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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Leitartikelchen über die Dardanellen oder das Beringsmeer nicht mehr em¬
pfindlich sind. Auf zehn immer bereiten Flotten -- .Kanalgeschwader und Flotte
des Mittelmeeres (beide nur Schlachtschiffe erster Klasse umschließend), der
Nordost-, Südost- und Westküste von Amerika, von Westafrika, Indien und
Ostafrika, China und Australien -- schwimmt die Macht Englands in allen
Meeren, und vor einem Kolonialbesitz von der doppelten Größe Europas liegt
sie in allen Erdteilen vor Anker. Die Kriegsflotte ist natürlich nicht von der
enormen Handelsflotte zu trennen, die man gewöhnlich als ihren breiten Rück¬
halt ansieht. Aber diese englische Handelsflotte, die noch immer im Zunehmen
ist und (Ende 189Z) mit 8013000 Tonnen die Handelsflotte des ganzen
übrigen Europas übertrifft, dazu noch mit 1617000 Tonnen der Kolonien
bilden anch in andrer Beziehung das schwerste Gewicht an alle" kriegerischen
Entschlüssen Englands. Seltsames Geschick, das aber einmal doch alle See¬
mächte ereilt hat und ereilen mußte! Auf die Sicherheit ihrer Lage ver¬
trauend, breiten sie ihre Macht immer weiter über die Meere aus und ent¬
fernen sich mit jeder Vergrößerung ihres maritimen und überseeischen Ein¬
flusses vou dieser Sicherheit, bis ihr Schwerpunkt auf den schwankenden
Boden der Schiffe verschoben ist, den ein Sturm zertrümmern kann. Eng¬
land sieht wohl ein, wie viel bedenklicher heute seine Lage in einem Seekriege
wäre, als da es in die zwciundzwanzigjährige Periode der Kriege gegen das
revolutionäre und kaiserliche Frankreich eintrat; denn 17W war es noch nicht
für sein tägliches Fleisch und Brot von den Zufuhren über See abhängig.
Heute ist der Schutz seiner Handelsflotte eine ebenso wichtige Frage wie der
Schutz seiner Küsten; die Kriegsflotte kann nicht beiden Aufgaben in gleichem
Maße gerecht werden. Soll der größte Teil davon in einem Wachdienst lahm¬
gelegt werden, der die Angriffsfähigkeit notwendig schwächen müßte? An so
vernichtende Schläge wie bei Trafalgar und im Hafen von Kopenhagen ist
kaum mehr zu denken. Die Flotten der Festlandsmächte sind rascher gewachsen
und an Tüchtigkeit fortgeschritten als die englische. Und wenn auch liritMniu.
rulv edle viivvL so wahr würde wie um 1808, so weist die Geschichte nach,
daß selbst damals zehn Prozent der englischen Handelsfahrzenge von Schiffen
unter französischer Flagge genommen worden sind. Englands Außenhandel
hat sich seit dem Beginn jener Kriegsperiode, sagen wir in den letzten
hundert Jahren, verdreiundzwanzigfacht; dabei ist es in einem gar nicht abzu¬
schätzender Maße von ihm, von seiner Reederei, von seinen Kolonien, kurz,
von der offnen, ungehemmten Verbindung mit dem Ausland abhängiger ge¬
worden. Die Angst vor deren Unterbindung, wenn nicht Zerreißung, die
England mit all seinem Küstenschutz wie ein hilfloses Wrack treiben ließen,
drängt zu immer größern Zurüstungen. Es scheint jetzt den angeblichen Auto-
ritäten in Flottensachen, die das Ohr der politischen Versammlungen haben,
längst nicht mehr hinreichend, daß die englische Kriegsflotte den Flotten Frank-


Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Leitartikelchen über die Dardanellen oder das Beringsmeer nicht mehr em¬
pfindlich sind. Auf zehn immer bereiten Flotten — .Kanalgeschwader und Flotte
des Mittelmeeres (beide nur Schlachtschiffe erster Klasse umschließend), der
Nordost-, Südost- und Westküste von Amerika, von Westafrika, Indien und
Ostafrika, China und Australien — schwimmt die Macht Englands in allen
Meeren, und vor einem Kolonialbesitz von der doppelten Größe Europas liegt
sie in allen Erdteilen vor Anker. Die Kriegsflotte ist natürlich nicht von der
enormen Handelsflotte zu trennen, die man gewöhnlich als ihren breiten Rück¬
halt ansieht. Aber diese englische Handelsflotte, die noch immer im Zunehmen
ist und (Ende 189Z) mit 8013000 Tonnen die Handelsflotte des ganzen
übrigen Europas übertrifft, dazu noch mit 1617000 Tonnen der Kolonien
bilden anch in andrer Beziehung das schwerste Gewicht an alle» kriegerischen
Entschlüssen Englands. Seltsames Geschick, das aber einmal doch alle See¬
mächte ereilt hat und ereilen mußte! Auf die Sicherheit ihrer Lage ver¬
trauend, breiten sie ihre Macht immer weiter über die Meere aus und ent¬
fernen sich mit jeder Vergrößerung ihres maritimen und überseeischen Ein¬
flusses vou dieser Sicherheit, bis ihr Schwerpunkt auf den schwankenden
Boden der Schiffe verschoben ist, den ein Sturm zertrümmern kann. Eng¬
land sieht wohl ein, wie viel bedenklicher heute seine Lage in einem Seekriege
wäre, als da es in die zwciundzwanzigjährige Periode der Kriege gegen das
revolutionäre und kaiserliche Frankreich eintrat; denn 17W war es noch nicht
für sein tägliches Fleisch und Brot von den Zufuhren über See abhängig.
