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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Als Keleth gegangen war, bog sie hinunter zum englischen Garten. Sie
ging ohne Ziel der Jsar zu und stand much langer Wandrung an den
rauschenden Überfällen. Die Füße waren ihr müde geworden; sie legte die
Hände auf die Holzbrüstung und neigte sich vornüber, gegen das Wasser zu.

Geschlossen wie Erzguß, mit dem Getose von Millionen Stimmen warfen
sich die Massen über die Wehre nieder: Gieb mir die Hand, faß an, halt dich
an mir! -- Nicht so schnell! schrie ein Strahl, nicht so schnell! -- Vorwärts!
antworteten die unten, daß es keine Lücke giebt, immer zusammenhalten, Mann
an Mann! -- Dann kanns nicht so arg werden mit dem Sturz, lispelten die
Tropfen. -- Ah, jetzt sind wir unter, nun vorwärts, wir Habens noch weit,
nur nicht ängstlich da oben! Und wieder bildete sich die gewaltige Krystall¬
glocke ans Tropfen und Tropfen, um donnernd niederzufallen und unten mit
Gelächter aufzuspringen.

Franzi legte den Kopf auf die Hände und lauschte. Der rauschartige
Tumult unten steckte sie an. Sie verließ das Geländer und stieg im Geröll des
Ufers nieder bis dahin, wo sich verwehte Tropfen in ihren ausgestreckten Händen
fingen. Sie liefen ungeduldig auf der rosigen Handfläche hin und wieder und
wollten zwischen den Fingern hindurch. Frauzi hob die Hand an den Mund
und trank die Tropfen mit ihren Lippen auf, und dabei kam ein Gefühl über
sie, wie an jenem Morgen, als Sedini sie küßte. Wie die Wasserstrahlen im
Sprung über das Wehr, so hatten sie sich zusammengeschlossen in der Be¬
geisterung für ein gemeinsames Werk! Und jetzt sollte die Kraft schon ver¬
ronnen sein wie eine Hand voll Wassers, die man ans den Sand gießt?

Sie richtete sich auf und folgte dem Lauf des Flusses auf München zu.
Der Wildling! Er hatte Bäume ausgewurzelt irgendwo in seinem Lauf und
führte die Trümmer mit sich. Aber mit derselben Kraft, mit der er zerstörte,
konnte er auch wohlthätig sein. Man kann das Wasser in jede Form geben,
von dem Gefäß, das es faßt, nimmt es die Form und die Farbe an. Es kann
alles, das Wasser, nur uicht selbständig stehen, ganz wie der Sedini!

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die gefährlichen Ratgeber noch einmal.

Im 14. Heft hatten wir einen
Artikel der Hamburger Nachrichten, den wir in einem andern Blatte fanden, kri-
tisirt, ohne den Ursprungsort zu nennen. Trotzdem antworten die Hamburger
Nachrichten darauf in Ur. 86. Um sie ausführlich zu widerlegen, müßten wir
zwanzigmal gesagtes wiederholen, was wir aus Rücksicht auf unsre regelmäßigen
Leser nicht gut können; wir beschränken uns daher darauf, nur ein paar Sätze zu
glossiren.

Vorher eine allgemeine Bemerkung. Die Hamburger Nachrichten reden natür¬
lich wieder immer bloß von der Sozialdemokratie. Uns sind das marxistische Pro¬
gramm des größten Teiles der deutschen Lohnarbeiter und ihr Parteiname gleich-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Als Keleth gegangen war, bog sie hinunter zum englischen Garten. Sie
ging ohne Ziel der Jsar zu und stand much langer Wandrung an den
rauschenden Überfällen. Die Füße waren ihr müde geworden; sie legte die
Hände auf die Holzbrüstung und neigte sich vornüber, gegen das Wasser zu.

Geschlossen wie Erzguß, mit dem Getose von Millionen Stimmen warfen
sich die Massen über die Wehre nieder: Gieb mir die Hand, faß an, halt dich
an mir! — Nicht so schnell! schrie ein Strahl, nicht so schnell! — Vorwärts!
antworteten die unten, daß es keine Lücke giebt, immer zusammenhalten, Mann
an Mann! — Dann kanns nicht so arg werden mit dem Sturz, lispelten die
Tropfen. — Ah, jetzt sind wir unter, nun vorwärts, wir Habens noch weit,
nur nicht ängstlich da oben! Und wieder bildete sich die gewaltige Krystall¬
glocke ans Tropfen und Tropfen, um donnernd niederzufallen und unten mit
Gelächter aufzuspringen.

Franzi legte den Kopf auf die Hände und lauschte. Der rauschartige
Tumult unten steckte sie an. Sie verließ das Geländer und stieg im Geröll des
Ufers nieder bis dahin, wo sich verwehte Tropfen in ihren ausgestreckten Händen
fingen. Sie liefen ungeduldig auf der rosigen Handfläche hin und wieder und
wollten zwischen den Fingern hindurch. Frauzi hob die Hand an den Mund
und trank die Tropfen mit ihren Lippen auf, und dabei kam ein Gefühl über
sie, wie an jenem Morgen, als Sedini sie küßte. Wie die Wasserstrahlen im
Sprung über das Wehr, so hatten sie sich zusammengeschlossen in der Be¬
geisterung für ein gemeinsames Werk! Und jetzt sollte die Kraft schon ver¬
ronnen sein wie eine Hand voll Wassers, die man ans den Sand gießt?

