Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.Das Dogma vom klassischen Altertum strömt nicht aus der Seele des Ästhetikers, sondern aus der des Philosophen Ob es gerade die Antworten sein werden, die sich der Verfasser des Das Dogma vom klassischen Altertum strömt nicht aus der Seele des Ästhetikers, sondern aus der des Philosophen Ob es gerade die Antworten sein werden, die sich der Verfasser des <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0084" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219086"/> <fw type="header" place="top"> Das Dogma vom klassischen Altertum</fw><lb/> <p xml:id="ID_247" prev="#ID_246"> strömt nicht aus der Seele des Ästhetikers, sondern aus der des Philosophen<lb/> und Pädagogen. Wie Nerrlichs gesamte Kritik des Dogmas vom klassischen<lb/> Altertum und seine damit zusammenhängende Polemik gegen die einseitigen<lb/> Ansprüche der Philologie, gegen die beliebte Geringschätzung des Erziehers<lb/> und der Erziehung in der Schlußforderung gipfelt: „Jeder Lehrer hat sich zu¬<lb/> nächst wissenschaftlich als Pädagoge auszubilden und erst von dieser Basis aus<lb/> dem Fachstudium zuzuwenden," wie er vor der „Utopie" nicht zurückschreckt,<lb/> daß an der Spitze alles Unterrichtswesens ein aus dem Lehrerstanve hervvr-<lb/> gegangner Unterrichtsminister, kein Jurist zu stehen habe, so durchzieht sein<lb/> ganzes Buch eine bittere Verurteilung der Gleichgültigkeit gegen die eigentliche<lb/> Erziehung, gegen die Erweckung einer einheitlichen Geistes- und Herzens¬<lb/> bildung in der modernen höhern Schule, so erfüllt ihn ein warmes und<lb/> nur allzu reizbares Gefühl für die Notwendigkeit einer Grundanschauung<lb/> für die gesamte Bildung. Die Zerfahrenheit und Zwiespältigkeit hat an<lb/> Nerrlich einen ebenso scharfen Gegner als die Kälte, die Steine statt des<lb/> Brotes bietet, die der tiefsten Bedürfnisse der Seele, namentlich der wer¬<lb/> denden Seele spottet. So stark ist in Nerrlich die Sehnsucht nach dem<lb/> festen Mittelpunkt, nach der Einheit der Bildung, daß er in seiner Dar¬<lb/> stellung des sechzehnten Jahrhunderts kein Bedenken trügt, zu sagen: „Seit<lb/> langer Zeit standen glücklicherweise endlich wieder einmal die religiösen Inter¬<lb/> essen im Vordergrunde. — Wahrlich es war eine große, eine beneidenswerte<lb/> Zeit, welche verlangte, daß der einzelne Lehrer vom untersten bis zum obersten<lb/> zugleich Theologe war. - Einheit des Bekenntnisses war mit Recht die<lb/> Losung. — Die lutherische Lehre repräsentirte ebeu damals die augenblicklich<lb/> höchste Stufe des menschlichen Geistes, nicht aber handelte es sich um Er¬<lb/> haltung von Abgestorbnem." In diesem Gefühl und dem kühnen Hinweis<lb/> darauf, daß das eigentliche Leben, die den ganzen Menschen ergreifende und<lb/> durchdringende Bildung niemals von einer noch so vorzüglichen formalen<lb/> Schulung, von einem noch so sein geschliffnen Werkzeug, sondern immer nur<lb/> von einem lebendig ergriffnen Inhalt, einem Ideal ausgehen kann, in der<lb/> Forderung und Vorahnung eines solchen Ideals liegt eine Hauptstärke und<lb/> eines der unanfechtbarsten Verdienste des Nerrlichschen Buches. Sieht man<lb/> genau zu, so hat die ganze überreiche Fülle von geschichtlichen Darlegungen und<lb/> Hinweisen, von Kritik und Polemik nur die Aufgabe, im Leser das gleiche<lb/> Gefühl, die gleiche Forderung und Vorahnung zu wecken. Bogen für Bogen<lb/> würden zahlreiche Einzelheiten von Nerrlichs Darstellung anfechtbar sein, aber<lb/> Bogen für Bogen drängt sich unabweisbar die Ueberzeugung auf, daß die<lb/> brennenden Fragen, die Nerrlich aufwirft, im kommenden Jahrhundert nicht<lb/> unbeantwortet bleiben können.</p><lb/> <p xml:id="ID_248" next="#ID_249"> Ob es gerade die Antworten sein werden, die sich der Verfasser des<lb/> „Dogmas von: klassischen Altertum" selbst erteilt? Als die erlauchtesten Geister</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0084]
