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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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U?andlungen des Ich im Zeitenstrome

Der dritte Lehrer, der den Titel Regens führte und die Ökonomie ver¬
waltete, trug Katechetik und Homiletik sehr anziehend und praktisch vor, leitete
die Übungen in der Domschule und die ersten Predigtversuche. Er war ein
stiller Mann von etwas scheuem Wesen und verschwand zu unsrer Betrübnis
kurz vorm Schluß des Kursus. Wir haben niemals genau erfahren, was aus
ihm geworden ist; es hieß, er sei mit einer Dame nach Afrika durchgegangen.
Außerdem hielt der Direktor des katholischen Schullehrerseminars Vorlesungen
über Pädagogik, und der Domorganist Hahn unterrichtete im Kirchengesang.
Zwei junge Geistliche, Senioren genannt, versahen untergeordnete Obliegen¬
heiten; sie leiteten die Morgen- und Abendandachten, drillten uns für den
Akoluthendienst im Dome, leiteten die liturgischen Übungen und verkündigten
die Anordnungen der Obern. Der eine, ein lustiger Bruder, gewöhnlich Blech¬
michel genannt, spendete uns am 27. Dezember in der Kapelle den Jvhcmnis-
wein. Der Ausspender spricht zu jedem, indem er ihm den Kelch reicht: blos
vMt^estil bsati ^olmimis. Ich nippte höchst andächtig und bescheiden, wie
es meiner Ansicht nach einem sakramentale, wenn es auch kein Sakrament
war, gebührte, und entsetzte mich nicht wenig, als Michel, nachdem er die
Formel heruntergeplappert hatte, scheltend beifügte: "Dummer Kerl, so nimm
doch er orntlichen Schluck, 's ja genug doa!" Ich gehorchte natürlich und
fühlte mich wundersam gelabt durch den köstlichen Trank. Die Herren am
Dome haben einen viel zu guten Geschmack, als daß sie den Alumnen die
johanneische Liebe in Gestalt eines Krätzers eingießen sollten.

An den Sonn- und Feiertagen wohnen die Alumnen dem Gottesdienste
im Dome bei, und einige von ihnen haben als Akolntheu zu dienen, deren
Zahl bedeutend ist, wenn ein Bischof oder iufulirter Prälat zelebrirt. Deal
außer dem eigentlichen Altnrdienste giebt es da allerlei Pagendienste zu ver¬
richten: der eine hat dem Herrn, so oft er sich von seinem Sitze erhebt, das
Schoßtuch, ein andrer die Mitra abzunehmen, ein dritter den Hirtenstab zu
reichen oder wieder in Empfang zu nehmen, ein vierter für die Handschuhe
einen silbernen Teller bereit zu halten, ein fünfter das Buch vorzuhalten, wenn
etwas zu beten oder zu fingen ist, ein sechster, auch am hellen Tage, mit einer
Kerze zu leuchten, die freilich, wie jeder Gegenstand und jede Handlung, sym¬
bolische Bedeutung hat u. s. w., der Kardinal erfordert außerdem noch einen
Schleppträger. Der Gottesdienst im Breslauer Dome ist oder war damals
wenigstens so ideal schön, daß ich schon als Student nicht gern in eine andre
Kirche ging. Jetzt lernte ich außer dem Hochamt auch die Nachmittags- und
Abendgottesdienste kennen, die in dem Breviergebete bestehen, das an den
Feiertagen und an ihren Vorabenden von der Domgeistlichkeit gemeinsam und
feierlich verrichtet wird, während es sonst jeder für sich verrichtet. Figurirte
Musik auf dem Chöre, Psalmvdieu kräftiger Männerchöre und kurze Soli in
gregorianischem Gesang verschlingen sich hier mit dem aus Schriftabschnitten,


U?andlungen des Ich im Zeitenstrome

Der dritte Lehrer, der den Titel Regens führte und die Ökonomie ver¬
waltete, trug Katechetik und Homiletik sehr anziehend und praktisch vor, leitete
die Übungen in der Domschule und die ersten Predigtversuche. Er war ein
stiller Mann von etwas scheuem Wesen und verschwand zu unsrer Betrübnis
kurz vorm Schluß des Kursus. Wir haben niemals genau erfahren, was aus
ihm geworden ist; es hieß, er sei mit einer Dame nach Afrika durchgegangen.
Außerdem hielt der Direktor des katholischen Schullehrerseminars Vorlesungen
über Pädagogik, und der Domorganist Hahn unterrichtete im Kirchengesang.
Zwei junge Geistliche, Senioren genannt, versahen untergeordnete Obliegen¬
heiten; sie leiteten die Morgen- und Abendandachten, drillten uns für den
Akoluthendienst im Dome, leiteten die liturgischen Übungen und verkündigten
die Anordnungen der Obern. Der eine, ein lustiger Bruder, gewöhnlich Blech¬
michel genannt, spendete uns am 27. Dezember in der Kapelle den Jvhcmnis-
wein. Der Ausspender spricht zu jedem, indem er ihm den Kelch reicht: blos
vMt^estil bsati ^olmimis. Ich nippte höchst andächtig und bescheiden, wie
es meiner Ansicht nach einem sakramentale, wenn es auch kein Sakrament
war, gebührte, und entsetzte mich nicht wenig, als Michel, nachdem er die
Formel heruntergeplappert hatte, scheltend beifügte: „Dummer Kerl, so nimm
doch er orntlichen Schluck, 's ja genug doa!" Ich gehorchte natürlich und
fühlte mich wundersam gelabt durch den köstlichen Trank. Die Herren am
Dome haben einen viel zu guten Geschmack, als daß sie den Alumnen die
johanneische Liebe in Gestalt eines Krätzers eingießen sollten.

