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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Behandlung des Verbrechers

erst in letzter Linie durch die Strafe aus. Ich kenne Dörfer, in denen ein
guter und frischer Geist waltet. Man feiert fröhliche Feste ohne Saufgelage
und ohne blutige Schlägerei, der Diebstahl ist so gut wie unbekannt, jeder
Zänker und Thunichtgut wird gesellschaftlich kaltgestellt und muß allein vor
seinem Gläschen sitzen. Man kennt eine Dorfehre und empfindet die Schande
mit, die einen der Dorfbewohner trifft. Und diese Dörfer liegen nicht auf dem
Monde, sondern auf der guten alten Erde.

Derselbe Geist aber, der streng über die Sünde denkt, wendet sich mild
dem Sünder zu, wenigstens entgegenkommend, hilfreich und gut. Was nützt
es aber, einen Verbrecher zu bessern, wenn die Gesellschaft immer neue Ver¬
brecher macht? fragt man. Darauf ließe sich mancherlei antworten, ich will
lieber mit Zahlen antworten, die den meisten das meiste beweisen. Vor mir
liegt der Stammbaum einer Verbrecherfamilie, die sich ganz frei und unbe¬
helligt hat entwickeln können. Die Stammmutter ist im Jahre 1825 gestorben.
Es ergab sich nun bei ihr eine direkte Nachkommenschaft von 834 Personen.
Von 709 dieser ihrer Nachkommen konnten die Lebensverhältnisse festgestellt
werden. Es waren 106 unehelich geboren, 164 waren Prostituirte, 64 Armen¬
häusler, 142 Bettler, 17 Inhaber von Prostitutionshäusern und 76 Ver¬
brecher. Die Familie war zusammen 116 Jahre eingekerkert gewesen und
734 Jahre aus öffentlichen Mitteln unterstützt worden. Man hat weiter be¬
rechnet, daß diese Familie dem Staate und der Gemeinde zwei Millionen Mark
gekostet hat. Welche ungeheure Summe aber mag sie erst durch Räubern,
Stehlen, Betrügen u. s. w. der menschlichen Gesellschaft abgenommen haben!
Aus diesem Beispiele lassen sich mancherlei Lehren ziehen, jedenfalls geht
daraus hervor, daß es entschieden etwas nützt, wenn auch nur eine einzige
Person gerettet wird.

Die Fürsorgevereine haben keine großen Erfolge zu verzeichnen, da die
Masse der Gesellschaft gleichgiltig ist. Sie haben zahlreiche Mißerfolge auf¬
zuweisen, weil sie es meistens mit der Unterbringung solcher Entlassener zu
thun haben, die schon ganz haltlos im Leben stehen und tief angefressen sind.
Wo der Gefangne noch eine Familie hat, da sorgt diese, und zwar meist mit
besserm Erfolg. Aber nimmt man nicht einem ehrlichen Menschen das Brot
weg, wenn man einen Entlassener in Arbeit bringt? Ist die Fürsorgethütigkeit
nicht vielleicht als ein bloßes Schildbürgerstückchen anzusehen? Ich denke nicht.
Es handelt sich ja nicht um die Unterbringung von Chinesen und Türken, die
gewiß bei uns nichts zu suchen haben, sondern es handelt sich um die Unter¬
bringung von Landeskindern. Diese haben einmal ihren Arbeitsplatz bei uns
gehabt, sie haben ihn dann eine Zeit lang andern überlassen müssen und be¬
gehren ihn nun wieder. In Wirklichkeit bekommen sie ihn aber nicht einmal
zurück, sondern sie müssen viel tiefer unten anfangen. Gönnt ihnen doch diesen
Platz, und wenn bei uns nicht mehr Raum sein sollte, dann eröffnet den ent-


Die Behandlung des Verbrechers

erst in letzter Linie durch die Strafe aus. Ich kenne Dörfer, in denen ein
guter und frischer Geist waltet. Man feiert fröhliche Feste ohne Saufgelage
und ohne blutige Schlägerei, der Diebstahl ist so gut wie unbekannt, jeder
Zänker und Thunichtgut wird gesellschaftlich kaltgestellt und muß allein vor
seinem Gläschen sitzen. Man kennt eine Dorfehre und empfindet die Schande
mit, die einen der Dorfbewohner trifft. Und diese Dörfer liegen nicht auf dem
Monde, sondern auf der guten alten Erde.

Derselbe Geist aber, der streng über die Sünde denkt, wendet sich mild
dem Sünder zu, wenigstens entgegenkommend, hilfreich und gut. Was nützt
es aber, einen Verbrecher zu bessern, wenn die Gesellschaft immer neue Ver¬
brecher macht? fragt man. Darauf ließe sich mancherlei antworten, ich will
lieber mit Zahlen antworten, die den meisten das meiste beweisen. Vor mir
liegt der Stammbaum einer Verbrecherfamilie, die sich ganz frei und unbe¬
helligt hat entwickeln können. Die Stammmutter ist im Jahre 1825 gestorben.
Es ergab sich nun bei ihr eine direkte Nachkommenschaft von 834 Personen.
Von 709 dieser ihrer Nachkommen konnten die Lebensverhältnisse festgestellt
werden. Es waren 106 unehelich geboren, 164 waren Prostituirte, 64 Armen¬
häusler, 142 Bettler, 17 Inhaber von Prostitutionshäusern und 76 Ver¬
brecher. Die Familie war zusammen 116 Jahre eingekerkert gewesen und
734 Jahre aus öffentlichen Mitteln unterstützt worden. Man hat weiter be¬
rechnet, daß diese Familie dem Staate und der Gemeinde zwei Millionen Mark
gekostet hat. Welche ungeheure Summe aber mag sie erst durch Räubern,
Stehlen, Betrügen u. s. w. der menschlichen Gesellschaft abgenommen haben!
Aus diesem Beispiele lassen sich mancherlei Lehren ziehen, jedenfalls geht
daraus hervor, daß es entschieden etwas nützt, wenn auch nur eine einzige
Person gerettet wird.

