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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur und Pathologie

gesammelten Gasen zu einer Explosion gekommen. Man darf die Bunter
daher nur mit der Davyschen Sicherheitslampe betreten. Den Fahrgästen ist
die Mitnahme feuergefährlicher Gegenstände und das Rauchen unter Deck ver¬
boten. Gegen die Vlitzgefahr schützen die Blitzableiter der Masten. Eisenschiffe
sind ihr weniger ausgesetzt als Holzschiffe, weil sich bei ihnen die Elektrizität
mehr über das Schiff verteilt.

(Schluß folgt)




Litteratur und Pathologie
von Adolf Bartels

er schwerste Vorwurf, den in frühern Jahrzehnten der Kritiker
dem Dichter zu machen hatte, war der, seine Menschen und ihr
Handeln und Leiden seien pathologischer Natur. Heute konnte
es umgekehrt dem Dichter als Mangel oder Fehler angerechnet
werden, wenn in seinem Werke etwas nicht pathologischer Natur
wäre. Die meisten Dichterwerke find jetzt Krankheitsgeschichten, entweder die
Darstellung von Geisteskrankheiten oder sogar körperlicher Leiden, die ererbt
oder die Folge gesellschaftlicher Zustände sind. Wenn ich die Romane der
Goncourt, Zolcis großen Chklus, von Ibsen die "Gespenster," "Hedda Gabler,"
"Baumeister Solneß," von Dostojewsky "Raskolnikow," von Tolstoi die
"Kreuzersonate," Strindbergs Dramen und Romane, von Gerhart Hauptmann
"Vor Sonnenaufgang," das "Friedensfest," "Kollege Crampton" und auch
das "Hannele" nenne, so werden das wohl Beweise genug sein. Nun ist ja
der Schluß, daß Darsteller von lauter Krankheitsprozessen selbst krankhafte
Naturen sein müßten, nicht ohne weiteres berechtigt, aber er wird doch fast
allgemein gemacht, und so haben wir heute eine ganze Schule von Psycho¬
logen und Psychiatern, die das künstlerische Genie, wenn auch nicht geradezu
als Wahnsinn, doch als eine Form der Entartung betrachten und die Dichter
(und Helden), anstatt ans die Höhen der Menschheit, zu den Insassen des
Hospitals'für epileptische Kranke stellen. Es ist richtig, Lombrosos Theorien
begegnen in den Fachkreisen heftigem Widerspruch, aber die Mehrzahl der
Tagesschriftsteller und mit ihnen das Publikum haben sie als "äußerst inter¬
essant" angenommen. Wer heute über Dichtung und Dichter etwas sagen will,
was Beachtung finden soll, muß Mediziner sein, und die Zeit ist vielleicht
gar nicht mehr so fern, wo wir zu unsern philologisch geschulten Litteratur-


Litteratur und Pathologie

gesammelten Gasen zu einer Explosion gekommen. Man darf die Bunter
daher nur mit der Davyschen Sicherheitslampe betreten. Den Fahrgästen ist
die Mitnahme feuergefährlicher Gegenstände und das Rauchen unter Deck ver¬
boten. Gegen die Vlitzgefahr schützen die Blitzableiter der Masten. Eisenschiffe
sind ihr weniger ausgesetzt als Holzschiffe, weil sich bei ihnen die Elektrizität
mehr über das Schiff verteilt.

(Schluß folgt)




