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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Die Behandlung des Verbrechers

ist, Varrentrapp sagt: Die Zellengefängnisse bieten in allen Ländern eine
geringere Sterblichkeit als die nach dem Schweig- oder Klassensystem und als
die ohne System. Und der Arzt des Zellengefängnisses in Lttttich, der auch
zuerst eine schädliche Einwirkung der Einzelhaft befürchtete, ist nach lang¬
jähriger Erfahrung zu dem Urteil gekommen: II sse ovnstats, Iss pas
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Störungen des Seelenlebens kommen in allen Anstalten vor, und das ist auch
ganz natürlich, da viele Gefangne nicht geistig normal sind und es nie ge¬
wesen sind, viele auch durch ein zügelloses wildes Leben ihre Nerven auf den
Hund gebracht haben. Das Geschwür tragen sie längst in sich, in der Straf'
anstatt unter dem nicht zu verkennenden Druck des Gefangnendciseins bricht
es nur ans. Wie dem aber auch sei, die Zelle wirkt nicht schädlicher auf
das Gemüt als das gemeinschaftliche Gefangnenleben. Ich habe eine ganze
Reihe von geisteskranken Verbrechern kennen gelernt; die Mehrzahl von ihnen
hatte nie eine Zelle gesehen, ich erinnere mich nur an zwei Fälle, wo die
Krankheit bei Zellengefangnen zum Ausbruch kam. Man muß nur nicht
denken, der Gefangne lebe wie in einem düstern, stillen Grabe, er sei gänzlich
seinem Schicksal und seinen Gedanken überlassen, er habe nur sich und seine
Not. Umgekehrt, er kommt eher als der andre Gefangne dazu, sich einmal
von Herzen auszusprechen. Seine Einsamkeit wird unterbrochen durch die
Besuche der Anstaltsbecuntcn, des Geistlichen und des Lehrers, des Werkführers,
der ihm seine Arbeit bringt und ihn belehrt, durch Schulstunden, Spazieren-
gehn, durch Lesen, das ihm in größeren Umfange gestattet wird als dem Ge¬
fangnen in der gemeinschaftlichen Haft. Man frage nur einmal, wie viele
von den Zellengefnngnen in die gemeinsame Haft versetzt zu werden wünschen.
Es werden sich sicherlich welche melden, die vernünftigem aber und die Mehr¬
zahl werden es vorziehen, für sich zu bleiben, wenn sie erst einmal über die
erste Not der Einsamkeit hinweggekommen sind. Auch in der Zelle stießt die
Zeit langsam und träge hin, und auch da zeigt sie dem Gefangnen Stacheln
und Dornenspitzen, aber er lebt doch darin ruhiger und freundlicher und hat
manchen Augenblick der Freiheit übrig, dessen er in der gemeinsamen Haft
entbehren müßte.

In der Zelle kann der Strafvollziehungsbeamte, der Seelsorger und Lehrer
die freundlichsten Stunden seines schweren Berufs erleben, hier hat er die Ge¬
wißheit, einem Mitmenschen etwas zu sein, und hier besonders fühlt er, daß
er vom Staate nicht zur Tretmaschinenarbeit verurteilt ist, sondern daß auch
er eine Kulturaufgabe erfüllt. Es ist ein ebenso häufiges wie unfreundliches
Urteil, das Wirken des Strafvollziehungsbeamten sei fruchtlos, von einer
Besserung wolle man gar nicht reden. Man denkt nur immer an die Rück¬
fälligen und vergißt die andern, die sich nicht weiter bemerkbar machen, sondern
sich unter dein übrigen Bienenschwarm verloren haben. Jede Anstalt und jeder


Die Behandlung des Verbrechers

ist, Varrentrapp sagt: Die Zellengefängnisse bieten in allen Ländern eine
geringere Sterblichkeit als die nach dem Schweig- oder Klassensystem und als
die ohne System. Und der Arzt des Zellengefängnisses in Lttttich, der auch
zuerst eine schädliche Einwirkung der Einzelhaft befürchtete, ist nach lang¬
jähriger Erfahrung zu dem Urteil gekommen: II sse ovnstats, Iss pas
Ah äöinevW A'ötÄiönt xas xlus iwmvrsux ^ I/iöZs <^us x^rout aillsurs.
Störungen des Seelenlebens kommen in allen Anstalten vor, und das ist auch
ganz natürlich, da viele Gefangne nicht geistig normal sind und es nie ge¬
wesen sind, viele auch durch ein zügelloses wildes Leben ihre Nerven auf den
Hund gebracht haben. Das Geschwür tragen sie längst in sich, in der Straf'
anstatt unter dem nicht zu verkennenden Druck des Gefangnendciseins bricht
es nur ans. Wie dem aber auch sei, die Zelle wirkt nicht schädlicher auf
das Gemüt als das gemeinschaftliche Gefangnenleben. Ich habe eine ganze
Reihe von geisteskranken Verbrechern kennen gelernt; die Mehrzahl von ihnen
hatte nie eine Zelle gesehen, ich erinnere mich nur an zwei Fälle, wo die
Krankheit bei Zellengefangnen zum Ausbruch kam. Man muß nur nicht
denken, der Gefangne lebe wie in einem düstern, stillen Grabe, er sei gänzlich
seinem Schicksal und seinen Gedanken überlassen, er habe nur sich und seine
Not. Umgekehrt, er kommt eher als der andre Gefangne dazu, sich einmal
von Herzen auszusprechen. Seine Einsamkeit wird unterbrochen durch die
Besuche der Anstaltsbecuntcn, des Geistlichen und des Lehrers, des Werkführers,
der ihm seine Arbeit bringt und ihn belehrt, durch Schulstunden, Spazieren-
gehn, durch Lesen, das ihm in größeren Umfange gestattet wird als dem Ge¬
fangnen in der gemeinschaftlichen Haft. Man frage nur einmal, wie viele
von den Zellengefnngnen in die gemeinsame Haft versetzt zu werden wünschen.
Es werden sich sicherlich welche melden, die vernünftigem aber und die Mehr¬
zahl werden es vorziehen, für sich zu bleiben, wenn sie erst einmal über die
erste Not der Einsamkeit hinweggekommen sind. Auch in der Zelle stießt die
Zeit langsam und träge hin, und auch da zeigt sie dem Gefangnen Stacheln
und Dornenspitzen, aber er lebt doch darin ruhiger und freundlicher und hat
manchen Augenblick der Freiheit übrig, dessen er in der gemeinsamen Haft
entbehren müßte.