An den Sonn- und Feiertagen wohnen die Alumnen dem Gottesdienste
im Dome bei, und einige von ihnen haben als Akolntheu zu dienen, deren
Zahl bedeutend ist, wenn ein Bischof oder iufulirter Prälat zelebrirt. Deal
außer dem eigentlichen Altnrdienste giebt es da allerlei Pagendienste zu ver¬
richten: der eine hat dem Herrn, so oft er sich von seinem Sitze erhebt, das
Schoßtuch, ein andrer die Mitra abzunehmen, ein dritter den Hirtenstab zu
reichen oder wieder in Empfang zu nehmen, ein vierter für die Handschuhe
einen silbernen Teller bereit zu halten, ein fünfter das Buch vorzuhalten, wenn
etwas zu beten oder zu fingen ist, ein sechster, auch am hellen Tage, mit einer
Kerze zu leuchten, die freilich, wie jeder Gegenstand und jede Handlung, sym¬
bolische Bedeutung hat u. s. w., der Kardinal erfordert außerdem noch einen
Schleppträger. Der Gottesdienst im Breslauer Dome ist oder war damals
wenigstens so ideal schön, daß ich schon als Student nicht gern in eine andre
Kirche ging. Jetzt lernte ich außer dem Hochamt auch die Nachmittags- und
Abendgottesdienste kennen, die in dem Breviergebete bestehen, das an den
Feiertagen und an ihren Vorabenden von der Domgeistlichkeit gemeinsam und
feierlich verrichtet wird, während es sonst jeder für sich verrichtet. Figurirte
Musik auf dem Chöre, Psalmvdieu kräftiger Männerchöre und kurze Soli in
gregorianischem Gesang verschlingen sich hier mit dem aus Schriftabschnitten,


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[0646] U?andlungen des Ich im Zeitenstrome Der dritte Lehrer, der den Titel Regens führte und die Ökonomie ver¬ waltete, trug Katechetik und Homiletik sehr anziehend und praktisch vor, leitete die Übungen in der Domschule und die ersten Predigtversuche. Er war ein stiller Mann von etwas scheuem Wesen und verschwand zu unsrer Betrübnis kurz vorm Schluß des Kursus. Wir haben niemals genau erfahren, was aus ihm geworden ist; es hieß, er sei mit einer Dame nach Afrika durchgegangen. Außerdem hielt der Direktor des katholischen Schullehrerseminars Vorlesungen über Pädagogik, und der Domorganist Hahn unterrichtete im Kirchengesang. Zwei junge Geistliche, Senioren genannt, versahen untergeordnete Obliegen¬ heiten; sie leiteten die Morgen- und Abendandachten, drillten uns für den Akoluthendienst im Dome, leiteten die liturgischen Übungen und verkündigten die Anordnungen der Obern. Der eine, ein lustiger Bruder, gewöhnlich Blech¬ michel genannt, spendete uns am 27. Dezember in der Kapelle den Jvhcmnis- wein. Der Ausspender spricht zu jedem, indem er ihm den Kelch reicht: blos vMt^estil bsati ^olmimis. Ich nippte höchst andächtig und bescheiden, wie es meiner Ansicht nach einem sakramentale, wenn es auch kein Sakrament war, gebührte, und entsetzte mich nicht wenig, als Michel, nachdem er die Formel heruntergeplappert hatte, scheltend beifügte: „Dummer Kerl, so nimm doch er orntlichen Schluck, 's ja genug doa!" Ich gehorchte natürlich und fühlte mich wundersam gelabt durch den köstlichen Trank. Die Herren am Dome haben einen viel zu guten Geschmack, als daß sie den Alumnen die johanneische Liebe in Gestalt eines Krätzers eingießen sollten. An den Sonn- und Feiertagen wohnen die Alumnen dem Gottesdienste im Dome bei, und einige von ihnen haben als Akolntheu zu dienen, deren Zahl bedeutend ist, wenn ein Bischof oder iufulirter Prälat zelebrirt. Deal außer dem eigentlichen Altnrdienste giebt es da allerlei Pagendienste zu ver¬ richten: der eine hat dem Herrn, so oft er sich von seinem Sitze erhebt, das Schoßtuch, ein andrer die Mitra abzunehmen, ein dritter den Hirtenstab zu reichen oder wieder in Empfang zu nehmen, ein vierter für die Handschuhe einen silbernen Teller bereit zu halten, ein fünfter das Buch vorzuhalten, wenn etwas zu beten oder zu fingen ist, ein sechster, auch am hellen Tage, mit einer Kerze zu leuchten, die freilich, wie jeder Gegenstand und jede Handlung, sym¬ bolische Bedeutung hat u. s. w., der Kardinal erfordert außerdem noch einen Schleppträger. Der Gottesdienst im Breslauer Dome ist oder war damals wenigstens so ideal schön, daß ich schon als Student nicht gern in eine andre Kirche ging. Jetzt lernte ich außer dem Hochamt auch die Nachmittags- und Abendgottesdienste kennen, die in dem Breviergebete bestehen, das an den Feiertagen und an ihren Vorabenden von der Domgeistlichkeit gemeinsam und feierlich verrichtet wird, während es sonst jeder für sich verrichtet. Figurirte Musik auf dem Chöre, Psalmvdieu kräftiger Männerchöre und kurze Soli in gregorianischem Gesang verschlingen sich hier mit dem aus Schriftabschnitten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/646>, abgerufen am 23.07.2024.