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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Umsturzvorlage

Staat, der die Selbsthilfe schon mehr, als gut ist, unterbunden, der seine Bürger
selbst daran-gewöhnt hat, alles Heil von ihm zu erwarten, nun jenen Not¬
schreien noch mit Strafen entgegentritt. Im Verlauf der Kämpfe, die sich
dann zwischen Gerichten und Polizei auf der einen Seite, und einer Bevölke¬
rung, die eben doch nicht schweigen wird, auf der andern Seite entspinnen müssen,
werden sich, wie die Geschichte lehrt, selbst die Wohlmeinenden daran gewöhnen,
Chikanebedürfnis bei der Polizei, Gereiztheit und Parteilichkeit bei den Ge¬
richten vorauszusetzen. Der plötzliche Zusammenbruch des alten Systems im
Jahre 1848 wäre unerklärlich, wenn sich die Staatsbehörden nicht im ent¬
scheidenden Augenblick, trotz Polizei und Militärmacht, von allen, auch den so¬
genannten Gutgesinnten verlassen gefühlt hätten.

Es ist müßig, über das schließliche Schicksal der Umsturzvorlage Ver¬
mutungen anzustellen. Welch köstliche Ironie, daß sie heute selbst von ihren
freikonservativen und nationalliberalen Taufpaten verleugnet wird und zum
Siegeszeichen für das triumphirende Rom geworden ist! Was den Freund des
deutschen Volks mit Trauer erfüllt, ist die Wahrnehmung, daß in unsrer Zeit
des rücksichtslosen Jagens nach materiellen Interessen der Sinn für die hohen,
idealen Güter der Geistes- und der bürgerlichen Freiheit immermehr abhanden
zu kommen scheint. Man darf sich darüber nicht täuschen, daß das deutsche
Bürgertum, wenigstens das der besitzenden, wenn auch nicht der gebildeten
Klassen, auch die Umsturzvorlage mit lauer Gleichgültigkeit hingenommen, ja
sie gar zum Gegenstande politischer Handelsgeschäfte gemacht hat. Erst seit es
sich selbst mit bedroht fühlt, fangen ihm langsam an die Augen auszugehen.
Fast scheint es, als wenn den Deutschen wieder Tage der Trübsal beschieden
wären, damit sie klug werden. Ein harter und fremder Zug dringt in unser
gemütvolles Volksleben ein, eine dilettantenhafte Art, durch die gährenden
wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten vierspännig hindurchzufahreu.
Für Deutschland steht dabei zuviel auf dem Spiele, als daß wir uicht von
Herzen wünschen müßten, das hohe Gut verfassungsmäßiger Volksfreiheit ohne
innere Erschütterungen zu bewahren. Geben wir deshalb die Hoffnung nicht
auf, daß anch die Umsturzvorlage, als ein bedrohlicher Eingriff in diese Frei¬
heit für immer werde zu den Toten geworfen werden.




Die Umsturzvorlage

Staat, der die Selbsthilfe schon mehr, als gut ist, unterbunden, der seine Bürger
selbst daran-gewöhnt hat, alles Heil von ihm zu erwarten, nun jenen Not¬
schreien noch mit Strafen entgegentritt. Im Verlauf der Kämpfe, die sich
dann zwischen Gerichten und Polizei auf der einen Seite, und einer Bevölke¬
rung, die eben doch nicht schweigen wird, auf der andern Seite entspinnen müssen,
werden sich, wie die Geschichte lehrt, selbst die Wohlmeinenden daran gewöhnen,
Chikanebedürfnis bei der Polizei, Gereiztheit und Parteilichkeit bei den Ge¬
richten vorauszusetzen. Der plötzliche Zusammenbruch des alten Systems im
Jahre 1848 wäre unerklärlich, wenn sich die Staatsbehörden nicht im ent¬
scheidenden Augenblick, trotz Polizei und Militärmacht, von allen, auch den so¬
genannten Gutgesinnten verlassen gefühlt hätten.

