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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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sich zu einem Eindruck von fortreißender Kraft. Es fährt sich uicht immer
angenehm mit diesem sizilianischen Fuhrmann, es giebt Beulen links und rechts;
aber ein ganzer Kerl ist er doch, wenn er auch nicht so gesittet dreinschaut
wie ein Berliner Droschkenkutscher. Man hüte sich aber ja, nur nach dem
zu urteilen, was man so gewöhnlich in unsern Theatern zu hören bekommt.
Sobald unsre Durchschnittskapellmeister die Cavalleriapartitur auf dem Pult
erblicken, schlägt ihr Herz feuriger, und sie sagen sich: "Aha, italienisch! Also
heute einmal südliche Glut und Leidenschaft! Wir Habens ja." Das heißt
dann in nüchternes Deutsch übertragen: Dann und wann ein willkürliches
Rubato und im ganzen übersetzte Tempi. "So schnell als möglich" ist die
Losung. Daß dabei nichts herauskommt als ein unklarer Wirrwarr und
das beste verloren geht, nämlich die Kraft des Ausdrucks, thut nichts zur
Sache. Der Triumph liegt darin, den Fuhrmann womöglich im gestreckten
Galopp ans Ziel zu Hetzen.

Orgelklang -- das Volk schickt sich an zu seinem Ostergebet, dessen mu¬
sikalische Gestaltung ebenso sehr Widerspruch wie Bewunderung herausfordert.
Gleich das erste, von den Blechbläsern häßlich begleitete "Laßt uns preisen"
ist zwar nicht ganz ohne Härten, aber es bringt auch eine stattliche Reihe von
guten harmonischen Ideen und eine zweimalige Kadenzirung von großer Kraft.
Santuzzas führende Melodie -- mag sie auch uicht durchaus rein und edel
sein -- bewegt sich eben doch in großen Linien, und darunter hin wogt die
Begleitung frei und kräftig mit ausgesucht schönen Bässen. Ganz dasselbe gilt
für die unmittelbar folgende zweimalige harmonische und melodische Steigerung.
Es wäre mehr als philiströs, hier den klassisch Verwöhnten spielen zu wollen.
Wer nach dem unterbrechenden Takt erklärt, daß ihm die Sache nun zu
gewöhnlich werde, mag ja in seinem Recht sein; mich aber stößt das aufgebauschte
Wesen ab. Bis zu diefem Punkte hält sich Maseagni mehr als wacker. Wer
dieser Art von Musik seine Zustimmung versagen will, dein bleibt nichts andres
übrig, als ohne weiteres anch die Stumme von Portici, die Hugenotten, den
Tell und Gvunvds Faust aus der Reihe der beachtenswerten Werke zu streichen.
Daß es nicht an Fanatikern fehlt, die zu einem solchen Schritte nicht nnr er¬
bötig sind, sondern ihn sogar mit Freuden thun, beweist noch nicht, daß sie
darum auch Recht haben.

Santuzzas Romanze "Als Euer Sohn einst fortzog" gleicht erst etwas
der Umarmung der Sphinx, die, während sie den Mund mit heißen Küssen
labt, den Leib mit scharfen Krallen peinigt. Von Anfang an nimmt den Hörer
eine schwermütige Stimmung gefangen, aber allerhand Rauheiten und Un¬
ebenheiten lassen den Eindruck wieder nicht rein werden. Erst mit dem sanft
beginnenden "Mich liebt er" sind die störenden Elemente überwunden, und
Scmtuzza erhebt sich sogar für einen Augenblick zu imponirenden Pathos.
Mutter Lucia ist tief erschreckt durch die schlimme Kunde und giebt dem in


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sich zu einem Eindruck von fortreißender Kraft. Es fährt sich uicht immer
angenehm mit diesem sizilianischen Fuhrmann, es giebt Beulen links und rechts;
aber ein ganzer Kerl ist er doch, wenn er auch nicht so gesittet dreinschaut
wie ein Berliner Droschkenkutscher. Man hüte sich aber ja, nur nach dem
zu urteilen, was man so gewöhnlich in unsern Theatern zu hören bekommt.
Sobald unsre Durchschnittskapellmeister die Cavalleriapartitur auf dem Pult
erblicken, schlägt ihr Herz feuriger, und sie sagen sich: „Aha, italienisch! Also
heute einmal südliche Glut und Leidenschaft! Wir Habens ja." Das heißt
dann in nüchternes Deutsch übertragen: Dann und wann ein willkürliches
Rubato und im ganzen übersetzte Tempi. „So schnell als möglich" ist die
Losung. Daß dabei nichts herauskommt als ein unklarer Wirrwarr und
das beste verloren geht, nämlich die Kraft des Ausdrucks, thut nichts zur
Sache. Der Triumph liegt darin, den Fuhrmann womöglich im gestreckten
Galopp ans Ziel zu Hetzen.

