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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Der geistige Gehalt in der Malerei

allen Gegnern der eignen Geschmacksrichtung diesen Fehler vorzuwerfen? Ist
es nicht unverständig, den Streit über eine Knnstfrage nicht durch sachliche
Gründe, sondern durch persönliche Unterstellungen erledigen zu wollen?

Und doch, erwidern unsre Gegner, sei der Ästhetik der Gegenwart die Be¬
dingung des demütigen Sehenlernens zu stellen, da der neueste Fortschritt der
Kunst eben gerade in dem neuen Sehen oder vielmehr "Schauen" der Künstler
bestehe. Schön! Thun wir das! Versenken wir uns in das Studium dieser
der Natur neu abgelauschten Farbenerscheinungen, dieser fein abgetöntem Licht¬
wirkungen, setzen wir uns auf die Schülerbank -- woran erkennen wir dann
die Kunstwerke, bei denen wir mit dem ästhetischen Urteil zurückhalten und uns
mit dem Lernen begnügen müssen? An dem Mitgliederverzeichnis der Münchner
Sezession etwa? Nein, du Spötter, das sagt uns der Künstler, das gerade ist
es, worin er uns führend vorangeht. Er ist nicht bloß der Schöpfer, er ist
auch der alleinige Richter des Kunstwerks.

Aber muß dann nicht wenigstens der Künstler einen Maßstab für sein
Urteil haben? Und darf es etwa bloß ein völlig subjektives Geschmacksurteil
sein, oder muß es nicht vielmehr -- wenn anders nicht jeder schön finden soll,
was er will, und nicht die Kunst sowohl theoretisch als praktisch in einem
Chaos untergehen soll -- ein ästhetisches Geschmacksurteil sein, also ein Urteil,
das allgemeine Geltung beansprucht und sich in Form einer Regel fassen und
mitteilen lassen muß? Gewiß sieht der Künstler besser als der Laie und Hütte
also auch ein sichereres Urteil wenigstens dann, wenn es seine Sache wäre,
seine Eindrücke begrifflich scharf zu fassen. Aber warum hören wir dann nichts
von diesen neuen Regeln des Kunstwerks, mit denen der Künstlergeist die ästhe¬
tische Theorie bereichern könnte? Er "will nicht"! Er betrachtet das nicht als
seine Sache und zeigt damit gerade, daß er nur berufen ist, im Schaffen und
nicht im Werten der Kunstwerke führend voran zu gehen.

Nun dem Künstler kann man es ja auch verzeihen, wenn er in der theo¬
retischen Erörterung die Schärfe der Begriffe ganz vermissen läßt; daß aber
moderne Kunstschriftsteller vom Assistenten des Museumsdirektors bis herab
zum Kritiker der Tagespresse durch affektirte Nachahmung von Künstlerphrasen,
womit sie sich klare Gedanken ersparen, gegenwärtig das Publikum terrorisiren,
daß sie über Kunstschöpfungen, vor denen Hunderte von gebildeten Männern
und Frauen mit Kopfschütteln, ja mit Entrüstung stehen, ausrufen: Hut ab
vor dem Genius! ist doch höchst bedauerlich.

Die Ursache des steuerlosen Treibens liegt darin, daß man vor dem
geistigen Gehalt des Kunstwerks eigensinnig die Augen schließt, denn man ver¬
liert damit den obersten Maßstab für seine Beurteilung: die Einheit des geistigen
Gehalts mit der sinnlichen Erscheinung. Es wird völlig als etwas Veraltetes
verlacht, wenn man ein Gemälde auf seinen geistigen Gehalt ansieht. Es dürfe
nichts von dem enthalten, was der menschliche Geist enthält. Das Interesse


Der geistige Gehalt in der Malerei

allen Gegnern der eignen Geschmacksrichtung diesen Fehler vorzuwerfen? Ist
es nicht unverständig, den Streit über eine Knnstfrage nicht durch sachliche
Gründe, sondern durch persönliche Unterstellungen erledigen zu wollen?

Und doch, erwidern unsre Gegner, sei der Ästhetik der Gegenwart die Be¬
dingung des demütigen Sehenlernens zu stellen, da der neueste Fortschritt der
Kunst eben gerade in dem neuen Sehen oder vielmehr „Schauen" der Künstler
bestehe. Schön! Thun wir das! Versenken wir uns in das Studium dieser
der Natur neu abgelauschten Farbenerscheinungen, dieser fein abgetöntem Licht¬
wirkungen, setzen wir uns auf die Schülerbank — woran erkennen wir dann
die Kunstwerke, bei denen wir mit dem ästhetischen Urteil zurückhalten und uns
mit dem Lernen begnügen müssen? An dem Mitgliederverzeichnis der Münchner
Sezession etwa? Nein, du Spötter, das sagt uns der Künstler, das gerade ist
es, worin er uns führend vorangeht. Er ist nicht bloß der Schöpfer, er ist
auch der alleinige Richter des Kunstwerks.

