Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Änderung erfahren muß. Während in ursprünglichen Zuständen das weit¬
gehendste Eigentumsrecht an den Dingen zulässig scheint, würde sich in spätern
Zeiten der Gesetzgeber beständig vor Augen zu halten haben, daß die Be¬
nutzung der Dinge zu ermöglichen die einzige Aufgabe des Eigentumsrechts
ist und daß dieses Recht allein hieraus seine innere Berechtigung herzuleiten
vermag. Wo die Mittel, menschliche Kraft zu bethätigen, knapp werden, da
muß alles Kapital, das die Natur dem Menschen zur Verfügung stellt, werben
und Ertrag bringen. Ein toter Besitz, der nicht genutzt wird, kann nicht ge¬
duldet werden; wer nicht zu erwerben vermag, was er ererbt von seinen
Vätern hat, darf auch uicht im Besitz bleiben.

Wir sind jetzt in eine Zeit eingetreten, in der diese Gedanken für die Ge¬
staltung des Eigentumsrechts aktuell werden. Anstatt allen Menschen die
Möglichkeit zur Bethätigung zu gewährleisten, hat das bestehende Eigentums¬
recht infolge der Zunahme der Bevölkerung eine Form angenommen, in der
es einen großen Teil der Bevölkerung dieser Möglichkeit beraubt. Es hat
sich folgender Widerspruch gebildet: Ohne Eigentumsrecht keine gesicherte, er¬
folgreiche Thätigkeit; und wiederum: infolge des Eigentumsrechts die Unmög¬
lichkeit einer erfolgreichen, gesicherten Thätigkeit (für einen Teil der Bevölke¬
rung). Dieser Widerspruch muß gelöst werden. Welcher Art die richtige
Lösung ist, kann nicht zweifelhaft sein. Der erste Satz, der die Notwendigkeit
des Eigentumsrechts ausspricht, gilt unbedingt. Der Gegensatz, der die Ver¬
werflichkeit des Eigentumsrechts behauptet, gilt nur bedingt; nur für ein be¬
stimmtes Eigentumsrecht. Es muß also eine Form des Eigentumsrechts ge¬
funden werden, in der es seiner eigentlichen Bestimmung genügt. Es kann
sein und ist in der That so, wie sich leicht würde näher begründen lassen,
daß zu diesem Zweck dem Eigentumsrecht eine Ergänzung in Gestalt einer um¬
fassenden Sozialgesetzgebung gegeben werden muß -- das Andrängen derer,
die nur ihre Arbeitskraft, aber keine Arbeitsmittel besitzen, die Kraft zu be¬
thätigen, hat ja auch die modernen Kulturstaaten bereits auf diesen Weg
gedrängt.

In dieser verhängnisvollen Entwicklung, die das Eigentumsrecht oder
richtiger die Verhältnisse unter der Herrschaft des Eigentumsrechts genommen
haben, ist unzweifelhaft der Grund der anarchistischen Lehren und ihrer zu¬
nehmenden Verbreitung zu suchen. Man wünscht unerträglich gewordne Zu¬
stände zu beseitigen und sieht sich nach Mitteln um, die dazu geeignet sein
könnten. Man bemerkt, daß der Staat der Beschützer alles Bestehenden ist,
und schließt infolge dessen, daß es nicht besser werden könne, bevor er nicht
in Trümmer gegangen sei.

Der Anarchismus und bis zu einem gewissen Grade auch der Sozialismus
sucht also den Widerspruch des Eigentumsrechts dadurch zu lösen, daß er ihm
aus dem Wege geht. Aber es leuchtet ein, daß das keine eigentliche Lösung


Änderung erfahren muß. Während in ursprünglichen Zuständen das weit¬
gehendste Eigentumsrecht an den Dingen zulässig scheint, würde sich in spätern
Zeiten der Gesetzgeber beständig vor Augen zu halten haben, daß die Be¬
nutzung der Dinge zu ermöglichen die einzige Aufgabe des Eigentumsrechts
ist und daß dieses Recht allein hieraus seine innere Berechtigung herzuleiten
vermag. Wo die Mittel, menschliche Kraft zu bethätigen, knapp werden, da
muß alles Kapital, das die Natur dem Menschen zur Verfügung stellt, werben
und Ertrag bringen. Ein toter Besitz, der nicht genutzt wird, kann nicht ge¬
duldet werden; wer nicht zu erwerben vermag, was er ererbt von seinen
Vätern hat, darf auch uicht im Besitz bleiben.

