Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.Litteratur und Pathologie Darnach könnte wenigstens die tragische Kunst nicht ohne Krankheit sertig Litteratur und Pathologie Darnach könnte wenigstens die tragische Kunst nicht ohne Krankheit sertig <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0182" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219858"/> <fw type="header" place="top"> Litteratur und Pathologie</fw><lb/> <p xml:id="ID_600" prev="#ID_599" next="#ID_601"> Darnach könnte wenigstens die tragische Kunst nicht ohne Krankheit sertig<lb/> werden, und in der That sehen wir auch schon bei den alten Dichtern, von<lb/> unserm sozialen Drama ganz abgesehen, die Tragödie überall da entstehen, wo<lb/> die Leidenschaften krankhaft werden. Krankheit in diesem Sinne aus der Poesie<lb/> (denn nicht nur für das Drama, für alle große Poesie, die den Weltlauf<lb/> spiegelt, gelten diese Satze) verbannen zu wollen, hieße die Poesie vernichten,<lb/> hieße Macbeth und Othello, Hamlet und Faust, Romeo und Julie und Werther,<lb/> und wie die Meisterwerke aller Zeiten und Völker sonst noch heißen, zu den<lb/> Toten werfen. Aber die alte Kritik dachte, wenn sie das Wort pathologisch<lb/> gebrauchte, an Krankheit in diesem Sinne gar nicht, sie hatte nur die Krank¬<lb/> heiten im Auge, die ins Irrenhaus oder ins Hospital oder auch ins Gefängnis<lb/> führen, sie verlangte von den Menschen der Dichtung, daß sie für keine dieser<lb/> drei Anstalten reif wären, dem Arzte, was des Arztes, der Polizei, was der<lb/> Polizei sei, überlassen bleibe. Und sie hatte wohl bis zu einem gewissen Grade<lb/> Recht: die Dichtung kann zwar auch Krankheitsbilder geben, aber die, die<lb/> weiter nichts als solche bietet, erscheint doch als ziemlich überflüssig, da die<lb/> Wissenschaft dasselbe, und zwar für die, die ihre Sprache verstehen, ohne<lb/> Zweifel außerordentlich viel genauer thut. Es muß also notgedrungen zu dem<lb/> Krankheitsbilde, sagen wir zu der Darstellung des Schwindsüchtigen, des Säufers,<lb/> des Monomanen irgend welcher Art noch etwas hinzukommen, wenn all¬<lb/> gemein-menschliches, nicht bloß ein Fachinteresse erregt werden soll. Schopen¬<lb/> hauer wollte das Ekelhafte (und ganz ohne solches geht es wohl bei der Dar¬<lb/> stellung keiner einzigen Krankheit ab) überhaupt von der künstlichen Darstellung<lb/> ausgeschlossen wissen, und jedenfalls ertragen wir es nicht, wenn es für sich<lb/> allein auftritt, auch hat in richtiger Erkenntnis dieser Thatsache noch kein<lb/> Künstler die Schilderung des Ekelhaften als Selbstzweck gesetzt, selbst Zola<lb/> nicht in seiner Schilderung der Lourdcspilger. Nach zwei Seiten nun kann ein<lb/> Krankheitsbild künstlerisch bedingt und in Wirkung gesetzt werden, erstens,<lb/> indem man die natürliche Entwicklung der Krankheit aus sozialen und per¬<lb/> sönlichen Verhältnissen, sodann, indem man ihre Wirkung auf die äußern Ver¬<lb/> hältnisse wie das Seelenleben des Kranken und seiner Umgebung darstellt.<lb/> Es giebt ja überhaupt keine Poesie des Zustands, sondern nur, von den ganz<lb/> kleinen Gattungen abgesehen, eine des Werdens. Indem man die kranken<lb/> Menschen, die ja anch Menschen sind, und deren Leiden, selbst wenn sie selbst¬<lb/> verschuldet sind, auch uus angehen, in der angedeuteten Weise, den für alle<lb/> Poesie maßgebenden Grundsatz des natürlichen Entwickelns anwendend, häufiger<lb/> zum Gegenstande der Dichtung machte, hat man deren Gebiet unzweifelhaft<lb/> erweitert. Der Dichter soll uns ein Weltbild geben, und es hieße doch blind<lb/> sein, wenn man Not und Krankheit in der Welt übersehen, es hieße lügen,<lb/> wenn man sie aus der Darstellung weglassen wollte. Soweit es also die<lb/> Wahrheit und Ehrlichkeit seines Weltbildes erfordert, wird auch der gesunde</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0182]
