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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Vollkampf, nicht Scheinkampf

der Deportation für die Verbrechen des Aufruhrs, der Verschwörung oder des
Versuchs dazu. Wie man sieht, braucht sich Herr von Stumm seines Schülers
uicht zu schämen.

Daß wir Herrn von Boguslawski nicht falsch beurteilten, als wir ihn
einem Arzt verglichen, der seine Kunst nur gegen die Symptome wendet, soll
eine kurze Prüfung dieser von ihm befürworteten "indirekten" Kampfmittel
darthun. Was würde er wohl sagen, wenn jemand auf das Thermometer
schimpfen wollte, weil es ihm zeigt, daß das Fieber, an dem er leidet, nicht
weichen will? Leisten nun nicht die Rcichstagswahlen als Gradmesser der sozialen
Unzufriedenheit, die unser Volk verzehrt, dein Politiker denselben guten Dienst?
Und würde nicht jede Einschränkung des bestehenden Wahlrechts diesen wich¬
tigen und geradezu unentbehrlichen Gradmesser aus einem zuverlässigen zu
einem trügerischen und gefährlichen Ratgeber machen? Wohl sind wir uns
der Schwächen des allgemeinen und gleichen Wahlrechts bewußt, und es ist
in diesen Blättern schon manches scharfe Wort dagegen geschrieben worden;
dennoch gestehen wir, daß wir in dem gegenwärtigen Augenblick, angesichts der
Thatsache, daß von oben herab der Ausarbeitung weiterer Reformen ein un¬
günstiger Wind entgegenblüst, vom Artikel 2V der Reichsverfassung uns keinen
Buchstaben nehmen lassen möchten, weil wir es für nötig und nützlich halten,
daß ein möglichst zuverlässiger Gradmesser der Volksstimmung gewissen Leuten
das Gewissen schärft.

Herr von Boguslawski, der in erster Linie die sozialdemokratischen Stimm¬
zettel aus der Welt schaffen möchte, erkennt zwar an, daß sich das Gerechtigkeits¬
gefühl dagegen sträube, deu Massen ein Recht zu nehmen, das sie seit länger
als einem Vierteljahrhundert haben. Weil er aber die Wahl svzialdemvlratischer
Abgeordneten offenbar für eins der größten Übel hält, so sinnt er ans andre
Mittel und Wege, diese zu hintertreiben. Dazu scheint ihm die Beseitigung
des Wahlgeheimnisses vor allem andern geeignet,, und wenn er ausführt, daß
jeder, der das Wahlrecht für sich beanspruche, auch den Mannesmut haben
müsse, mit seiner Überzeugung öffentlich hervorzutreten, so läßt sich dagegen
in der Theorie gewiß nichts einwenden. Aber dasselbe ist schon im kon-
stituireuden Reichstag des Norddeutschen Bundes vom Abgeordneten Windthorst
mit allem Nachdruck gefordert worden, und wenn dieser später den Satz aus
seinem politischen Programm gestrichen hat, so that er das wahrscheinlich des¬
halb, weil er sich nicht in den Ruf bringen mochte, das öffentliche Wahl¬
verfahren im Interesse seiner Partei allsnutzen zu wollen. Denn diesen Ver¬
dacht erweckt jeder, der die geheime Wahl angreift, und auch Herr von Bogus¬
lawski wird, fürchten wir, ihm nicht entgehen.

Eher könnten wir uns mit dem Vorschlag befreunden, die Stichwahlen
mit ihren unsittlichen Wahlbündnissen durch einfache Mehrheitswahlen zu er¬
setzen. Dagegen traut man seinen Augen nicht, wenn man folgendes liest: "Jetzt


Vollkampf, nicht Scheinkampf

der Deportation für die Verbrechen des Aufruhrs, der Verschwörung oder des
Versuchs dazu. Wie man sieht, braucht sich Herr von Stumm seines Schülers
uicht zu schämen.

Daß wir Herrn von Boguslawski nicht falsch beurteilten, als wir ihn
einem Arzt verglichen, der seine Kunst nur gegen die Symptome wendet, soll
eine kurze Prüfung dieser von ihm befürworteten „indirekten" Kampfmittel
darthun. Was würde er wohl sagen, wenn jemand auf das Thermometer
schimpfen wollte, weil es ihm zeigt, daß das Fieber, an dem er leidet, nicht
weichen will? Leisten nun nicht die Rcichstagswahlen als Gradmesser der sozialen
Unzufriedenheit, die unser Volk verzehrt, dein Politiker denselben guten Dienst?
Und würde nicht jede Einschränkung des bestehenden Wahlrechts diesen wich¬
tigen und geradezu unentbehrlichen Gradmesser aus einem zuverlässigen zu
einem trügerischen und gefährlichen Ratgeber machen? Wohl sind wir uns
der Schwächen des allgemeinen und gleichen Wahlrechts bewußt, und es ist
in diesen Blättern schon manches scharfe Wort dagegen geschrieben worden;
dennoch gestehen wir, daß wir in dem gegenwärtigen Augenblick, angesichts der
Thatsache, daß von oben herab der Ausarbeitung weiterer Reformen ein un¬
günstiger Wind entgegenblüst, vom Artikel 2V der Reichsverfassung uns keinen
Buchstaben nehmen lassen möchten, weil wir es für nötig und nützlich halten,
daß ein möglichst zuverlässiger Gradmesser der Volksstimmung gewissen Leuten
das Gewissen schärft.

Herr von Boguslawski, der in erster Linie die sozialdemokratischen Stimm¬
zettel aus der Welt schaffen möchte, erkennt zwar an, daß sich das Gerechtigkeits¬
gefühl dagegen sträube, deu Massen ein Recht zu nehmen, das sie seit länger
als einem Vierteljahrhundert haben. Weil er aber die Wahl svzialdemvlratischer
Abgeordneten offenbar für eins der größten Übel hält, so sinnt er ans andre
Mittel und Wege, diese zu hintertreiben. Dazu scheint ihm die Beseitigung
des Wahlgeheimnisses vor allem andern geeignet,, und wenn er ausführt, daß
jeder, der das Wahlrecht für sich beanspruche, auch den Mannesmut haben
müsse, mit seiner Überzeugung öffentlich hervorzutreten, so läßt sich dagegen
in der Theorie gewiß nichts einwenden. Aber dasselbe ist schon im kon-
stituireuden Reichstag des Norddeutschen Bundes vom Abgeordneten Windthorst
mit allem Nachdruck gefordert worden, und wenn dieser später den Satz aus
seinem politischen Programm gestrichen hat, so that er das wahrscheinlich des¬
halb, weil er sich nicht in den Ruf bringen mochte, das öffentliche Wahl¬
verfahren im Interesse seiner Partei allsnutzen zu wollen. Denn diesen Ver¬
dacht erweckt jeder, der die geheime Wahl angreift, und auch Herr von Bogus¬
lawski wird, fürchten wir, ihm nicht entgehen.

Eher könnten wir uns mit dem Vorschlag befreunden, die Stichwahlen
mit ihren unsittlichen Wahlbündnissen durch einfache Mehrheitswahlen zu er¬
setzen. Dagegen traut man seinen Augen nicht, wenn man folgendes liest: „Jetzt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/13>, abgerufen am 22.12.2024.