Litteratur und Pathologie
von Adolf Bartels

er schwerste Vorwurf, den in frühern Jahrzehnten der Kritiker
dem Dichter zu machen hatte, war der, seine Menschen und ihr
Handeln und Leiden seien pathologischer Natur. Heute konnte
es umgekehrt dem Dichter als Mangel oder Fehler angerechnet
werden, wenn in seinem Werke etwas nicht pathologischer Natur
wäre. Die meisten Dichterwerke find jetzt Krankheitsgeschichten, entweder die
Darstellung von Geisteskrankheiten oder sogar körperlicher Leiden, die ererbt
oder die Folge gesellschaftlicher Zustände sind. Wenn ich die Romane der
Goncourt, Zolcis großen Chklus, von Ibsen die „Gespenster," „Hedda Gabler,"
„Baumeister Solneß," von Dostojewsky „Raskolnikow," von Tolstoi die
„Kreuzersonate," Strindbergs Dramen und Romane, von Gerhart Hauptmann
„Vor Sonnenaufgang," das „Friedensfest," „Kollege Crampton" und auch
das „Hannele" nenne, so werden das wohl Beweise genug sein. Nun ist ja
der Schluß, daß Darsteller von lauter Krankheitsprozessen selbst krankhafte
Naturen sein müßten, nicht ohne weiteres berechtigt, aber er wird doch fast
allgemein gemacht, und so haben wir heute eine ganze Schule von Psycho¬
logen und Psychiatern, die das künstlerische Genie, wenn auch nicht geradezu
als Wahnsinn, doch als eine Form der Entartung betrachten und die Dichter
(und Helden), anstatt ans die Höhen der Menschheit, zu den Insassen des
Hospitals'für epileptische Kranke stellen. Es ist richtig, Lombrosos Theorien
begegnen in den Fachkreisen heftigem Widerspruch, aber die Mehrzahl der
Tagesschriftsteller und mit ihnen das Publikum haben sie als „äußerst inter¬
essant" angenommen. Wer heute über Dichtung und Dichter etwas sagen will,
was Beachtung finden soll, muß Mediziner sein, und die Zeit ist vielleicht
gar nicht mehr so fern, wo wir zu unsern philologisch geschulten Litteratur-


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[0179] Litteratur und Pathologie gesammelten Gasen zu einer Explosion gekommen. Man darf die Bunter daher nur mit der Davyschen Sicherheitslampe betreten. Den Fahrgästen ist die Mitnahme feuergefährlicher Gegenstände und das Rauchen unter Deck ver¬ boten. Gegen die Vlitzgefahr schützen die Blitzableiter der Masten. Eisenschiffe sind ihr weniger ausgesetzt als Holzschiffe, weil sich bei ihnen die Elektrizität mehr über das Schiff verteilt. (Schluß folgt) Litteratur und Pathologie von Adolf Bartels er schwerste Vorwurf, den in frühern Jahrzehnten der Kritiker dem Dichter zu machen hatte, war der, seine Menschen und ihr Handeln und Leiden seien pathologischer Natur. Heute konnte es umgekehrt dem Dichter als Mangel oder Fehler angerechnet werden, wenn in seinem Werke etwas nicht pathologischer Natur wäre. Die meisten Dichterwerke find jetzt Krankheitsgeschichten, entweder die Darstellung von Geisteskrankheiten oder sogar körperlicher Leiden, die ererbt oder die Folge gesellschaftlicher Zustände sind. Wenn ich die Romane der Goncourt, Zolcis großen Chklus, von Ibsen die „Gespenster," „Hedda Gabler," „Baumeister Solneß," von Dostojewsky „Raskolnikow," von Tolstoi die „Kreuzersonate," Strindbergs Dramen und Romane, von Gerhart Hauptmann „Vor Sonnenaufgang," das „Friedensfest," „Kollege Crampton" und auch das „Hannele" nenne, so werden das wohl Beweise genug sein. Nun ist ja der Schluß, daß Darsteller von lauter Krankheitsprozessen selbst krankhafte Naturen sein müßten, nicht ohne weiteres berechtigt, aber er wird doch fast allgemein gemacht, und so haben wir heute eine ganze Schule von Psycho¬ logen und Psychiatern, die das künstlerische Genie, wenn auch nicht geradezu als Wahnsinn, doch als eine Form der Entartung betrachten und die Dichter (und Helden), anstatt ans die Höhen der Menschheit, zu den Insassen des Hospitals'für epileptische Kranke stellen. Es ist richtig, Lombrosos Theorien begegnen in den Fachkreisen heftigem Widerspruch, aber die Mehrzahl der Tagesschriftsteller und mit ihnen das Publikum haben sie als „äußerst inter¬ essant" angenommen. Wer heute über Dichtung und Dichter etwas sagen will, was Beachtung finden soll, muß Mediziner sein, und die Zeit ist vielleicht gar nicht mehr so fern, wo wir zu unsern philologisch geschulten Litteratur-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/179>, abgerufen am 26.08.2024.