Litteratur und Pathologie
Darnach könnte wenigstens die tragische Kunst nicht ohne Krankheit sertig
werden, und in der That sehen wir auch schon bei den alten Dichtern, von
unserm sozialen Drama ganz abgesehen, die Tragödie überall da entstehen, wo
die Leidenschaften krankhaft werden. Krankheit in diesem Sinne aus der Poesie
(denn nicht nur für das Drama, für alle große Poesie, die den Weltlauf
spiegelt, gelten diese Satze) verbannen zu wollen, hieße die Poesie vernichten,
hieße Macbeth und Othello, Hamlet und Faust, Romeo und Julie und Werther,
und wie die Meisterwerke aller Zeiten und Völker sonst noch heißen, zu den
Toten werfen. Aber die alte Kritik dachte, wenn sie das Wort pathologisch
gebrauchte, an Krankheit in diesem Sinne gar nicht, sie hatte nur die Krank¬
heiten im Auge, die ins Irrenhaus oder ins Hospital oder auch ins Gefängnis
führen, sie verlangte von den Menschen der Dichtung, daß sie für keine dieser
drei Anstalten reif wären, dem Arzte, was des Arztes, der Polizei, was der
Polizei sei, überlassen bleibe. Und sie hatte wohl bis zu einem gewissen Grade
Recht: die Dichtung kann zwar auch Krankheitsbilder geben, aber die, die
weiter nichts als solche bietet, erscheint doch als ziemlich überflüssig, da die
Wissenschaft dasselbe, und zwar für die, die ihre Sprache verstehen, ohne
Zweifel außerordentlich viel genauer thut. Es muß also notgedrungen zu dem
Krankheitsbilde, sagen wir zu der Darstellung des Schwindsüchtigen, des Säufers,
des Monomanen irgend welcher Art noch etwas hinzukommen, wenn all¬
gemein-menschliches, nicht bloß ein Fachinteresse erregt werden soll. Schopen¬
hauer wollte das Ekelhafte (und ganz ohne solches geht es wohl bei der Dar¬
stellung keiner einzigen Krankheit ab) überhaupt von der künstlichen Darstellung
ausgeschlossen wissen, und jedenfalls ertragen wir es nicht, wenn es für sich
allein auftritt, auch hat in richtiger Erkenntnis dieser Thatsache noch kein
Künstler die Schilderung des Ekelhaften als Selbstzweck gesetzt, selbst Zola
nicht in seiner Schilderung der Lourdcspilger. Nach zwei Seiten nun kann ein
Krankheitsbild künstlerisch bedingt und in Wirkung gesetzt werden, erstens,
indem man die natürliche Entwicklung der Krankheit aus sozialen und per¬
sönlichen Verhältnissen, sodann, indem man ihre Wirkung auf die äußern Ver¬
hältnisse wie das Seelenleben des Kranken und seiner Umgebung darstellt.
Es giebt ja überhaupt keine Poesie des Zustands, sondern nur, von den ganz
kleinen Gattungen abgesehen, eine des Werdens. Indem man die kranken
Menschen, die ja anch Menschen sind, und deren Leiden, selbst wenn sie selbst¬
verschuldet sind, auch uus angehen, in der angedeuteten Weise, den für alle
Poesie maßgebenden Grundsatz des natürlichen Entwickelns anwendend, häufiger
zum Gegenstande der Dichtung machte, hat man deren Gebiet unzweifelhaft
erweitert. Der Dichter soll uns ein Weltbild geben, und es hieße doch blind
sein, wenn man Not und Krankheit in der Welt übersehen, es hieße lügen,
wenn man sie aus der Darstellung weglassen wollte. Soweit es also die
Wahrheit und Ehrlichkeit seines Weltbildes erfordert, wird auch der gesunde
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