Sie richtete sich auf und folgte dem Lauf des Flusses auf München zu.
Der Wildling! Er hatte Bäume ausgewurzelt irgendwo in seinem Lauf und
führte die Trümmer mit sich. Aber mit derselben Kraft, mit der er zerstörte,
konnte er auch wohlthätig sein. Man kann das Wasser in jede Form geben,
von dem Gefäß, das es faßt, nimmt es die Form und die Farbe an. Es kann
alles, das Wasser, nur uicht selbständig stehen, ganz wie der Sedini!

(Schluß folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die gefährlichen Ratgeber noch einmal.

Im 14. Heft hatten wir einen
Artikel der Hamburger Nachrichten, den wir in einem andern Blatte fanden, kri-
tisirt, ohne den Ursprungsort zu nennen. Trotzdem antworten die Hamburger
Nachrichten darauf in Ur. 86. Um sie ausführlich zu widerlegen, müßten wir
zwanzigmal gesagtes wiederholen, was wir aus Rücksicht auf unsre regelmäßigen
Leser nicht gut können; wir beschränken uns daher darauf, nur ein paar Sätze zu
glossiren.

Vorher eine allgemeine Bemerkung. Die Hamburger Nachrichten reden natür¬
lich wieder immer bloß von der Sozialdemokratie. Uns sind das marxistische Pro¬
gramm des größten Teiles der deutschen Lohnarbeiter und ihr Parteiname gleich-


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[0204] Maßgebliches und Unmaßgebliches Als Keleth gegangen war, bog sie hinunter zum englischen Garten. Sie ging ohne Ziel der Jsar zu und stand much langer Wandrung an den rauschenden Überfällen. Die Füße waren ihr müde geworden; sie legte die Hände auf die Holzbrüstung und neigte sich vornüber, gegen das Wasser zu. Geschlossen wie Erzguß, mit dem Getose von Millionen Stimmen warfen sich die Massen über die Wehre nieder: Gieb mir die Hand, faß an, halt dich an mir! — Nicht so schnell! schrie ein Strahl, nicht so schnell! — Vorwärts! antworteten die unten, daß es keine Lücke giebt, immer zusammenhalten, Mann an Mann! — Dann kanns nicht so arg werden mit dem Sturz, lispelten die Tropfen. — Ah, jetzt sind wir unter, nun vorwärts, wir Habens noch weit, nur nicht ängstlich da oben! Und wieder bildete sich die gewaltige Krystall¬ glocke ans Tropfen und Tropfen, um donnernd niederzufallen und unten mit Gelächter aufzuspringen. Franzi legte den Kopf auf die Hände und lauschte. Der rauschartige Tumult unten steckte sie an. Sie verließ das Geländer und stieg im Geröll des Ufers nieder bis dahin, wo sich verwehte Tropfen in ihren ausgestreckten Händen fingen. Sie liefen ungeduldig auf der rosigen Handfläche hin und wieder und wollten zwischen den Fingern hindurch. Frauzi hob die Hand an den Mund und trank die Tropfen mit ihren Lippen auf, und dabei kam ein Gefühl über sie, wie an jenem Morgen, als Sedini sie küßte. Wie die Wasserstrahlen im Sprung über das Wehr, so hatten sie sich zusammengeschlossen in der Be¬ geisterung für ein gemeinsames Werk! Und jetzt sollte die Kraft schon ver¬ ronnen sein wie eine Hand voll Wassers, die man ans den Sand gießt? Sie richtete sich auf und folgte dem Lauf des Flusses auf München zu. Der Wildling! Er hatte Bäume ausgewurzelt irgendwo in seinem Lauf und führte die Trümmer mit sich. Aber mit derselben Kraft, mit der er zerstörte, konnte er auch wohlthätig sein. Man kann das Wasser in jede Form geben, von dem Gefäß, das es faßt, nimmt es die Form und die Farbe an. Es kann alles, das Wasser, nur uicht selbständig stehen, ganz wie der Sedini! (Schluß folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Die gefährlichen Ratgeber noch einmal. Im 14. Heft hatten wir einen Artikel der Hamburger Nachrichten, den wir in einem andern Blatte fanden, kri- tisirt, ohne den Ursprungsort zu nennen. Trotzdem antworten die Hamburger Nachrichten darauf in Ur. 86. Um sie ausführlich zu widerlegen, müßten wir zwanzigmal gesagtes wiederholen, was wir aus Rücksicht auf unsre regelmäßigen Leser nicht gut können; wir beschränken uns daher darauf, nur ein paar Sätze zu glossiren. Vorher eine allgemeine Bemerkung. Die Hamburger Nachrichten reden natür¬ lich wieder immer bloß von der Sozialdemokratie. Uns sind das marxistische Pro¬ gramm des größten Teiles der deutschen Lohnarbeiter und ihr Parteiname gleich-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/204>, abgerufen am 25.08.2024.