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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur und Pathologie

forschern, die bald jede Zeile der Werke bedeutenderer Dichter als bewußte
oder unbewußte Entlehnung von andern Dichtern nachgewiesen haben, auch
medizinisch gebildete erhalten, die nun ihrerseits nicht bloß das gesamte Schaffen
des Dichters als das Produkt einer Geisteskrankheit (vergleiche die Entstehung
der Perle), sondern auch für die einzelnen Teile der Werke die jedesmalige
krankhafte Gemütsstimmung und Körperverfassung als allein bestimmend nach¬
weisen werden. Wenn man zur Erklärung Verdauungsstörungen und Erkäl¬
tungen nicht verschmäht, kann man ohne Zweifel denselben Grad der "Exakt¬
heit" erreichen wie die Philologen. Scherz beiseite, die Gesahr der "pathologischen
Exegese" liegt in der That näher, als man denkt. Vor einiger Zeit siel mir
ein Aufsatz von einem Dr. I. Sadger in die Hände, der unter der Überschrift
"Das Krankheitsrätsel eines Dichters" an den Biographen Otto Ludwigs allerlei
seltsame Ansprüche stellte, und von demselben Verfasser las ich dann anch
Studien über einzelne Gestalten Ibsens und Gerhart Hauptmanns vom medi¬
zinischen Standpunkte.*) Ich bestreite nun durchaus nicht, wie ich gleich hier
hervorheben will, daß der Dichter unter Umständen pathologische und psychia¬
trische Prozesse darstellen, daß der Litteraturforscher sich bisweilen vom Arzte
Rats erholen muß, bin ich doch schon lange von der Notwendigkeit überzeugt,
unsrer Ästhetik eine gute naturwissenschaftliche, insbesondre psychologische Grund¬
lage zu geben; aber die Litteratur ganz zu dargestellter, die Litteraturgeschichte
zu angewandter Pathologie zu machen, liegt doch schwerlich eine andre Ver¬
anlassung vor, als die Rücksicht auf die krankhafte Sensationssucht und im
zweiten Fall die skandalöse Neugierde des Publikums.

Gesund und krank sind Begriffe, die auf die Poesie nicht ohne weiteres
anzuwenden sind, und wenn Goethe einmal schlechtweg das Klassische als das
Gesunde, das Romantische als das Kranke definirte, so hatte er bei der Ver-
gleichung der Dichtungen von Novalis, Friedrich Schlegel und Tieck mit seineu
eignen und Schillers Dichtungen wohl einige Veranlassung dazu, aber doch nicht
Recht; es kann auch eine kranke klassische und eine gesunde romantische Poesie
geben. Vor allen Dingen ist eine Dichtung noch nicht gesund, wenn sie nur
sogenannte gesunde Stosse, und noch nicht krank, wenn sie Krankheitsprozesse
darstellt. Die Ritterstücke, die rohen Nachahmungen des "Götz von Berlichingen,"
waren sicher stofflich gesund, aber nichts weniger als gesunde Poesie, und
"Hamlet," "Werther," auch "Don Quixote," behandeln ganz sicher geistige
Krankheiten, aber sie sind als Dichtung gesund. Es hat in Deutschland
Perioden gegeben, wo gerade auf die stoffliche Gesundheit der Dichtung be¬
sonders Gewicht gelegt wurde; so in dem Natürlichkeitszeitalter, wo Bürger,
Voß, auch Nicolai und I. I. Engel für weite Kreise den Ton angaben, so



*) Der große Chirurg Thiersch in Leipzig hat vor einigen Jahren Medizinische
D, R, Glossen zum Hamlet veröffentlicht.
Litteratur und Pathologie

forschern, die bald jede Zeile der Werke bedeutenderer Dichter als bewußte
oder unbewußte Entlehnung von andern Dichtern nachgewiesen haben, auch
medizinisch gebildete erhalten, die nun ihrerseits nicht bloß das gesamte Schaffen
des Dichters als das Produkt einer Geisteskrankheit (vergleiche die Entstehung
der Perle), sondern auch für die einzelnen Teile der Werke die jedesmalige
krankhafte Gemütsstimmung und Körperverfassung als allein bestimmend nach¬
weisen werden. Wenn man zur Erklärung Verdauungsstörungen und Erkäl¬
tungen nicht verschmäht, kann man ohne Zweifel denselben Grad der „Exakt¬
heit" erreichen wie die Philologen. Scherz beiseite, die Gesahr der „pathologischen
Exegese" liegt in der That näher, als man denkt. Vor einiger Zeit siel mir
ein Aufsatz von einem Dr. I. Sadger in die Hände, der unter der Überschrift
„Das Krankheitsrätsel eines Dichters" an den Biographen Otto Ludwigs allerlei
seltsame Ansprüche stellte, und von demselben Verfasser las ich dann anch
Studien über einzelne Gestalten Ibsens und Gerhart Hauptmanns vom medi¬
zinischen Standpunkte.*) Ich bestreite nun durchaus nicht, wie ich gleich hier
hervorheben will, daß der Dichter unter Umständen pathologische und psychia¬
trische Prozesse darstellen, daß der Litteraturforscher sich bisweilen vom Arzte
Rats erholen muß, bin ich doch schon lange von der Notwendigkeit überzeugt,
unsrer Ästhetik eine gute naturwissenschaftliche, insbesondre psychologische Grund¬
lage zu geben; aber die Litteratur ganz zu dargestellter, die Litteraturgeschichte
zu angewandter Pathologie zu machen, liegt doch schwerlich eine andre Ver¬
anlassung vor, als die Rücksicht auf die krankhafte Sensationssucht und im
zweiten Fall die skandalöse Neugierde des Publikums.

