen und vorspielen. Aber auch bei geselligen Vereinigungen Erwachsener wurde die Kithara herumgegeben, damit jeder ein Gesellschnftslied, ein Skolion, zum besten gäbe, und wer, wie der junge Themistokles, das nicht vermochte, erregte Befremden. Also auch in diesem Unterrichtsgegenstände war das Ziel nicht Vielkönnen und Vielwisser, sondern die gleichmäßige Durchbildung aller Geistes- und Körperkräfte (e^vA- /Ut« und e^«^/,c>a^'t«), und jene Wohlaustündigkeit (evxoo^t/«), der alles Unschöne ein Abscheu ist. Dabei verdankte aber der junge Athener diesem Kithara- und Gesangunterricht eine frühe Vertrautheit mit der Rhythmik und Metrik seiner Muttersprache, er lernte in frühster Jugend schon die lyrischen Dichtungen seines Volkes auswendig. Denn weit enger als bei uns war die Lyrik mit der Musik verbunden. Nicht nur jedes lyrische Gedicht war in Musik gesetzt, sondern auch die zahlreichen Spruchdichtungen, die 7,^«/^ wie selbst Hesiods Tage und Werke, wurden eigentlich mehr gesungen als deklamirt, ebenso die Elegien des Phokylides, Theoanis, Solon, Simonides, selbstver¬ ständlich auch die Gedichte der eigentlichen Lyriker wie Anakreon und später auch Chvirilos und Kallimachos, endlich die zahlreichen Dithyramben, Hymnen und Püane. Jeder griechische Stamm hatte seine Lieblingsdichter, deren Werke der Jugend zeitig eingeprägt wurden, Sparta z. B. seinen Tyrtäos und Alkman. Selbst Gesetze, wie die angeblich von Minos stammenden der Kreter und die des Charondas, waren metrisch abgefaßt, in Musik gesetzt und wurden im Gesang eingeprägt. Dabei stattete namentlich die Spruchdichtung, z. B. eines Theognis und Phokylides, den Knaben mit einem Schatz trefflicher Lehren aus, die ihm später im Leben bei den unausbleiblichen Konflikten zwischen Pflicht und Leidenschaft einen sittlichen Halt gewähren konnten. Denn um sie später im Leben anzuwenden, sagt der Redner Äschines, lernen wir in der Jugend Gedichte; für den Griechen waren die Dichter in Wahrheit „Väter und Führer der Weisheit." Wenn am dritten Tage des athenischen Apaturienfestes die Stammgenossen mit ihren Familien im Hause des an¬ gesehensten unter ihnen zusammen kamen, setzten die Väter ihren Söhnen Preise aus für den mit Musik begleiteten Gcsangvortrag von Gedichten uach eigner Wahl, wobei dann von den Knaben besonders neuere, noch nicht allgemein bekannte Dichtungen bevorzugt wurden. „In Gedichten stark sein macht einen großen Teil der Bildung aus," sagt Protagoras bei Plato. Daher lernte die Jugend teils ganze Dichter, teils aus Dichtern zusammengestellte Chresto¬ mathien auswendig. sorgte so der musikalische Unterricht für eine frühe Erlernung der religiösen, lyrischen und Spruchdichtung, so führte der Lese- und Schreib¬ unterricht zu ähnlichen Ergebnissen auf andern Gebieten der Dichtkunst. Denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/231>, abgerufen am 30.08.2024.