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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur und Pathologie

Dichter Krankheitsbilder geben, und namentlich in kranker Zeit wird ihn nichts
abhalten, anch einmal das grausigste Gemälde körperlicher oder geistiger Ver¬
kommenheit zu entwerfen, wenn es ihn der kategorische Imperativ seiner
Künstlernatur heißt.

Aber man hat in der neuesten Dichtung fast nur Krankenbilder gegeben,
man hat sich ferner die dichterische Entwicklung dabei äußerst bequem gemacht,
man hat endlich seine Krankheitsgeschichten mit allzugroßer Kühnheit als
Spiegelbilder der ganzen Welt hingestellt, dazu allerdings durch die vorher
übliche Schönmalerei verleitet. Was den ersten Punkt betrifft, so genügt es,
auf das zu Anfang gegebne kurze Verzeichnis zu verweisen; nur die großen
Krankheitsschilderer unter den Dichtern haben heute "Ruf." Der zweite Punkt
ist ausführlicher zu behandeln; hier ist vor allein von der Vererbung zu reden.
Diese mag in der Naturwissenschaft mit Recht die allerwichtigste Rolle spielen,
für das Kunstwerk, das Drama wenigstens, bedeutet sie gar nichts, und zwar
aus dem einfachen Grunde, weil sie nicht darstellbar, dann auch noch, weil
sie im einzelnen Falle stets eine Relativität ist, auf die sich ein wahrer Künstler
nicht einlassen kann. Ibsen mag in den "Gespenstern" noch so viel von den
Ruchlosigkeiten des alten Atving erzählen lassen, anschaulich machen kann er
uns den Zusammenhang zwischen Vater und Sohn auf keine Weise, und daher
befinden wir uns mit ihm im Grunde in der Region der wirklichen Gespenster¬
geschichten, die ja wohl gut erzählt, auch einen großen Eindruck machen können,
Anspruch auf Treu und Glauben aber gewiß nicht haben und zur.Poesie noch
immer nicht gerechnet werden, da sie die natürliche psychologische Entwicklung
vermissen lassen, die z. B. noch das Märchen trotz all seiner Wunder hat.
Und dann: Alving muß seinen Hang zur Ausschweifung doch auch ererbt
haben, also können wir auch seine Eltern zu sehen beanspruchen, und so fort
in intiniwin. Die Vererbungsdramen und -romane müßten eigentlich alle mit
Adam beginnen. Die Vererbung ist daher als Genesis eines Schicksals künst¬
lerisch nicht zu gebrauchen, ja nicht einmal als fortwirkendes Begleitmotiv,
eben ihrer Relativität wegen; denn es ist ja bekannt, daß man vom Vater
wie von der Mutter erben, ja selbst den Großeltern, den Onkeln und Tanten
mehr gleichen kann als den Erzeugern. Höchstens im Detail, als Farbe etwa,
wäre der Hinweis ans die Abstammung zu erlauben. Man könnte nun sagen:
Jene Relativität haben alle künstlerischen Motive; wenn das oder das nicht
früher so geschehen oder gewesen wäre, so würde das oder das nie eingetreten
sein. Aber das ist ein schlechter Künstler, bei dem man dergleichen schwankenden
Motivirungen begegnet. Die Stärke des Künstlers liegt eben in den Motiven.
Wo man im Kunstwerk nur sagen muß: Das kann so sein! da fehlt noch
etwas; bei jedem wahren Künstler ruft man jederzeit: Das ist so! und bei
einigen sogar: Das muß so sein! dies bei den echten Tragikern, bei denen das
Gesetz der Notwendigkeit im ganzen wie im einzelnen das Kunstwerk beherrscht,


Litteratur und Pathologie

Dichter Krankheitsbilder geben, und namentlich in kranker Zeit wird ihn nichts
abhalten, anch einmal das grausigste Gemälde körperlicher oder geistiger Ver¬
kommenheit zu entwerfen, wenn es ihn der kategorische Imperativ seiner
Künstlernatur heißt.

