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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Anarchie und Rechtsstaat

ohne Schaffung einer zentralen Staatsgewalt zu erreichen wäre. Die Form
des Anarchismus, die, wie der Stirnersche, ihre Begründung einem philo¬
sophischen Egoismus entnimmt, beantwortet diese Frage entschieden bejahend.
Den Einwand, daß, wenn es kein Gesetz gäbe, dem der Einzelne Gehorsam
schuldig ist, wenn der Einzelne "keine Pflicht anerkennt, d.h. sich nicht bindet
oder binden läßt," "alles drunter und drüber gehe" würde," hat Stirner
natürlich vorausgesehen. Und in der That ist dieser Einwand leicht zu wider¬
legen. Denn daß dann jeder thun könnte, was er wollte, ist offenbar eine
irrige Meinung, auf die Stirner mit Recht erwidert: "Wer sagt denn, daß
jeder alles thun könne? Wozu bist du denn da, der du dir nicht alles ge¬
fallen zu lassen brauchst? Wehre dich, so wird dir keiner was thun! Wer
deinen Willen brechen will, der hats mit dir zu thun und ist dein Feind.
Verfahre gegen ihn als solcher. Stehen hinter dir zum Schutze noch einige
Millionen, so seid ihr eine imposante Macht und werdet einen leichten Sieg
haben. Aber wenn ihr dem Gegner auch als Macht imponirt, eine geheiligte
Autorität seid ihr ihm darum doch nicht, er müßte denn ein Schücher sein.
Respekt und Achtung ist er euch nicht schuldig, wenn er sich mich vor eurer
Gewalt in Acht nehmen muß."

Worauf auch der folgerichtige Egoismus Stirners allen Nachdruck legen
muß, ist die Vereinigung der Einzelnen: "Stehen hinter dir zum Schutze noch
einige Millionen," und an einer andern Stelle: "Vereine werden ... die
Mittel des Einzelnen vervielfältigen und sein angefochtenes Eigentum sicher¬
stellen" -- auch das läßt sich hören. Es fragt sich nur, ob der Unterschied
zwischen dem Zwange, den ein Verein, und dem, den ein Staatswesen auf deu
Einzelnen ausübt, wirklich so groß ist, wie Stirner glauben machen will. Er
sagt: "Es ist ein Unterschied, ob durch eine Gesellschaft meine Freiheit oder
meine Eigenheit beschränkt wird. Ist nur jenes der Fall, so ist sie eine Ver¬
einigung, ein Übereinkommen, ein Verein; droht aber der Eigenheit Unter¬
gang, so ist sie eine Macht für sich, eine Macht über mir, ein von mir Un¬
erreichbares, das ich zwar anstaunen, anbeten, verehren, respektiren, aber nicht
bewältigen und verzehren kann, und zwar deshalb nicht, weil ich resiguire."
"Der Staat ist ein Feind und Mörder der Eigenheit, der Verein ein Sohn
und Mitarbeiter, jener ein Geist, der im Geist und in der Wahrheit angebetet
sein will, dieser mein Werk, mein Erzeugnis; der Staat ist der Herr meines
Geistes, der Glauben fordert und mir Glaubensartikel vorschreibt, die Glaubens¬
artikel der Gesetzlichkeit." Der Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft
einerseits und dem Verein andrerseits ist hier durchaus treffend gezeichnet, und
es ist gar keine Frage, daß man darnach streben müßte, die Gesellschaft, die.
wie Stirner richtig bemerkt, unser Naturzustand ist, durch den Verein zu er¬
setzen, wenn der Verein das menschlich Notwendige leisten könnte, ohne den
Charakter der Gesellschaft anzunehmen. Zieht doch schon das Kind "den Ver-


Anarchie und Rechtsstaat

ohne Schaffung einer zentralen Staatsgewalt zu erreichen wäre. Die Form
des Anarchismus, die, wie der Stirnersche, ihre Begründung einem philo¬
sophischen Egoismus entnimmt, beantwortet diese Frage entschieden bejahend.
Den Einwand, daß, wenn es kein Gesetz gäbe, dem der Einzelne Gehorsam
schuldig ist, wenn der Einzelne „keine Pflicht anerkennt, d.h. sich nicht bindet
oder binden läßt," „alles drunter und drüber gehe» würde," hat Stirner
natürlich vorausgesehen. Und in der That ist dieser Einwand leicht zu wider¬
legen. Denn daß dann jeder thun könnte, was er wollte, ist offenbar eine
irrige Meinung, auf die Stirner mit Recht erwidert: „Wer sagt denn, daß
jeder alles thun könne? Wozu bist du denn da, der du dir nicht alles ge¬
fallen zu lassen brauchst? Wehre dich, so wird dir keiner was thun! Wer
deinen Willen brechen will, der hats mit dir zu thun und ist dein Feind.
Verfahre gegen ihn als solcher. Stehen hinter dir zum Schutze noch einige
Millionen, so seid ihr eine imposante Macht und werdet einen leichten Sieg
haben. Aber wenn ihr dem Gegner auch als Macht imponirt, eine geheiligte
Autorität seid ihr ihm darum doch nicht, er müßte denn ein Schücher sein.
Respekt und Achtung ist er euch nicht schuldig, wenn er sich mich vor eurer
Gewalt in Acht nehmen muß."

