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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur und Pathologie

unter dem Einfluß der Krankheit begangnen Thaten als normal, ja oft als
groß hinstellt, als auch in kraß und schwarz malender, indem man die Gräßlich¬
keiten häuft und die Aussichten auf Gesundung, sei es auch uur der Seele,
jäh und unvermittelt abschneidet. Damit kommen wir zu dem dritten Punkt.

Das Krankheitsbild als Weltbild! Gewiß, jede größere Dichtung soll
ein Weltbild geben, und ein Krankheitsbild wird unter Umständen, in tranken
Zeiten ein Weltbild sein. Aber anch kranke Zeiten sind uicht ganz hoff¬
nungslos, alles in der Welt hat seinen Gegensatz, und von einem großen
Dichter nimmt man an, daß er die Dinge in der richtigen Perspektive sieht.
Die Neuern sehen vielfach schief oder sind kurzsichtig. Um ein Beispiel zu
nennen: Zola thut, als ob seine Nana das ganze französische Volk vergiftet
hätte, Gerhart Hauptmann macht ein schlesisches Säufernest, das es so kaum
giebt, zum Spiegelbild der sozialen Zustände unsrer Zeit (denn daß er keine
Ausnahme hinzustellen gedachte, beweist schon die Gestalt seines Reformators
Loth), und so glaubt auch der geringste unter unsern deutschen Sozial¬
dramatikern, daß das kleine Stuck Großstadtdreck, das er abspiegelt, wirklich
die ganze Welt bedeute. Nun ja, jeder ist einmal in der Stimmung, das
Stück Welt, das er gerade vor sich sieht, als die ganze Welt anzusehen, und
eine Krankheit, an der er selbst oder ihm nahestehende leiden, als das Leiden
der Welt; auch mag Kraft und Wucht der Darstellung oft eine Folge solcher
Einseitigkeit sein. Aber große Dichter haben bei aller Treue im einzelnen stets
sud sxsviö g-elerni geschaffen, und ich habe wenig Vertrauen zu den Leuten,
die über den Straßenschmutz den blauen Himmel, der sich doch sogar in den
Lachen spiegelt, nicht sehen. Um es noch einmal kurz zu wiederholen: ich
gestehe dem Dichter das Recht zu, Krankheitsbilder zugeben; denn die Krank¬
heit ist in der Welt, und man schafft sie nicht damit hinweg, daß man die
Augen zumacht. Ich verlange aber, daß man dem Krankheitsbilde die Dar¬
stellung der Entstehung der Krankheit, soweit diese aus sozialen oder persön¬
lichen Verhältnissen zu erklären ist, stets hinzufüge, und ferner, daß man die
Krankheit als Krankheit hinstelle und ihren natürlichen Verlauf nehmen lasse,
ohne jemals zu vergessen, daß es auch Gesunde giebt. Das Pathologische
aus Lust am Pathologischen will ich nicht, und so verdamme ich z. B. auch
die frühen sinnlichen Regungen in Hnuptmanns "Hanncle"; denn ein Kind,
bei dem sie noch nicht erwacht sind, hätte künstlerisch in diesem Falle genau
dieselben Dienste gethan, und es giebt wohl noch solche. Nebenbei bemerkt,
verdamme ich auch die geheimnisvolle illegitime Abstammung des Hannele von
einem den höhern Ständen angehörigen Vater; des Maurers Tochter durfte
das Kind nicht sein, aber als zugebrachtes Kind erster Ehe war es hinreichend
charakterisirt. Oder meint der Dichter etwa, daß nur Kinder gebildeter
Menschen so poesievoll träumen können? Doch ich wollte mich nicht beim
einzelnen aufhalten. Das Pathologische um des Pathologischen willen, das


Grenzboten II 1835 ZZ
Litteratur und Pathologie

unter dem Einfluß der Krankheit begangnen Thaten als normal, ja oft als
groß hinstellt, als auch in kraß und schwarz malender, indem man die Gräßlich¬
keiten häuft und die Aussichten auf Gesundung, sei es auch uur der Seele,
jäh und unvermittelt abschneidet. Damit kommen wir zu dem dritten Punkt.