Das Dogma vom klassischen Altertum
strömt nicht aus der Seele des Ästhetikers, sondern aus der des Philosophen
und Pädagogen. Wie Nerrlichs gesamte Kritik des Dogmas vom klassischen
Altertum und seine damit zusammenhängende Polemik gegen die einseitigen
Ansprüche der Philologie, gegen die beliebte Geringschätzung des Erziehers
und der Erziehung in der Schlußforderung gipfelt: „Jeder Lehrer hat sich zu¬
nächst wissenschaftlich als Pädagoge auszubilden und erst von dieser Basis aus
dem Fachstudium zuzuwenden," wie er vor der „Utopie" nicht zurückschreckt,
daß an der Spitze alles Unterrichtswesens ein aus dem Lehrerstanve hervvr-
gegangner Unterrichtsminister, kein Jurist zu stehen habe, so durchzieht sein
ganzes Buch eine bittere Verurteilung der Gleichgültigkeit gegen die eigentliche
Erziehung, gegen die Erweckung einer einheitlichen Geistes- und Herzens¬
bildung in der modernen höhern Schule, so erfüllt ihn ein warmes und
nur allzu reizbares Gefühl für die Notwendigkeit einer Grundanschauung
für die gesamte Bildung. Die Zerfahrenheit und Zwiespältigkeit hat an
Nerrlich einen ebenso scharfen Gegner als die Kälte, die Steine statt des
Brotes bietet, die der tiefsten Bedürfnisse der Seele, namentlich der wer¬
denden Seele spottet. So stark ist in Nerrlich die Sehnsucht nach dem
festen Mittelpunkt, nach der Einheit der Bildung, daß er in seiner Dar¬
stellung des sechzehnten Jahrhunderts kein Bedenken trügt, zu sagen: „Seit
langer Zeit standen glücklicherweise endlich wieder einmal die religiösen Inter¬
essen im Vordergrunde. — Wahrlich es war eine große, eine beneidenswerte
Zeit, welche verlangte, daß der einzelne Lehrer vom untersten bis zum obersten
zugleich Theologe war. - Einheit des Bekenntnisses war mit Recht die
Losung. — Die lutherische Lehre repräsentirte ebeu damals die augenblicklich
höchste Stufe des menschlichen Geistes, nicht aber handelte es sich um Er¬
haltung von Abgestorbnem." In diesem Gefühl und dem kühnen Hinweis
darauf, daß das eigentliche Leben, die den ganzen Menschen ergreifende und
durchdringende Bildung niemals von einer noch so vorzüglichen formalen
Schulung, von einem noch so sein geschliffnen Werkzeug, sondern immer nur
von einem lebendig ergriffnen Inhalt, einem Ideal ausgehen kann, in der
Forderung und Vorahnung eines solchen Ideals liegt eine Hauptstärke und
eines der unanfechtbarsten Verdienste des Nerrlichschen Buches. Sieht man
genau zu, so hat die ganze überreiche Fülle von geschichtlichen Darlegungen und
Hinweisen, von Kritik und Polemik nur die Aufgabe, im Leser das gleiche
Gefühl, die gleiche Forderung und Vorahnung zu wecken. Bogen für Bogen
würden zahlreiche Einzelheiten von Nerrlichs Darstellung anfechtbar sein, aber
Bogen für Bogen drängt sich unabweisbar die Ueberzeugung auf, daß die
brennenden Fragen, die Nerrlich aufwirft, im kommenden Jahrhundert nicht
unbeantwortet bleiben können.
Ob es gerade die Antworten sein werden, die sich der Verfasser des
„Dogmas von: klassischen Altertum" selbst erteilt? Als die erlauchtesten Geister
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