Wir sind jetzt in eine Zeit eingetreten, in der diese Gedanken für die Ge¬
staltung des Eigentumsrechts aktuell werden. Anstatt allen Menschen die
Möglichkeit zur Bethätigung zu gewährleisten, hat das bestehende Eigentums¬
recht infolge der Zunahme der Bevölkerung eine Form angenommen, in der
es einen großen Teil der Bevölkerung dieser Möglichkeit beraubt. Es hat
sich folgender Widerspruch gebildet: Ohne Eigentumsrecht keine gesicherte, er¬
folgreiche Thätigkeit; und wiederum: infolge des Eigentumsrechts die Unmög¬
lichkeit einer erfolgreichen, gesicherten Thätigkeit (für einen Teil der Bevölke¬
rung). Dieser Widerspruch muß gelöst werden. Welcher Art die richtige
Lösung ist, kann nicht zweifelhaft sein. Der erste Satz, der die Notwendigkeit
des Eigentumsrechts ausspricht, gilt unbedingt. Der Gegensatz, der die Ver¬
werflichkeit des Eigentumsrechts behauptet, gilt nur bedingt; nur für ein be¬
stimmtes Eigentumsrecht. Es muß also eine Form des Eigentumsrechts ge¬
funden werden, in der es seiner eigentlichen Bestimmung genügt. Es kann
sein und ist in der That so, wie sich leicht würde näher begründen lassen,
daß zu diesem Zweck dem Eigentumsrecht eine Ergänzung in Gestalt einer um¬
fassenden Sozialgesetzgebung gegeben werden muß — das Andrängen derer,
die nur ihre Arbeitskraft, aber keine Arbeitsmittel besitzen, die Kraft zu be¬
thätigen, hat ja auch die modernen Kulturstaaten bereits auf diesen Weg
gedrängt.

In dieser verhängnisvollen Entwicklung, die das Eigentumsrecht oder
richtiger die Verhältnisse unter der Herrschaft des Eigentumsrechts genommen
haben, ist unzweifelhaft der Grund der anarchistischen Lehren und ihrer zu¬
nehmenden Verbreitung zu suchen. Man wünscht unerträglich gewordne Zu¬
stände zu beseitigen und sieht sich nach Mitteln um, die dazu geeignet sein
könnten. Man bemerkt, daß der Staat der Beschützer alles Bestehenden ist,
und schließt infolge dessen, daß es nicht besser werden könne, bevor er nicht
in Trümmer gegangen sei.

