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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur und Pathologie

kraß dargestellt die Nerven zerreißt "der dunkel und unbestimmt auftauchend
die Nerven kitzelt, ist immer vom Übel. Man soll nicht, wie in den Zeiten
der Konvention, davor zurückbeben, eine Krankheit, sei sie geistiger oder kör¬
perlicher Natur, beim rechten Namen zu nennen, soll nicht verschleiern und
verhüllen, schminken und lügen, aber man soll ebensowenig mit seiner Wahr¬
heit, seinem Mut, seiner -- Frechheit großthun und eine geheime Wollust,
ja eine eigne Größe darin finden, die Menschen zu verwirren und zu er¬
schrecken. Die echte, große Kunst, das weiß ich sicher, wird stets lieber mit
den Gesunden als mit den Kranken zu thun haben, lieber die um vieles
gewaltigern Seelentonfükte kerngesunder Naturen, als das Seufzen und
Jammern der Nervösen, die Agonie der Verlornen, die wüsten Jrrgänge der
Monomanen darstellen. Hamlet hat einen schändlich ermordeten Vater an
Oheim und Mutter zu rächen in einer Welt, die wirklich aus den Fugen ist
oder dem jungen Manne doch so erscheint, König Lear wird wahnsinnig, als
er von den eignen Töchtern wie mit Hunden gehetzt wird, Werther verzweifelt,
als er keine Möglichkeit mehr zu leben sieht -- denn die Gesandtschaftssekretär¬
episode ist doch wohl nicht ganz überflüssig --, Maria Magdalena fällt, weil
sie eine Natur ist, die stets die Konsequenzen ziehen muß, also aus Stärke,
nicht aus Schwäche. Etwas Pathologisches steckt zweifellos in allen diesen
Werken, aber der Kritiker, der sie pathologische nennte, wäre, mit Respekt zu
sagen, ein Esel. Dagegen sind die Werke der Neuesten fast nur pathologisch,
und so traue ich ihnen, obwohl ich ihnen das Daseinsrecht nicht abstreite,
eine bedeutende Zukunft, aufrichtig gestanden, nicht zu. Tritt einmal eine
Gesundung unsrer gesellschaftlichen Verhältnisse ein, so werden sie wahrscheinlich
sehr bald Kuriositäten sein, ja was z.B. Ibsen, wenigstens seine spätern
Werke anlangt, so bin ich überzeugt, daß er im Grunde schon jetzt eine ist.
Wenn man etwa tausend Damen und Herren der europäischen "Gesellschaft,"
die der menschlichen Gesellschaft nicht allzuviel nütze sind, irgendwie ver¬
schwinden lassen könnte, so wäre seine Wirkung vielleicht plötzlich aus; denn
der Rest folgt nur der Mode. Das erscheint als eine fürchterliche Philistern,
aber ich fürchte diesen Schein nicht.

Ich habe bisher immer noch die Annahme bestehen lassen, daß der Dichter
der "Krankheitsgeschichten" selber gesund sei, und in der That hindert auch
nichts, daran in den meisten Fällen festzuhalten. Der von Hegel berichtete
Ausspruch, den er nach einer Vorlesung des "Hamlet" durch Tieck gethan haben
soll: "Wie zerrissen muß dieser Mensch (nämlich Shakespeare) gewesen sein!"
beweist nnr, daß der große Philosoph von dem Wesen des Dichters und der
Poesie nicht gerade die klarste Vorstellung hatte. Wohl setzt jede Poesie innere
Erlebnisse des Dichters voraus, aber der anschauliche Schilderer des Wahn¬
sinns braucht selbstverständlich darum noch nicht wahnsinnig, der Schilderer
der Schwindsucht noch nicht schwindsüchtig gewesen zu sein. Auch haben wir


Litteratur und Pathologie

kraß dargestellt die Nerven zerreißt »der dunkel und unbestimmt auftauchend
die Nerven kitzelt, ist immer vom Übel. Man soll nicht, wie in den Zeiten
der Konvention, davor zurückbeben, eine Krankheit, sei sie geistiger oder kör¬
perlicher Natur, beim rechten Namen zu nennen, soll nicht verschleiern und
verhüllen, schminken und lügen, aber man soll ebensowenig mit seiner Wahr¬
heit, seinem Mut, seiner — Frechheit großthun und eine geheime Wollust,
ja eine eigne Größe darin finden, die Menschen zu verwirren und zu er¬
schrecken. Die echte, große Kunst, das weiß ich sicher, wird stets lieber mit
den Gesunden als mit den Kranken zu thun haben, lieber die um vieles
gewaltigern Seelentonfükte kerngesunder Naturen, als das Seufzen und
Jammern der Nervösen, die Agonie der Verlornen, die wüsten Jrrgänge der
Monomanen darstellen. Hamlet hat einen schändlich ermordeten Vater an
Oheim und Mutter zu rächen in einer Welt, die wirklich aus den Fugen ist
oder dem jungen Manne doch so erscheint, König Lear wird wahnsinnig, als
er von den eignen Töchtern wie mit Hunden gehetzt wird, Werther verzweifelt,
als er keine Möglichkeit mehr zu leben sieht — denn die Gesandtschaftssekretär¬
episode ist doch wohl nicht ganz überflüssig —, Maria Magdalena fällt, weil
sie eine Natur ist, die stets die Konsequenzen ziehen muß, also aus Stärke,
nicht aus Schwäche. Etwas Pathologisches steckt zweifellos in allen diesen
Werken, aber der Kritiker, der sie pathologische nennte, wäre, mit Respekt zu
sagen, ein Esel. Dagegen sind die Werke der Neuesten fast nur pathologisch,
und so traue ich ihnen, obwohl ich ihnen das Daseinsrecht nicht abstreite,
eine bedeutende Zukunft, aufrichtig gestanden, nicht zu. Tritt einmal eine
Gesundung unsrer gesellschaftlichen Verhältnisse ein, so werden sie wahrscheinlich
sehr bald Kuriositäten sein, ja was z.B. Ibsen, wenigstens seine spätern
Werke anlangt, so bin ich überzeugt, daß er im Grunde schon jetzt eine ist.
Wenn man etwa tausend Damen und Herren der europäischen „Gesellschaft,"
die der menschlichen Gesellschaft nicht allzuviel nütze sind, irgendwie ver¬
schwinden lassen könnte, so wäre seine Wirkung vielleicht plötzlich aus; denn
der Rest folgt nur der Mode. Das erscheint als eine fürchterliche Philistern,
aber ich fürchte diesen Schein nicht.