Orgelklang — das Volk schickt sich an zu seinem Ostergebet, dessen mu¬
sikalische Gestaltung ebenso sehr Widerspruch wie Bewunderung herausfordert.
Gleich das erste, von den Blechbläsern häßlich begleitete „Laßt uns preisen"
ist zwar nicht ganz ohne Härten, aber es bringt auch eine stattliche Reihe von
guten harmonischen Ideen und eine zweimalige Kadenzirung von großer Kraft.
Santuzzas führende Melodie — mag sie auch uicht durchaus rein und edel
sein — bewegt sich eben doch in großen Linien, und darunter hin wogt die
Begleitung frei und kräftig mit ausgesucht schönen Bässen. Ganz dasselbe gilt
für die unmittelbar folgende zweimalige harmonische und melodische Steigerung.
Es wäre mehr als philiströs, hier den klassisch Verwöhnten spielen zu wollen.
Wer nach dem unterbrechenden Takt erklärt, daß ihm die Sache nun zu
gewöhnlich werde, mag ja in seinem Recht sein; mich aber stößt das aufgebauschte
Wesen ab. Bis zu diefem Punkte hält sich Maseagni mehr als wacker. Wer
dieser Art von Musik seine Zustimmung versagen will, dein bleibt nichts andres
übrig, als ohne weiteres anch die Stumme von Portici, die Hugenotten, den
Tell und Gvunvds Faust aus der Reihe der beachtenswerten Werke zu streichen.
Daß es nicht an Fanatikern fehlt, die zu einem solchen Schritte nicht nnr er¬
bötig sind, sondern ihn sogar mit Freuden thun, beweist noch nicht, daß sie
darum auch Recht haben.

Santuzzas Romanze „Als Euer Sohn einst fortzog" gleicht erst etwas
der Umarmung der Sphinx, die, während sie den Mund mit heißen Küssen
labt, den Leib mit scharfen Krallen peinigt. Von Anfang an nimmt den Hörer
eine schwermütige Stimmung gefangen, aber allerhand Rauheiten und Un¬
ebenheiten lassen den Eindruck wieder nicht rein werden. Erst mit dem sanft
beginnenden „Mich liebt er" sind die störenden Elemente überwunden, und
Scmtuzza erhebt sich sogar für einen Augenblick zu imponirenden Pathos.
Mutter Lucia ist tief erschreckt durch die schlimme Kunde und giebt dem in


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[0194] Moderne Gxern sich zu einem Eindruck von fortreißender Kraft. Es fährt sich uicht immer angenehm mit diesem sizilianischen Fuhrmann, es giebt Beulen links und rechts; aber ein ganzer Kerl ist er doch, wenn er auch nicht so gesittet dreinschaut wie ein Berliner Droschkenkutscher. Man hüte sich aber ja, nur nach dem zu urteilen, was man so gewöhnlich in unsern Theatern zu hören bekommt. Sobald unsre Durchschnittskapellmeister die Cavalleriapartitur auf dem Pult erblicken, schlägt ihr Herz feuriger, und sie sagen sich: „Aha, italienisch! Also heute einmal südliche Glut und Leidenschaft! Wir Habens ja." Das heißt dann in nüchternes Deutsch übertragen: Dann und wann ein willkürliches Rubato und im ganzen übersetzte Tempi. „So schnell als möglich" ist die Losung. Daß dabei nichts herauskommt als ein unklarer Wirrwarr und das beste verloren geht, nämlich die Kraft des Ausdrucks, thut nichts zur Sache. Der Triumph liegt darin, den Fuhrmann womöglich im gestreckten Galopp ans Ziel zu Hetzen. Orgelklang — das Volk schickt sich an zu seinem Ostergebet, dessen mu¬ sikalische Gestaltung ebenso sehr Widerspruch wie Bewunderung herausfordert. Gleich das erste, von den Blechbläsern häßlich begleitete „Laßt uns preisen" ist zwar nicht ganz ohne Härten, aber es bringt auch eine stattliche Reihe von guten harmonischen Ideen und eine zweimalige Kadenzirung von großer Kraft. Santuzzas führende Melodie — mag sie auch uicht durchaus rein und edel sein — bewegt sich eben doch in großen Linien, und darunter hin wogt die Begleitung frei und kräftig mit ausgesucht schönen Bässen. Ganz dasselbe gilt für die unmittelbar folgende zweimalige harmonische und melodische Steigerung. Es wäre mehr als philiströs, hier den klassisch Verwöhnten spielen zu wollen. Wer nach dem unterbrechenden Takt erklärt, daß ihm die Sache nun zu gewöhnlich werde, mag ja in seinem Recht sein; mich aber stößt das aufgebauschte Wesen ab. Bis zu diefem Punkte hält sich Maseagni mehr als wacker. Wer dieser Art von Musik seine Zustimmung versagen will, dein bleibt nichts andres übrig, als ohne weiteres anch die Stumme von Portici, die Hugenotten, den Tell und Gvunvds Faust aus der Reihe der beachtenswerten Werke zu streichen. Daß es nicht an Fanatikern fehlt, die zu einem solchen Schritte nicht nnr er¬ bötig sind, sondern ihn sogar mit Freuden thun, beweist noch nicht, daß sie darum auch Recht haben. Santuzzas Romanze „Als Euer Sohn einst fortzog" gleicht erst etwas der Umarmung der Sphinx, die, während sie den Mund mit heißen Küssen labt, den Leib mit scharfen Krallen peinigt. Von Anfang an nimmt den Hörer eine schwermütige Stimmung gefangen, aber allerhand Rauheiten und Un¬ ebenheiten lassen den Eindruck wieder nicht rein werden. Erst mit dem sanft beginnenden „Mich liebt er" sind die störenden Elemente überwunden, und Scmtuzza erhebt sich sogar für einen Augenblick zu imponirenden Pathos. Mutter Lucia ist tief erschreckt durch die schlimme Kunde und giebt dem in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/194>, abgerufen am 25.08.2024.