Der Anarchismus und bis zu einem gewissen Grade auch der Sozialismus
sucht also den Widerspruch des Eigentumsrechts dadurch zu lösen, daß er ihm
aus dem Wege geht. Aber es leuchtet ein, daß das keine eigentliche Lösung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0213" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219889"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_761" prev="#ID_760"> Änderung erfahren muß. Während in ursprünglichen Zuständen das weit¬<lb/>
gehendste Eigentumsrecht an den Dingen zulässig scheint, würde sich in spätern<lb/>
Zeiten der Gesetzgeber beständig vor Augen zu halten haben, daß die Be¬<lb/>
nutzung der Dinge zu ermöglichen die einzige Aufgabe des Eigentumsrechts<lb/>
ist und daß dieses Recht allein hieraus seine innere Berechtigung herzuleiten<lb/>
vermag. Wo die Mittel, menschliche Kraft zu bethätigen, knapp werden, da<lb/>
muß alles Kapital, das die Natur dem Menschen zur Verfügung stellt, werben<lb/>
und Ertrag bringen. Ein toter Besitz, der nicht genutzt wird, kann nicht ge¬<lb/>
duldet werden; wer nicht zu erwerben vermag, was er ererbt von seinen<lb/>
Vätern hat, darf auch uicht im Besitz bleiben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_762"> Wir sind jetzt in eine Zeit eingetreten, in der diese Gedanken für die Ge¬<lb/>
staltung des Eigentumsrechts aktuell werden. Anstatt allen Menschen die<lb/>
Möglichkeit zur Bethätigung zu gewährleisten, hat das bestehende Eigentums¬<lb/>
recht infolge der Zunahme der Bevölkerung eine Form angenommen, in der<lb/>
es einen großen Teil der Bevölkerung dieser Möglichkeit beraubt. Es hat<lb/>
sich folgender Widerspruch gebildet: Ohne Eigentumsrecht keine gesicherte, er¬<lb/>
folgreiche Thätigkeit; und wiederum: infolge des Eigentumsrechts die Unmög¬<lb/>
lichkeit einer erfolgreichen, gesicherten Thätigkeit (für einen Teil der Bevölke¬<lb/>
rung). Dieser Widerspruch muß gelöst werden. Welcher Art die richtige<lb/>
Lösung ist, kann nicht zweifelhaft sein. Der erste Satz, der die Notwendigkeit<lb/>
des Eigentumsrechts ausspricht, gilt unbedingt. Der Gegensatz, der die Ver¬<lb/>
werflichkeit des Eigentumsrechts behauptet, gilt nur bedingt; nur für ein be¬<lb/>
stimmtes Eigentumsrecht. Es muß also eine Form des Eigentumsrechts ge¬<lb/>
funden werden, in der es seiner eigentlichen Bestimmung genügt. Es kann<lb/>
sein und ist in der That so, wie sich leicht würde näher begründen lassen,<lb/>
daß zu diesem Zweck dem Eigentumsrecht eine Ergänzung in Gestalt einer um¬<lb/>
fassenden Sozialgesetzgebung gegeben werden muß &#x2014; das Andrängen derer,<lb/>
die nur ihre Arbeitskraft, aber keine Arbeitsmittel besitzen, die Kraft zu be¬<lb/>
thätigen, hat ja auch die modernen Kulturstaaten bereits auf diesen Weg<lb/>
gedrängt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_763"> In dieser verhängnisvollen Entwicklung, die das Eigentumsrecht oder<lb/>
richtiger die Verhältnisse unter der Herrschaft des Eigentumsrechts genommen<lb/>
haben, ist unzweifelhaft der Grund der anarchistischen Lehren und ihrer zu¬<lb/>
nehmenden Verbreitung zu suchen. Man wünscht unerträglich gewordne Zu¬<lb/>
stände zu beseitigen und sieht sich nach Mitteln um, die dazu geeignet sein<lb/>
könnten. Man bemerkt, daß der Staat der Beschützer alles Bestehenden ist,<lb/>
und schließt infolge dessen, daß es nicht besser werden könne, bevor er nicht<lb/>
in Trümmer gegangen sei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_764" next="#ID_765"> Der Anarchismus und bis zu einem gewissen Grade auch der Sozialismus<lb/>
sucht also den Widerspruch des Eigentumsrechts dadurch zu lösen, daß er ihm<lb/>
aus dem Wege geht. Aber es leuchtet ein, daß das keine eigentliche Lösung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0213] Änderung erfahren muß. Während in ursprünglichen Zuständen das weit¬ gehendste Eigentumsrecht an den Dingen zulässig scheint, würde sich in spätern Zeiten der Gesetzgeber beständig vor Augen zu halten haben, daß die Be¬ nutzung der Dinge zu ermöglichen die einzige Aufgabe des Eigentumsrechts ist und daß dieses Recht allein hieraus seine innere Berechtigung herzuleiten vermag. Wo die Mittel, menschliche Kraft zu bethätigen, knapp werden, da muß alles Kapital, das die Natur dem Menschen zur Verfügung stellt, werben und Ertrag bringen. Ein toter Besitz, der nicht genutzt wird, kann nicht ge¬ duldet werden; wer nicht zu erwerben vermag, was er ererbt von seinen Vätern hat, darf auch uicht im Besitz bleiben. Wir sind jetzt in eine Zeit eingetreten, in der diese Gedanken für die Ge¬ staltung des Eigentumsrechts aktuell werden. Anstatt allen Menschen die Möglichkeit zur Bethätigung zu gewährleisten, hat das bestehende Eigentums¬ recht infolge der Zunahme der Bevölkerung eine Form angenommen, in der es einen großen Teil der Bevölkerung dieser Möglichkeit beraubt. Es hat sich folgender Widerspruch gebildet: Ohne Eigentumsrecht keine gesicherte, er¬ folgreiche Thätigkeit; und wiederum: infolge des Eigentumsrechts die Unmög¬ lichkeit einer erfolgreichen, gesicherten Thätigkeit (für einen Teil der Bevölke¬ rung). Dieser Widerspruch muß gelöst werden. Welcher Art die richtige Lösung ist, kann nicht zweifelhaft sein. Der erste Satz, der die Notwendigkeit des Eigentumsrechts ausspricht, gilt unbedingt. Der Gegensatz, der die Ver¬ werflichkeit des Eigentumsrechts behauptet, gilt nur bedingt; nur für ein be¬ stimmtes Eigentumsrecht. Es muß also eine Form des Eigentumsrechts ge¬ funden werden, in der es seiner eigentlichen Bestimmung genügt. Es kann sein und ist in der That so, wie sich leicht würde näher begründen lassen, daß zu diesem Zweck dem Eigentumsrecht eine Ergänzung in Gestalt einer um¬ fassenden Sozialgesetzgebung gegeben werden muß — das Andrängen derer, die nur ihre Arbeitskraft, aber keine Arbeitsmittel besitzen, die Kraft zu be¬ thätigen, hat ja auch die modernen Kulturstaaten bereits auf diesen Weg gedrängt. In dieser verhängnisvollen Entwicklung, die das Eigentumsrecht oder richtiger die Verhältnisse unter der Herrschaft des Eigentumsrechts genommen haben, ist unzweifelhaft der Grund der anarchistischen Lehren und ihrer zu¬ nehmenden Verbreitung zu suchen. Man wünscht unerträglich gewordne Zu¬ stände zu beseitigen und sieht sich nach Mitteln um, die dazu geeignet sein könnten. Man bemerkt, daß der Staat der Beschützer alles Bestehenden ist, und schließt infolge dessen, daß es nicht besser werden könne, bevor er nicht in Trümmer gegangen sei. Der Anarchismus und bis zu einem gewissen Grade auch der Sozialismus sucht also den Widerspruch des Eigentumsrechts dadurch zu lösen, daß er ihm aus dem Wege geht. Aber es leuchtet ein, daß das keine eigentliche Lösung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/213
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/213>, abgerufen am 25.08.2024.