Heute ist der Schutz seiner Handelsflotte eine ebenso wichtige Frage wie der
Schutz seiner Küsten; die Kriegsflotte kann nicht beiden Aufgaben in gleichem
Maße gerecht werden. Soll der größte Teil davon in einem Wachdienst lahm¬
gelegt werden, der die Angriffsfähigkeit notwendig schwächen müßte? An so
vernichtende Schläge wie bei Trafalgar und im Hafen von Kopenhagen ist
kaum mehr zu denken. Die Flotten der Festlandsmächte sind rascher gewachsen
und an Tüchtigkeit fortgeschritten als die englische. Und wenn auch liritMniu.
rulv edle viivvL so wahr würde wie um 1808, so weist die Geschichte nach,
daß selbst damals zehn Prozent der englischen Handelsfahrzenge von Schiffen
unter französischer Flagge genommen worden sind. Englands Außenhandel
hat sich seit dem Beginn jener Kriegsperiode, sagen wir in den letzten
hundert Jahren, verdreiundzwanzigfacht; dabei ist es in einem gar nicht abzu¬
schätzender Maße von ihm, von seiner Reederei, von seinen Kolonien, kurz,
von der offnen, ungehemmten Verbindung mit dem Ausland abhängiger ge¬
worden. Die Angst vor deren Unterbindung, wenn nicht Zerreißung, die
England mit all seinem Küstenschutz wie ein hilfloses Wrack treiben ließen,
drängt zu immer größern Zurüstungen. Es scheint jetzt den angeblichen Auto-
ritäten in Flottensachen, die das Ohr der politischen Versammlungen haben,
längst nicht mehr hinreichend, daß die englische Kriegsflotte den Flotten Frank-


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[0066] Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik Leitartikelchen über die Dardanellen oder das Beringsmeer nicht mehr em¬ pfindlich sind. Auf zehn immer bereiten Flotten — .Kanalgeschwader und Flotte des Mittelmeeres (beide nur Schlachtschiffe erster Klasse umschließend), der Nordost-, Südost- und Westküste von Amerika, von Westafrika, Indien und Ostafrika, China und Australien — schwimmt die Macht Englands in allen Meeren, und vor einem Kolonialbesitz von der doppelten Größe Europas liegt sie in allen Erdteilen vor Anker. Die Kriegsflotte ist natürlich nicht von der enormen Handelsflotte zu trennen, die man gewöhnlich als ihren breiten Rück¬ halt ansieht. Aber diese englische Handelsflotte, die noch immer im Zunehmen ist und (Ende 189Z) mit 8013000 Tonnen die Handelsflotte des ganzen übrigen Europas übertrifft, dazu noch mit 1617000 Tonnen der Kolonien bilden anch in andrer Beziehung das schwerste Gewicht an alle» kriegerischen Entschlüssen Englands. Seltsames Geschick, das aber einmal doch alle See¬ mächte ereilt hat und ereilen mußte! Auf die Sicherheit ihrer Lage ver¬ trauend, breiten sie ihre Macht immer weiter über die Meere aus und ent¬ fernen sich mit jeder Vergrößerung ihres maritimen und überseeischen Ein¬ flusses vou dieser Sicherheit, bis ihr Schwerpunkt auf den schwankenden Boden der Schiffe verschoben ist, den ein Sturm zertrümmern kann. Eng¬ land sieht wohl ein, wie viel bedenklicher heute seine Lage in einem Seekriege wäre, als da es in die zwciundzwanzigjährige Periode der Kriege gegen das revolutionäre und kaiserliche Frankreich eintrat; denn 17W war es noch nicht für sein tägliches Fleisch und Brot von den Zufuhren über See abhängig. Heute ist der Schutz seiner Handelsflotte eine ebenso wichtige Frage wie der Schutz seiner Küsten; die Kriegsflotte kann nicht beiden Aufgaben in gleichem Maße gerecht werden. Soll der größte Teil davon in einem Wachdienst lahm¬ gelegt werden, der die Angriffsfähigkeit notwendig schwächen müßte? An so vernichtende Schläge wie bei Trafalgar und im Hafen von Kopenhagen ist kaum mehr zu denken. Die Flotten der Festlandsmächte sind rascher gewachsen und an Tüchtigkeit fortgeschritten als die englische. Und wenn auch liritMniu. rulv edle viivvL so wahr würde wie um 1808, so weist die Geschichte nach, daß selbst damals zehn Prozent der englischen Handelsfahrzenge von Schiffen unter französischer Flagge genommen worden sind. Englands Außenhandel hat sich seit dem Beginn jener Kriegsperiode, sagen wir in den letzten hundert Jahren, verdreiundzwanzigfacht; dabei ist es in einem gar nicht abzu¬ schätzender Maße von ihm, von seiner Reederei, von seinen Kolonien, kurz, von der offnen, ungehemmten Verbindung mit dem Ausland abhängiger ge¬ worden. Die Angst vor deren Unterbindung, wenn nicht Zerreißung, die England mit all seinem Küstenschutz wie ein hilfloses Wrack treiben ließen, drängt zu immer größern Zurüstungen. Es scheint jetzt den angeblichen Auto- ritäten in Flottensachen, die das Ohr der politischen Versammlungen haben, längst nicht mehr hinreichend, daß die englische Kriegsflotte den Flotten Frank-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/66>, abgerufen am 23.07.2024.