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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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erklärt er Ludwig für einen Hysteriker und meint, daß es sich bei ihm "um
die gar nicht seltene Kombination von bloß hysterischen mit echt rheumatischen
Gelenksaffektionen" gehandelt habe, zu denen in den letzten Jahren noch eine
schwere Form von Skorbut getreten sei, "sehr bald komplizirt durch eine überaus
bedenkliche Herzbeutelentzündung und im weitern Verlaufe zu starken Gelenk¬
schwellungen und ausgedehntem Fett- und Muskelschwund führend." Zum
Donnerwetter, wer will denn das alles wissen? Wenn Ludwigs Eltern ihrem
Sohne Nervosität vererbten, so ist das traurig, aber besteht denn irgend eine
Veranlassung, nun das Leben der Eltern zu durchstöbern, um wieder die Ur¬
sache ihrer Nervosität zu entdecken? Genügt nicht jedem vernünftigen Menschen
die einfache Angabe? Und braucht man denn die Formen der Hysterie, ledig¬
lich auf Überlieferung hin, gerade an Dichtern zu untersuchen, giebt es nicht
in den Hospitälern lebendes Material genug? Adolf Sterns Biographie, die
die Entwicklung Ludwigs uach ihren natürlichen Bedingungen vortrefflich dar¬
stellt, ist ein Muster für die Art und Weise, wie das Pathologische im Dichter¬
leben zu behandeln ist. Aber Dr. Sadger ist völlig naiv in seinem Thun, er
meint: "Die deutsche Litteraturkritik, die tausend Kräfte in Bewegung setzt,
wenn es gilt, ein minimales Teilchen aus dem Leben andrer Poeten zu er¬
forschen, hat bis zum laufenden Tage noch keine berufene Feder ausgesnndt (!),
um Otto Ludwig ein wirkliches Denkmal zu setzen." Schönes Denkmalsetzen,
solche Schnüffelei! Der Zug darnach liegt aber in unsrer Zeit, man ist nicht
eher ruhig, als bis man bei jedem großen Mann die ganze irdische Misere,
unter der auch Hinz und Kunz, mir etwas weniger, leiden, nachgewiesen hat;
das, wodurch er über sie emporragt, kaun man dann ignoriren. Und zum
Schluß kommt Meister Lombroso und schreibt: "Wenn ein Genie epileptisch
ist, so ist die Epilepsie bei ihm nicht bloße Begleiterscheinung, sondern sie ist
ein wahrer inordug totius suvstMtmö, um mich im Ärztelatein auszudrücken.
Und hieraus ergiebt sich ein neuer Hinweis darauf, daß das Genie seiner
Natur nach eine epileptoide Erscheinung ist." Nun, die Epilepsie möcht ich
auch haben!

Es wird doch auch wieder einmal eine Zeit kommen, wo Litteratur und
Pathologie ihr ungesundes Bündnis aufgeben, wo man die Welt nicht mehr
als ein Krankenhaus und die Litteraturgeschichte nicht mehr als ein patholo¬
gisches Institut ansieht. Huoä Dsus thus pereat!




erklärt er Ludwig für einen Hysteriker und meint, daß es sich bei ihm „um
die gar nicht seltene Kombination von bloß hysterischen mit echt rheumatischen
Gelenksaffektionen" gehandelt habe, zu denen in den letzten Jahren noch eine
schwere Form von Skorbut getreten sei, „sehr bald komplizirt durch eine überaus
bedenkliche Herzbeutelentzündung und im weitern Verlaufe zu starken Gelenk¬
schwellungen und ausgedehntem Fett- und Muskelschwund führend." Zum
Donnerwetter, wer will denn das alles wissen? Wenn Ludwigs Eltern ihrem
Sohne Nervosität vererbten, so ist das traurig, aber besteht denn irgend eine
Veranlassung, nun das Leben der Eltern zu durchstöbern, um wieder die Ur¬
sache ihrer Nervosität zu entdecken? Genügt nicht jedem vernünftigen Menschen
die einfache Angabe? Und braucht man denn die Formen der Hysterie, ledig¬
lich auf Überlieferung hin, gerade an Dichtern zu untersuchen, giebt es nicht
in den Hospitälern lebendes Material genug? Adolf Sterns Biographie, die
die Entwicklung Ludwigs uach ihren natürlichen Bedingungen vortrefflich dar¬
stellt, ist ein Muster für die Art und Weise, wie das Pathologische im Dichter¬
leben zu behandeln ist. Aber Dr. Sadger ist völlig naiv in seinem Thun, er
meint: „Die deutsche Litteraturkritik, die tausend Kräfte in Bewegung setzt,
wenn es gilt, ein minimales Teilchen aus dem Leben andrer Poeten zu er¬
forschen, hat bis zum laufenden Tage noch keine berufene Feder ausgesnndt (!),
um Otto Ludwig ein wirkliches Denkmal zu setzen." Schönes Denkmalsetzen,
solche Schnüffelei! Der Zug darnach liegt aber in unsrer Zeit, man ist nicht
eher ruhig, als bis man bei jedem großen Mann die ganze irdische Misere,
unter der auch Hinz und Kunz, mir etwas weniger, leiden, nachgewiesen hat;
das, wodurch er über sie emporragt, kaun man dann ignoriren. Und zum
Schluß kommt Meister Lombroso und schreibt: „Wenn ein Genie epileptisch
ist, so ist die Epilepsie bei ihm nicht bloße Begleiterscheinung, sondern sie ist
ein wahrer inordug totius suvstMtmö, um mich im Ärztelatein auszudrücken.
Und hieraus ergiebt sich ein neuer Hinweis darauf, daß das Genie seiner
Natur nach eine epileptoide Erscheinung ist." Nun, die Epilepsie möcht ich
auch haben!

Es wird doch auch wieder einmal eine Zeit kommen, wo Litteratur und
Pathologie ihr ungesundes Bündnis aufgeben, wo man die Welt nicht mehr
als ein Krankenhaus und die Litteraturgeschichte nicht mehr als ein patholo¬
gisches Institut ansieht. Huoä Dsus thus pereat!




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/188>, abgerufen am 22.12.2024.