Aber man hat in der neuesten Dichtung fast nur Krankenbilder gegeben,
man hat sich ferner die dichterische Entwicklung dabei äußerst bequem gemacht,
man hat endlich seine Krankheitsgeschichten mit allzugroßer Kühnheit als
Spiegelbilder der ganzen Welt hingestellt, dazu allerdings durch die vorher
übliche Schönmalerei verleitet. Was den ersten Punkt betrifft, so genügt es,
auf das zu Anfang gegebne kurze Verzeichnis zu verweisen; nur die großen
Krankheitsschilderer unter den Dichtern haben heute „Ruf." Der zweite Punkt
ist ausführlicher zu behandeln; hier ist vor allein von der Vererbung zu reden.
Diese mag in der Naturwissenschaft mit Recht die allerwichtigste Rolle spielen,
für das Kunstwerk, das Drama wenigstens, bedeutet sie gar nichts, und zwar
aus dem einfachen Grunde, weil sie nicht darstellbar, dann auch noch, weil
sie im einzelnen Falle stets eine Relativität ist, auf die sich ein wahrer Künstler
nicht einlassen kann. Ibsen mag in den „Gespenstern" noch so viel von den
Ruchlosigkeiten des alten Atving erzählen lassen, anschaulich machen kann er
uns den Zusammenhang zwischen Vater und Sohn auf keine Weise, und daher
befinden wir uns mit ihm im Grunde in der Region der wirklichen Gespenster¬
geschichten, die ja wohl gut erzählt, auch einen großen Eindruck machen können,
Anspruch auf Treu und Glauben aber gewiß nicht haben und zur.Poesie noch
immer nicht gerechnet werden, da sie die natürliche psychologische Entwicklung
vermissen lassen, die z. B. noch das Märchen trotz all seiner Wunder hat.
Und dann: Alving muß seinen Hang zur Ausschweifung doch auch ererbt
haben, also können wir auch seine Eltern zu sehen beanspruchen, und so fort
in intiniwin. Die Vererbungsdramen und -romane müßten eigentlich alle mit
Adam beginnen. Die Vererbung ist daher als Genesis eines Schicksals künst¬
lerisch nicht zu gebrauchen, ja nicht einmal als fortwirkendes Begleitmotiv,
eben ihrer Relativität wegen; denn es ist ja bekannt, daß man vom Vater
wie von der Mutter erben, ja selbst den Großeltern, den Onkeln und Tanten
mehr gleichen kann als den Erzeugern. Höchstens im Detail, als Farbe etwa,
wäre der Hinweis ans die Abstammung zu erlauben. Man könnte nun sagen:
Jene Relativität haben alle künstlerischen Motive; wenn das oder das nicht
früher so geschehen oder gewesen wäre, so würde das oder das nie eingetreten
sein. Aber das ist ein schlechter Künstler, bei dem man dergleichen schwankenden
Motivirungen begegnet. Die Stärke des Künstlers liegt eben in den Motiven.
Wo man im Kunstwerk nur sagen muß: Das kann so sein! da fehlt noch
etwas; bei jedem wahren Künstler ruft man jederzeit: Das ist so! und bei
einigen sogar: Das muß so sein! dies bei den echten Tragikern, bei denen das
Gesetz der Notwendigkeit im ganzen wie im einzelnen das Kunstwerk beherrscht,


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[0183] Litteratur und Pathologie Dichter Krankheitsbilder geben, und namentlich in kranker Zeit wird ihn nichts abhalten, anch einmal das grausigste Gemälde körperlicher oder geistiger Ver¬ kommenheit zu entwerfen, wenn es ihn der kategorische Imperativ seiner Künstlernatur heißt. Aber man hat in der neuesten Dichtung fast nur Krankenbilder gegeben, man hat sich ferner die dichterische Entwicklung dabei äußerst bequem gemacht, man hat endlich seine Krankheitsgeschichten mit allzugroßer Kühnheit als Spiegelbilder der ganzen Welt hingestellt, dazu allerdings durch die vorher übliche Schönmalerei verleitet. Was den ersten Punkt betrifft, so genügt es, auf das zu Anfang gegebne kurze Verzeichnis zu verweisen; nur die großen Krankheitsschilderer unter den Dichtern haben heute „Ruf." Der zweite Punkt ist ausführlicher zu behandeln; hier ist vor allein von der Vererbung zu reden. Diese mag in der Naturwissenschaft mit Recht die allerwichtigste Rolle spielen, für das Kunstwerk, das Drama wenigstens, bedeutet sie gar nichts, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie nicht darstellbar, dann auch noch, weil sie im einzelnen Falle stets eine Relativität ist, auf die sich ein wahrer Künstler nicht einlassen kann. Ibsen mag in den „Gespenstern" noch so viel von den Ruchlosigkeiten des alten Atving erzählen lassen, anschaulich machen kann er uns den Zusammenhang zwischen Vater und Sohn auf keine Weise, und daher befinden wir uns mit ihm im Grunde in der Region der wirklichen Gespenster¬ geschichten, die ja wohl gut erzählt, auch einen großen Eindruck machen können, Anspruch auf Treu und Glauben aber gewiß nicht haben und zur.Poesie noch immer nicht gerechnet werden, da sie die natürliche psychologische Entwicklung vermissen lassen, die z. B. noch das Märchen trotz all seiner Wunder hat. Und dann: Alving muß seinen Hang zur Ausschweifung doch auch ererbt haben, also können wir auch seine Eltern zu sehen beanspruchen, und so fort in intiniwin. Die Vererbungsdramen und -romane müßten eigentlich alle mit Adam beginnen. Die Vererbung ist daher als Genesis eines Schicksals künst¬ lerisch nicht zu gebrauchen, ja nicht einmal als fortwirkendes Begleitmotiv, eben ihrer Relativität wegen; denn es ist ja bekannt, daß man vom Vater wie von der Mutter erben, ja selbst den Großeltern, den Onkeln und Tanten mehr gleichen kann als den Erzeugern. Höchstens im Detail, als Farbe etwa, wäre der Hinweis ans die Abstammung zu erlauben. Man könnte nun sagen: Jene Relativität haben alle künstlerischen Motive; wenn das oder das nicht früher so geschehen oder gewesen wäre, so würde das oder das nie eingetreten sein. Aber das ist ein schlechter Künstler, bei dem man dergleichen schwankenden Motivirungen begegnet. Die Stärke des Künstlers liegt eben in den Motiven. Wo man im Kunstwerk nur sagen muß: Das kann so sein! da fehlt noch etwas; bei jedem wahren Künstler ruft man jederzeit: Das ist so! und bei einigen sogar: Das muß so sein! dies bei den echten Tragikern, bei denen das Gesetz der Notwendigkeit im ganzen wie im einzelnen das Kunstwerk beherrscht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/183>, abgerufen am 26.08.2024.