Worauf auch der folgerichtige Egoismus Stirners allen Nachdruck legen
muß, ist die Vereinigung der Einzelnen: „Stehen hinter dir zum Schutze noch
einige Millionen," und an einer andern Stelle: „Vereine werden ... die
Mittel des Einzelnen vervielfältigen und sein angefochtenes Eigentum sicher¬
stellen" — auch das läßt sich hören. Es fragt sich nur, ob der Unterschied
zwischen dem Zwange, den ein Verein, und dem, den ein Staatswesen auf deu
Einzelnen ausübt, wirklich so groß ist, wie Stirner glauben machen will. Er
sagt: „Es ist ein Unterschied, ob durch eine Gesellschaft meine Freiheit oder
meine Eigenheit beschränkt wird. Ist nur jenes der Fall, so ist sie eine Ver¬
einigung, ein Übereinkommen, ein Verein; droht aber der Eigenheit Unter¬
gang, so ist sie eine Macht für sich, eine Macht über mir, ein von mir Un¬
erreichbares, das ich zwar anstaunen, anbeten, verehren, respektiren, aber nicht
bewältigen und verzehren kann, und zwar deshalb nicht, weil ich resiguire."
„Der Staat ist ein Feind und Mörder der Eigenheit, der Verein ein Sohn
und Mitarbeiter, jener ein Geist, der im Geist und in der Wahrheit angebetet
sein will, dieser mein Werk, mein Erzeugnis; der Staat ist der Herr meines
Geistes, der Glauben fordert und mir Glaubensartikel vorschreibt, die Glaubens¬
artikel der Gesetzlichkeit." Der Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft
einerseits und dem Verein andrerseits ist hier durchaus treffend gezeichnet, und
es ist gar keine Frage, daß man darnach streben müßte, die Gesellschaft, die.
wie Stirner richtig bemerkt, unser Naturzustand ist, durch den Verein zu er¬
setzen, wenn der Verein das menschlich Notwendige leisten könnte, ohne den
Charakter der Gesellschaft anzunehmen. Zieht doch schon das Kind „den Ver-


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[0215] Anarchie und Rechtsstaat ohne Schaffung einer zentralen Staatsgewalt zu erreichen wäre. Die Form des Anarchismus, die, wie der Stirnersche, ihre Begründung einem philo¬ sophischen Egoismus entnimmt, beantwortet diese Frage entschieden bejahend. Den Einwand, daß, wenn es kein Gesetz gäbe, dem der Einzelne Gehorsam schuldig ist, wenn der Einzelne „keine Pflicht anerkennt, d.h. sich nicht bindet oder binden läßt," „alles drunter und drüber gehe» würde," hat Stirner natürlich vorausgesehen. Und in der That ist dieser Einwand leicht zu wider¬ legen. Denn daß dann jeder thun könnte, was er wollte, ist offenbar eine irrige Meinung, auf die Stirner mit Recht erwidert: „Wer sagt denn, daß jeder alles thun könne? Wozu bist du denn da, der du dir nicht alles ge¬ fallen zu lassen brauchst? Wehre dich, so wird dir keiner was thun! Wer deinen Willen brechen will, der hats mit dir zu thun und ist dein Feind. Verfahre gegen ihn als solcher. Stehen hinter dir zum Schutze noch einige Millionen, so seid ihr eine imposante Macht und werdet einen leichten Sieg haben. Aber wenn ihr dem Gegner auch als Macht imponirt, eine geheiligte Autorität seid ihr ihm darum doch nicht, er müßte denn ein Schücher sein. Respekt und Achtung ist er euch nicht schuldig, wenn er sich mich vor eurer Gewalt in Acht nehmen muß." Worauf auch der folgerichtige Egoismus Stirners allen Nachdruck legen muß, ist die Vereinigung der Einzelnen: „Stehen hinter dir zum Schutze noch einige Millionen," und an einer andern Stelle: „Vereine werden ... die Mittel des Einzelnen vervielfältigen und sein angefochtenes Eigentum sicher¬ stellen" — auch das läßt sich hören. Es fragt sich nur, ob der Unterschied zwischen dem Zwange, den ein Verein, und dem, den ein Staatswesen auf deu Einzelnen ausübt, wirklich so groß ist, wie Stirner glauben machen will. Er sagt: „Es ist ein Unterschied, ob durch eine Gesellschaft meine Freiheit oder meine Eigenheit beschränkt wird. Ist nur jenes der Fall, so ist sie eine Ver¬ einigung, ein Übereinkommen, ein Verein; droht aber der Eigenheit Unter¬ gang, so ist sie eine Macht für sich, eine Macht über mir, ein von mir Un¬ erreichbares, das ich zwar anstaunen, anbeten, verehren, respektiren, aber nicht bewältigen und verzehren kann, und zwar deshalb nicht, weil ich resiguire." „Der Staat ist ein Feind und Mörder der Eigenheit, der Verein ein Sohn und Mitarbeiter, jener ein Geist, der im Geist und in der Wahrheit angebetet sein will, dieser mein Werk, mein Erzeugnis; der Staat ist der Herr meines Geistes, der Glauben fordert und mir Glaubensartikel vorschreibt, die Glaubens¬ artikel der Gesetzlichkeit." Der Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft einerseits und dem Verein andrerseits ist hier durchaus treffend gezeichnet, und es ist gar keine Frage, daß man darnach streben müßte, die Gesellschaft, die. wie Stirner richtig bemerkt, unser Naturzustand ist, durch den Verein zu er¬ setzen, wenn der Verein das menschlich Notwendige leisten könnte, ohne den Charakter der Gesellschaft anzunehmen. Zieht doch schon das Kind „den Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/215>, abgerufen am 24.08.2024.