Ich habe bisher immer noch die Annahme bestehen lassen, daß der Dichter
der „Krankheitsgeschichten" selber gesund sei, und in der That hindert auch
nichts, daran in den meisten Fällen festzuhalten. Der von Hegel berichtete
Ausspruch, den er nach einer Vorlesung des „Hamlet" durch Tieck gethan haben
soll: „Wie zerrissen muß dieser Mensch (nämlich Shakespeare) gewesen sein!"
beweist nnr, daß der große Philosoph von dem Wesen des Dichters und der
Poesie nicht gerade die klarste Vorstellung hatte. Wohl setzt jede Poesie innere
Erlebnisse des Dichters voraus, aber der anschauliche Schilderer des Wahn¬
sinns braucht selbstverständlich darum noch nicht wahnsinnig, der Schilderer
der Schwindsucht noch nicht schwindsüchtig gewesen zu sein. Auch haben wir


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[0186] Litteratur und Pathologie kraß dargestellt die Nerven zerreißt »der dunkel und unbestimmt auftauchend die Nerven kitzelt, ist immer vom Übel. Man soll nicht, wie in den Zeiten der Konvention, davor zurückbeben, eine Krankheit, sei sie geistiger oder kör¬ perlicher Natur, beim rechten Namen zu nennen, soll nicht verschleiern und verhüllen, schminken und lügen, aber man soll ebensowenig mit seiner Wahr¬ heit, seinem Mut, seiner — Frechheit großthun und eine geheime Wollust, ja eine eigne Größe darin finden, die Menschen zu verwirren und zu er¬ schrecken. Die echte, große Kunst, das weiß ich sicher, wird stets lieber mit den Gesunden als mit den Kranken zu thun haben, lieber die um vieles gewaltigern Seelentonfükte kerngesunder Naturen, als das Seufzen und Jammern der Nervösen, die Agonie der Verlornen, die wüsten Jrrgänge der Monomanen darstellen. Hamlet hat einen schändlich ermordeten Vater an Oheim und Mutter zu rächen in einer Welt, die wirklich aus den Fugen ist oder dem jungen Manne doch so erscheint, König Lear wird wahnsinnig, als er von den eignen Töchtern wie mit Hunden gehetzt wird, Werther verzweifelt, als er keine Möglichkeit mehr zu leben sieht — denn die Gesandtschaftssekretär¬ episode ist doch wohl nicht ganz überflüssig —, Maria Magdalena fällt, weil sie eine Natur ist, die stets die Konsequenzen ziehen muß, also aus Stärke, nicht aus Schwäche. Etwas Pathologisches steckt zweifellos in allen diesen Werken, aber der Kritiker, der sie pathologische nennte, wäre, mit Respekt zu sagen, ein Esel. Dagegen sind die Werke der Neuesten fast nur pathologisch, und so traue ich ihnen, obwohl ich ihnen das Daseinsrecht nicht abstreite, eine bedeutende Zukunft, aufrichtig gestanden, nicht zu. Tritt einmal eine Gesundung unsrer gesellschaftlichen Verhältnisse ein, so werden sie wahrscheinlich sehr bald Kuriositäten sein, ja was z.B. Ibsen, wenigstens seine spätern Werke anlangt, so bin ich überzeugt, daß er im Grunde schon jetzt eine ist. Wenn man etwa tausend Damen und Herren der europäischen „Gesellschaft," die der menschlichen Gesellschaft nicht allzuviel nütze sind, irgendwie ver¬ schwinden lassen könnte, so wäre seine Wirkung vielleicht plötzlich aus; denn der Rest folgt nur der Mode. Das erscheint als eine fürchterliche Philistern, aber ich fürchte diesen Schein nicht. Ich habe bisher immer noch die Annahme bestehen lassen, daß der Dichter der „Krankheitsgeschichten" selber gesund sei, und in der That hindert auch nichts, daran in den meisten Fällen festzuhalten. Der von Hegel berichtete Ausspruch, den er nach einer Vorlesung des „Hamlet" durch Tieck gethan haben soll: „Wie zerrissen muß dieser Mensch (nämlich Shakespeare) gewesen sein!" beweist nnr, daß der große Philosoph von dem Wesen des Dichters und der Poesie nicht gerade die klarste Vorstellung hatte. Wohl setzt jede Poesie innere Erlebnisse des Dichters voraus, aber der anschauliche Schilderer des Wahn¬ sinns braucht selbstverständlich darum noch nicht wahnsinnig, der Schilderer der Schwindsucht noch nicht schwindsüchtig gewesen zu sein. Auch haben wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/186>, abgerufen am 26.08.2024.