Es ist müßig, über das schließliche Schicksal der Umsturzvorlage Ver¬
mutungen anzustellen. Welch köstliche Ironie, daß sie heute selbst von ihren
freikonservativen und nationalliberalen Taufpaten verleugnet wird und zum
Siegeszeichen für das triumphirende Rom geworden ist! Was den Freund des
deutschen Volks mit Trauer erfüllt, ist die Wahrnehmung, daß in unsrer Zeit
des rücksichtslosen Jagens nach materiellen Interessen der Sinn für die hohen,
idealen Güter der Geistes- und der bürgerlichen Freiheit immermehr abhanden
zu kommen scheint. Man darf sich darüber nicht täuschen, daß das deutsche
Bürgertum, wenigstens das der besitzenden, wenn auch nicht der gebildeten
Klassen, auch die Umsturzvorlage mit lauer Gleichgültigkeit hingenommen, ja
sie gar zum Gegenstande politischer Handelsgeschäfte gemacht hat. Erst seit es
sich selbst mit bedroht fühlt, fangen ihm langsam an die Augen auszugehen.
Fast scheint es, als wenn den Deutschen wieder Tage der Trübsal beschieden
wären, damit sie klug werden. Ein harter und fremder Zug dringt in unser
gemütvolles Volksleben ein, eine dilettantenhafte Art, durch die gährenden
wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten vierspännig hindurchzufahreu.
Für Deutschland steht dabei zuviel auf dem Spiele, als daß wir uicht von
Herzen wünschen müßten, das hohe Gut verfassungsmäßiger Volksfreiheit ohne
innere Erschütterungen zu bewahren. Geben wir deshalb die Hoffnung nicht
auf, daß anch die Umsturzvorlage, als ein bedrohlicher Eingriff in diese Frei¬
heit für immer werde zu den Toten geworfen werden.




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[0168] Die Umsturzvorlage Staat, der die Selbsthilfe schon mehr, als gut ist, unterbunden, der seine Bürger selbst daran-gewöhnt hat, alles Heil von ihm zu erwarten, nun jenen Not¬ schreien noch mit Strafen entgegentritt. Im Verlauf der Kämpfe, die sich dann zwischen Gerichten und Polizei auf der einen Seite, und einer Bevölke¬ rung, die eben doch nicht schweigen wird, auf der andern Seite entspinnen müssen, werden sich, wie die Geschichte lehrt, selbst die Wohlmeinenden daran gewöhnen, Chikanebedürfnis bei der Polizei, Gereiztheit und Parteilichkeit bei den Ge¬ richten vorauszusetzen. Der plötzliche Zusammenbruch des alten Systems im Jahre 1848 wäre unerklärlich, wenn sich die Staatsbehörden nicht im ent¬ scheidenden Augenblick, trotz Polizei und Militärmacht, von allen, auch den so¬ genannten Gutgesinnten verlassen gefühlt hätten. Es ist müßig, über das schließliche Schicksal der Umsturzvorlage Ver¬ mutungen anzustellen. Welch köstliche Ironie, daß sie heute selbst von ihren freikonservativen und nationalliberalen Taufpaten verleugnet wird und zum Siegeszeichen für das triumphirende Rom geworden ist! Was den Freund des deutschen Volks mit Trauer erfüllt, ist die Wahrnehmung, daß in unsrer Zeit des rücksichtslosen Jagens nach materiellen Interessen der Sinn für die hohen, idealen Güter der Geistes- und der bürgerlichen Freiheit immermehr abhanden zu kommen scheint. Man darf sich darüber nicht täuschen, daß das deutsche Bürgertum, wenigstens das der besitzenden, wenn auch nicht der gebildeten Klassen, auch die Umsturzvorlage mit lauer Gleichgültigkeit hingenommen, ja sie gar zum Gegenstande politischer Handelsgeschäfte gemacht hat. Erst seit es sich selbst mit bedroht fühlt, fangen ihm langsam an die Augen auszugehen. Fast scheint es, als wenn den Deutschen wieder Tage der Trübsal beschieden wären, damit sie klug werden. Ein harter und fremder Zug dringt in unser gemütvolles Volksleben ein, eine dilettantenhafte Art, durch die gährenden wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten vierspännig hindurchzufahreu. Für Deutschland steht dabei zuviel auf dem Spiele, als daß wir uicht von Herzen wünschen müßten, das hohe Gut verfassungsmäßiger Volksfreiheit ohne innere Erschütterungen zu bewahren. Geben wir deshalb die Hoffnung nicht auf, daß anch die Umsturzvorlage, als ein bedrohlicher Eingriff in diese Frei¬ heit für immer werde zu den Toten geworfen werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/168>, abgerufen am 25.08.2024.