Gesund und krank sind Begriffe, die auf die Poesie nicht ohne weiteres
anzuwenden sind, und wenn Goethe einmal schlechtweg das Klassische als das
Gesunde, das Romantische als das Kranke definirte, so hatte er bei der Ver-
gleichung der Dichtungen von Novalis, Friedrich Schlegel und Tieck mit seineu
eignen und Schillers Dichtungen wohl einige Veranlassung dazu, aber doch nicht
Recht; es kann auch eine kranke klassische und eine gesunde romantische Poesie
geben. Vor allen Dingen ist eine Dichtung noch nicht gesund, wenn sie nur
sogenannte gesunde Stosse, und noch nicht krank, wenn sie Krankheitsprozesse
darstellt. Die Ritterstücke, die rohen Nachahmungen des „Götz von Berlichingen,"
waren sicher stofflich gesund, aber nichts weniger als gesunde Poesie, und
„Hamlet," „Werther," auch „Don Quixote," behandeln ganz sicher geistige
Krankheiten, aber sie sind als Dichtung gesund. Es hat in Deutschland
Perioden gegeben, wo gerade auf die stoffliche Gesundheit der Dichtung be¬
sonders Gewicht gelegt wurde; so in dem Natürlichkeitszeitalter, wo Bürger,
Voß, auch Nicolai und I. I. Engel für weite Kreise den Ton angaben, so



*) Der große Chirurg Thiersch in Leipzig hat vor einigen Jahren Medizinische
D, R, Glossen zum Hamlet veröffentlicht.
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[0180] Litteratur und Pathologie forschern, die bald jede Zeile der Werke bedeutenderer Dichter als bewußte oder unbewußte Entlehnung von andern Dichtern nachgewiesen haben, auch medizinisch gebildete erhalten, die nun ihrerseits nicht bloß das gesamte Schaffen des Dichters als das Produkt einer Geisteskrankheit (vergleiche die Entstehung der Perle), sondern auch für die einzelnen Teile der Werke die jedesmalige krankhafte Gemütsstimmung und Körperverfassung als allein bestimmend nach¬ weisen werden. Wenn man zur Erklärung Verdauungsstörungen und Erkäl¬ tungen nicht verschmäht, kann man ohne Zweifel denselben Grad der „Exakt¬ heit" erreichen wie die Philologen. Scherz beiseite, die Gesahr der „pathologischen Exegese" liegt in der That näher, als man denkt. Vor einiger Zeit siel mir ein Aufsatz von einem Dr. I. Sadger in die Hände, der unter der Überschrift „Das Krankheitsrätsel eines Dichters" an den Biographen Otto Ludwigs allerlei seltsame Ansprüche stellte, und von demselben Verfasser las ich dann anch Studien über einzelne Gestalten Ibsens und Gerhart Hauptmanns vom medi¬ zinischen Standpunkte.*) Ich bestreite nun durchaus nicht, wie ich gleich hier hervorheben will, daß der Dichter unter Umständen pathologische und psychia¬ trische Prozesse darstellen, daß der Litteraturforscher sich bisweilen vom Arzte Rats erholen muß, bin ich doch schon lange von der Notwendigkeit überzeugt, unsrer Ästhetik eine gute naturwissenschaftliche, insbesondre psychologische Grund¬ lage zu geben; aber die Litteratur ganz zu dargestellter, die Litteraturgeschichte zu angewandter Pathologie zu machen, liegt doch schwerlich eine andre Ver¬ anlassung vor, als die Rücksicht auf die krankhafte Sensationssucht und im zweiten Fall die skandalöse Neugierde des Publikums. Gesund und krank sind Begriffe, die auf die Poesie nicht ohne weiteres anzuwenden sind, und wenn Goethe einmal schlechtweg das Klassische als das Gesunde, das Romantische als das Kranke definirte, so hatte er bei der Ver- gleichung der Dichtungen von Novalis, Friedrich Schlegel und Tieck mit seineu eignen und Schillers Dichtungen wohl einige Veranlassung dazu, aber doch nicht Recht; es kann auch eine kranke klassische und eine gesunde romantische Poesie geben. Vor allen Dingen ist eine Dichtung noch nicht gesund, wenn sie nur sogenannte gesunde Stosse, und noch nicht krank, wenn sie Krankheitsprozesse darstellt. Die Ritterstücke, die rohen Nachahmungen des „Götz von Berlichingen," waren sicher stofflich gesund, aber nichts weniger als gesunde Poesie, und „Hamlet," „Werther," auch „Don Quixote," behandeln ganz sicher geistige Krankheiten, aber sie sind als Dichtung gesund. Es hat in Deutschland Perioden gegeben, wo gerade auf die stoffliche Gesundheit der Dichtung be¬ sonders Gewicht gelegt wurde; so in dem Natürlichkeitszeitalter, wo Bürger, Voß, auch Nicolai und I. I. Engel für weite Kreise den Ton angaben, so *) Der große Chirurg Thiersch in Leipzig hat vor einigen Jahren Medizinische D, R, Glossen zum Hamlet veröffentlicht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/180>, abgerufen am 22.12.2024.