Aber muß dann nicht wenigstens der Künstler einen Maßstab für sein
Urteil haben? Und darf es etwa bloß ein völlig subjektives Geschmacksurteil
sein, oder muß es nicht vielmehr — wenn anders nicht jeder schön finden soll,
was er will, und nicht die Kunst sowohl theoretisch als praktisch in einem
Chaos untergehen soll — ein ästhetisches Geschmacksurteil sein, also ein Urteil,
das allgemeine Geltung beansprucht und sich in Form einer Regel fassen und
mitteilen lassen muß? Gewiß sieht der Künstler besser als der Laie und Hütte
also auch ein sichereres Urteil wenigstens dann, wenn es seine Sache wäre,
seine Eindrücke begrifflich scharf zu fassen. Aber warum hören wir dann nichts
von diesen neuen Regeln des Kunstwerks, mit denen der Künstlergeist die ästhe¬
tische Theorie bereichern könnte? Er „will nicht"! Er betrachtet das nicht als
seine Sache und zeigt damit gerade, daß er nur berufen ist, im Schaffen und
nicht im Werten der Kunstwerke führend voran zu gehen.

Nun dem Künstler kann man es ja auch verzeihen, wenn er in der theo¬
retischen Erörterung die Schärfe der Begriffe ganz vermissen läßt; daß aber
moderne Kunstschriftsteller vom Assistenten des Museumsdirektors bis herab
zum Kritiker der Tagespresse durch affektirte Nachahmung von Künstlerphrasen,
womit sie sich klare Gedanken ersparen, gegenwärtig das Publikum terrorisiren,
daß sie über Kunstschöpfungen, vor denen Hunderte von gebildeten Männern
und Frauen mit Kopfschütteln, ja mit Entrüstung stehen, ausrufen: Hut ab
vor dem Genius! ist doch höchst bedauerlich.

Die Ursache des steuerlosen Treibens liegt darin, daß man vor dem
geistigen Gehalt des Kunstwerks eigensinnig die Augen schließt, denn man ver¬
liert damit den obersten Maßstab für seine Beurteilung: die Einheit des geistigen
Gehalts mit der sinnlichen Erscheinung. Es wird völlig als etwas Veraltetes
verlacht, wenn man ein Gemälde auf seinen geistigen Gehalt ansieht. Es dürfe
nichts von dem enthalten, was der menschliche Geist enthält. Das Interesse


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[0142] Der geistige Gehalt in der Malerei allen Gegnern der eignen Geschmacksrichtung diesen Fehler vorzuwerfen? Ist es nicht unverständig, den Streit über eine Knnstfrage nicht durch sachliche Gründe, sondern durch persönliche Unterstellungen erledigen zu wollen? Und doch, erwidern unsre Gegner, sei der Ästhetik der Gegenwart die Be¬ dingung des demütigen Sehenlernens zu stellen, da der neueste Fortschritt der Kunst eben gerade in dem neuen Sehen oder vielmehr „Schauen" der Künstler bestehe. Schön! Thun wir das! Versenken wir uns in das Studium dieser der Natur neu abgelauschten Farbenerscheinungen, dieser fein abgetöntem Licht¬ wirkungen, setzen wir uns auf die Schülerbank — woran erkennen wir dann die Kunstwerke, bei denen wir mit dem ästhetischen Urteil zurückhalten und uns mit dem Lernen begnügen müssen? An dem Mitgliederverzeichnis der Münchner Sezession etwa? Nein, du Spötter, das sagt uns der Künstler, das gerade ist es, worin er uns führend vorangeht. Er ist nicht bloß der Schöpfer, er ist auch der alleinige Richter des Kunstwerks. Aber muß dann nicht wenigstens der Künstler einen Maßstab für sein Urteil haben? Und darf es etwa bloß ein völlig subjektives Geschmacksurteil sein, oder muß es nicht vielmehr — wenn anders nicht jeder schön finden soll, was er will, und nicht die Kunst sowohl theoretisch als praktisch in einem Chaos untergehen soll — ein ästhetisches Geschmacksurteil sein, also ein Urteil, das allgemeine Geltung beansprucht und sich in Form einer Regel fassen und mitteilen lassen muß? Gewiß sieht der Künstler besser als der Laie und Hütte also auch ein sichereres Urteil wenigstens dann, wenn es seine Sache wäre, seine Eindrücke begrifflich scharf zu fassen. Aber warum hören wir dann nichts von diesen neuen Regeln des Kunstwerks, mit denen der Künstlergeist die ästhe¬ tische Theorie bereichern könnte? Er „will nicht"! Er betrachtet das nicht als seine Sache und zeigt damit gerade, daß er nur berufen ist, im Schaffen und nicht im Werten der Kunstwerke führend voran zu gehen. Nun dem Künstler kann man es ja auch verzeihen, wenn er in der theo¬ retischen Erörterung die Schärfe der Begriffe ganz vermissen läßt; daß aber moderne Kunstschriftsteller vom Assistenten des Museumsdirektors bis herab zum Kritiker der Tagespresse durch affektirte Nachahmung von Künstlerphrasen, womit sie sich klare Gedanken ersparen, gegenwärtig das Publikum terrorisiren, daß sie über Kunstschöpfungen, vor denen Hunderte von gebildeten Männern und Frauen mit Kopfschütteln, ja mit Entrüstung stehen, ausrufen: Hut ab vor dem Genius! ist doch höchst bedauerlich. Die Ursache des steuerlosen Treibens liegt darin, daß man vor dem geistigen Gehalt des Kunstwerks eigensinnig die Augen schließt, denn man ver¬ liert damit den obersten Maßstab für seine Beurteilung: die Einheit des geistigen Gehalts mit der sinnlichen Erscheinung. Es wird völlig als etwas Veraltetes verlacht, wenn man ein Gemälde auf seinen geistigen Gehalt ansieht. Es dürfe nichts von dem enthalten, was der menschliche Geist enthält. Das Interesse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/142>, abgerufen am 24.08.2024.