Die Fürsorgevereine haben keine großen Erfolge zu verzeichnen, da die
Masse der Gesellschaft gleichgiltig ist. Sie haben zahlreiche Mißerfolge auf¬
zuweisen, weil sie es meistens mit der Unterbringung solcher Entlassener zu
thun haben, die schon ganz haltlos im Leben stehen und tief angefressen sind.
Wo der Gefangne noch eine Familie hat, da sorgt diese, und zwar meist mit
besserm Erfolg. Aber nimmt man nicht einem ehrlichen Menschen das Brot
weg, wenn man einen Entlassener in Arbeit bringt? Ist die Fürsorgethütigkeit
nicht vielleicht als ein bloßes Schildbürgerstückchen anzusehen? Ich denke nicht.
Es handelt sich ja nicht um die Unterbringung von Chinesen und Türken, die
gewiß bei uns nichts zu suchen haben, sondern es handelt sich um die Unter¬
bringung von Landeskindern. Diese haben einmal ihren Arbeitsplatz bei uns
gehabt, sie haben ihn dann eine Zeit lang andern überlassen müssen und be¬
gehren ihn nun wieder. In Wirklichkeit bekommen sie ihn aber nicht einmal
zurück, sondern sie müssen viel tiefer unten anfangen. Gönnt ihnen doch diesen
Platz, und wenn bei uns nicht mehr Raum sein sollte, dann eröffnet den ent-


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[0130] Die Behandlung des Verbrechers erst in letzter Linie durch die Strafe aus. Ich kenne Dörfer, in denen ein guter und frischer Geist waltet. Man feiert fröhliche Feste ohne Saufgelage und ohne blutige Schlägerei, der Diebstahl ist so gut wie unbekannt, jeder Zänker und Thunichtgut wird gesellschaftlich kaltgestellt und muß allein vor seinem Gläschen sitzen. Man kennt eine Dorfehre und empfindet die Schande mit, die einen der Dorfbewohner trifft. Und diese Dörfer liegen nicht auf dem Monde, sondern auf der guten alten Erde. Derselbe Geist aber, der streng über die Sünde denkt, wendet sich mild dem Sünder zu, wenigstens entgegenkommend, hilfreich und gut. Was nützt es aber, einen Verbrecher zu bessern, wenn die Gesellschaft immer neue Ver¬ brecher macht? fragt man. Darauf ließe sich mancherlei antworten, ich will lieber mit Zahlen antworten, die den meisten das meiste beweisen. Vor mir liegt der Stammbaum einer Verbrecherfamilie, die sich ganz frei und unbe¬ helligt hat entwickeln können. Die Stammmutter ist im Jahre 1825 gestorben. Es ergab sich nun bei ihr eine direkte Nachkommenschaft von 834 Personen. Von 709 dieser ihrer Nachkommen konnten die Lebensverhältnisse festgestellt werden. Es waren 106 unehelich geboren, 164 waren Prostituirte, 64 Armen¬ häusler, 142 Bettler, 17 Inhaber von Prostitutionshäusern und 76 Ver¬ brecher. Die Familie war zusammen 116 Jahre eingekerkert gewesen und 734 Jahre aus öffentlichen Mitteln unterstützt worden. Man hat weiter be¬ rechnet, daß diese Familie dem Staate und der Gemeinde zwei Millionen Mark gekostet hat. Welche ungeheure Summe aber mag sie erst durch Räubern, Stehlen, Betrügen u. s. w. der menschlichen Gesellschaft abgenommen haben! Aus diesem Beispiele lassen sich mancherlei Lehren ziehen, jedenfalls geht daraus hervor, daß es entschieden etwas nützt, wenn auch nur eine einzige Person gerettet wird. Die Fürsorgevereine haben keine großen Erfolge zu verzeichnen, da die Masse der Gesellschaft gleichgiltig ist. Sie haben zahlreiche Mißerfolge auf¬ zuweisen, weil sie es meistens mit der Unterbringung solcher Entlassener zu thun haben, die schon ganz haltlos im Leben stehen und tief angefressen sind. Wo der Gefangne noch eine Familie hat, da sorgt diese, und zwar meist mit besserm Erfolg. Aber nimmt man nicht einem ehrlichen Menschen das Brot weg, wenn man einen Entlassener in Arbeit bringt? Ist die Fürsorgethütigkeit nicht vielleicht als ein bloßes Schildbürgerstückchen anzusehen? Ich denke nicht. Es handelt sich ja nicht um die Unterbringung von Chinesen und Türken, die gewiß bei uns nichts zu suchen haben, sondern es handelt sich um die Unter¬ bringung von Landeskindern. Diese haben einmal ihren Arbeitsplatz bei uns gehabt, sie haben ihn dann eine Zeit lang andern überlassen müssen und be¬ gehren ihn nun wieder. In Wirklichkeit bekommen sie ihn aber nicht einmal zurück, sondern sie müssen viel tiefer unten anfangen. Gönnt ihnen doch diesen Platz, und wenn bei uns nicht mehr Raum sein sollte, dann eröffnet den ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/130>, abgerufen am 25.08.2024.