In der Zelle kann der Strafvollziehungsbeamte, der Seelsorger und Lehrer
die freundlichsten Stunden seines schweren Berufs erleben, hier hat er die Ge¬
wißheit, einem Mitmenschen etwas zu sein, und hier besonders fühlt er, daß
er vom Staate nicht zur Tretmaschinenarbeit verurteilt ist, sondern daß auch
er eine Kulturaufgabe erfüllt. Es ist ein ebenso häufiges wie unfreundliches
Urteil, das Wirken des Strafvollziehungsbeamten sei fruchtlos, von einer
Besserung wolle man gar nicht reden. Man denkt nur immer an die Rück¬
fälligen und vergißt die andern, die sich nicht weiter bemerkbar machen, sondern
sich unter dein übrigen Bienenschwarm verloren haben. Jede Anstalt und jeder


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[0125] Die Behandlung des Verbrechers ist, Varrentrapp sagt: Die Zellengefängnisse bieten in allen Ländern eine geringere Sterblichkeit als die nach dem Schweig- oder Klassensystem und als die ohne System. Und der Arzt des Zellengefängnisses in Lttttich, der auch zuerst eine schädliche Einwirkung der Einzelhaft befürchtete, ist nach lang¬ jähriger Erfahrung zu dem Urteil gekommen: II sse ovnstats, Iss pas Ah äöinevW A'ötÄiönt xas xlus iwmvrsux ^ I/iöZs <^us x^rout aillsurs. Störungen des Seelenlebens kommen in allen Anstalten vor, und das ist auch ganz natürlich, da viele Gefangne nicht geistig normal sind und es nie ge¬ wesen sind, viele auch durch ein zügelloses wildes Leben ihre Nerven auf den Hund gebracht haben. Das Geschwür tragen sie längst in sich, in der Straf' anstatt unter dem nicht zu verkennenden Druck des Gefangnendciseins bricht es nur ans. Wie dem aber auch sei, die Zelle wirkt nicht schädlicher auf das Gemüt als das gemeinschaftliche Gefangnenleben. Ich habe eine ganze Reihe von geisteskranken Verbrechern kennen gelernt; die Mehrzahl von ihnen hatte nie eine Zelle gesehen, ich erinnere mich nur an zwei Fälle, wo die Krankheit bei Zellengefangnen zum Ausbruch kam. Man muß nur nicht denken, der Gefangne lebe wie in einem düstern, stillen Grabe, er sei gänzlich seinem Schicksal und seinen Gedanken überlassen, er habe nur sich und seine Not. Umgekehrt, er kommt eher als der andre Gefangne dazu, sich einmal von Herzen auszusprechen. Seine Einsamkeit wird unterbrochen durch die Besuche der Anstaltsbecuntcn, des Geistlichen und des Lehrers, des Werkführers, der ihm seine Arbeit bringt und ihn belehrt, durch Schulstunden, Spazieren- gehn, durch Lesen, das ihm in größeren Umfange gestattet wird als dem Ge¬ fangnen in der gemeinschaftlichen Haft. Man frage nur einmal, wie viele von den Zellengefnngnen in die gemeinsame Haft versetzt zu werden wünschen. Es werden sich sicherlich welche melden, die vernünftigem aber und die Mehr¬ zahl werden es vorziehen, für sich zu bleiben, wenn sie erst einmal über die erste Not der Einsamkeit hinweggekommen sind. Auch in der Zelle stießt die Zeit langsam und träge hin, und auch da zeigt sie dem Gefangnen Stacheln und Dornenspitzen, aber er lebt doch darin ruhiger und freundlicher und hat manchen Augenblick der Freiheit übrig, dessen er in der gemeinsamen Haft entbehren müßte. In der Zelle kann der Strafvollziehungsbeamte, der Seelsorger und Lehrer die freundlichsten Stunden seines schweren Berufs erleben, hier hat er die Ge¬ wißheit, einem Mitmenschen etwas zu sein, und hier besonders fühlt er, daß er vom Staate nicht zur Tretmaschinenarbeit verurteilt ist, sondern daß auch er eine Kulturaufgabe erfüllt. Es ist ein ebenso häufiges wie unfreundliches Urteil, das Wirken des Strafvollziehungsbeamten sei fruchtlos, von einer Besserung wolle man gar nicht reden. Man denkt nur immer an die Rück¬ fälligen und vergißt die andern, die sich nicht weiter bemerkbar machen, sondern sich unter dein übrigen Bienenschwarm verloren haben. Jede Anstalt und jeder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/125>, abgerufen am 26.08.2024.