Das Krankheitsbild als Weltbild! Gewiß, jede größere Dichtung soll
ein Weltbild geben, und ein Krankheitsbild wird unter Umständen, in tranken
Zeiten ein Weltbild sein. Aber anch kranke Zeiten sind uicht ganz hoff¬
nungslos, alles in der Welt hat seinen Gegensatz, und von einem großen
Dichter nimmt man an, daß er die Dinge in der richtigen Perspektive sieht.
Die Neuern sehen vielfach schief oder sind kurzsichtig. Um ein Beispiel zu
nennen: Zola thut, als ob seine Nana das ganze französische Volk vergiftet
hätte, Gerhart Hauptmann macht ein schlesisches Säufernest, das es so kaum
giebt, zum Spiegelbild der sozialen Zustände unsrer Zeit (denn daß er keine
Ausnahme hinzustellen gedachte, beweist schon die Gestalt seines Reformators
Loth), und so glaubt auch der geringste unter unsern deutschen Sozial¬
dramatikern, daß das kleine Stuck Großstadtdreck, das er abspiegelt, wirklich
die ganze Welt bedeute. Nun ja, jeder ist einmal in der Stimmung, das
Stück Welt, das er gerade vor sich sieht, als die ganze Welt anzusehen, und
eine Krankheit, an der er selbst oder ihm nahestehende leiden, als das Leiden
der Welt; auch mag Kraft und Wucht der Darstellung oft eine Folge solcher
Einseitigkeit sein. Aber große Dichter haben bei aller Treue im einzelnen stets
sud sxsviö g-elerni geschaffen, und ich habe wenig Vertrauen zu den Leuten,
die über den Straßenschmutz den blauen Himmel, der sich doch sogar in den
Lachen spiegelt, nicht sehen. Um es noch einmal kurz zu wiederholen: ich
gestehe dem Dichter das Recht zu, Krankheitsbilder zugeben; denn die Krank¬
heit ist in der Welt, und man schafft sie nicht damit hinweg, daß man die
Augen zumacht. Ich verlange aber, daß man dem Krankheitsbilde die Dar¬
stellung der Entstehung der Krankheit, soweit diese aus sozialen oder persön¬
lichen Verhältnissen zu erklären ist, stets hinzufüge, und ferner, daß man die
Krankheit als Krankheit hinstelle und ihren natürlichen Verlauf nehmen lasse,
ohne jemals zu vergessen, daß es auch Gesunde giebt. Das Pathologische
aus Lust am Pathologischen will ich nicht, und so verdamme ich z. B. auch
die frühen sinnlichen Regungen in Hnuptmanns „Hanncle"; denn ein Kind,
bei dem sie noch nicht erwacht sind, hätte künstlerisch in diesem Falle genau
dieselben Dienste gethan, und es giebt wohl noch solche. Nebenbei bemerkt,
verdamme ich auch die geheimnisvolle illegitime Abstammung des Hannele von
einem den höhern Ständen angehörigen Vater; des Maurers Tochter durfte
das Kind nicht sein, aber als zugebrachtes Kind erster Ehe war es hinreichend
charakterisirt. Oder meint der Dichter etwa, daß nur Kinder gebildeter
Menschen so poesievoll träumen können? Doch ich wollte mich nicht beim
einzelnen aufhalten. Das Pathologische um des Pathologischen willen, das


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[0185] Litteratur und Pathologie unter dem Einfluß der Krankheit begangnen Thaten als normal, ja oft als groß hinstellt, als auch in kraß und schwarz malender, indem man die Gräßlich¬ keiten häuft und die Aussichten auf Gesundung, sei es auch uur der Seele, jäh und unvermittelt abschneidet. Damit kommen wir zu dem dritten Punkt. Das Krankheitsbild als Weltbild! Gewiß, jede größere Dichtung soll ein Weltbild geben, und ein Krankheitsbild wird unter Umständen, in tranken Zeiten ein Weltbild sein. Aber anch kranke Zeiten sind uicht ganz hoff¬ nungslos, alles in der Welt hat seinen Gegensatz, und von einem großen Dichter nimmt man an, daß er die Dinge in der richtigen Perspektive sieht. Die Neuern sehen vielfach schief oder sind kurzsichtig. Um ein Beispiel zu nennen: Zola thut, als ob seine Nana das ganze französische Volk vergiftet hätte, Gerhart Hauptmann macht ein schlesisches Säufernest, das es so kaum giebt, zum Spiegelbild der sozialen Zustände unsrer Zeit (denn daß er keine Ausnahme hinzustellen gedachte, beweist schon die Gestalt seines Reformators Loth), und so glaubt auch der geringste unter unsern deutschen Sozial¬ dramatikern, daß das kleine Stuck Großstadtdreck, das er abspiegelt, wirklich die ganze Welt bedeute. Nun ja, jeder ist einmal in der Stimmung, das Stück Welt, das er gerade vor sich sieht, als die ganze Welt anzusehen, und eine Krankheit, an der er selbst oder ihm nahestehende leiden, als das Leiden der Welt; auch mag Kraft und Wucht der Darstellung oft eine Folge solcher Einseitigkeit sein. Aber große Dichter haben bei aller Treue im einzelnen stets sud sxsviö g-elerni geschaffen, und ich habe wenig Vertrauen zu den Leuten, die über den Straßenschmutz den blauen Himmel, der sich doch sogar in den Lachen spiegelt, nicht sehen. Um es noch einmal kurz zu wiederholen: ich gestehe dem Dichter das Recht zu, Krankheitsbilder zugeben; denn die Krank¬ heit ist in der Welt, und man schafft sie nicht damit hinweg, daß man die Augen zumacht. Ich verlange aber, daß man dem Krankheitsbilde die Dar¬ stellung der Entstehung der Krankheit, soweit diese aus sozialen oder persön¬ lichen Verhältnissen zu erklären ist, stets hinzufüge, und ferner, daß man die Krankheit als Krankheit hinstelle und ihren natürlichen Verlauf nehmen lasse, ohne jemals zu vergessen, daß es auch Gesunde giebt. Das Pathologische aus Lust am Pathologischen will ich nicht, und so verdamme ich z. B. auch die frühen sinnlichen Regungen in Hnuptmanns „Hanncle"; denn ein Kind, bei dem sie noch nicht erwacht sind, hätte künstlerisch in diesem Falle genau dieselben Dienste gethan, und es giebt wohl noch solche. Nebenbei bemerkt, verdamme ich auch die geheimnisvolle illegitime Abstammung des Hannele von einem den höhern Ständen angehörigen Vater; des Maurers Tochter durfte das Kind nicht sein, aber als zugebrachtes Kind erster Ehe war es hinreichend charakterisirt. Oder meint der Dichter etwa, daß nur Kinder gebildeter Menschen so poesievoll träumen können? Doch ich wollte mich nicht beim einzelnen aufhalten. Das Pathologische um des Pathologischen willen, das Grenzboten II 1835 ZZ

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/185>, abgerufen am 26.08.2024.