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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

tridentinischen Reform. Keine Beachtung verdient der Vorwurf, daß die Ka¬
suistik eine Versuchung für deu Geistlichen selbst sei. Ganz ähnlichen Ver¬
suchungen sind der Arzt, der Richter, der Künstler und die Angehörigen vieler
andern Berufsarten ausgesetzt; das gehört eben mit zum Beruf. Übrigens ist
gerade die Versuchung, die ans dem Studium einiger Abschnitte in den kasuisti¬
schen Lehrbüchern hervorgehen könnte, kaum der Rede wert. In der Zeit,
wo diese Bücher studirt werden, befinden sich die Seelen der Priesteramts-
kandidatcn einerseits in einem solchen Schwunge und andrerseits unter dem
Druck einer solchen Arbeitslast, daß ungehörige Gedanken gar nicht aufkommen
können, später aber, im Amte, denken sie gar nicht mehr daran, den Gury oder
Liguori zu studiren. An Versuchungen festes natürlich nicht, aber aus der
spitzfindigen Jesuiteumoral entspringen die nicht, sondern aus der derben Wirk¬
lichkeit. Damit soll nicht geleugnet werden, das; Auswüchse vorkommen, so¬
wohl lächerliche als gefährliche; ist einmal die Notwendigkeit einer Kasuistik
gegeben und wird diese Gegenstand einer besondern Wissenschaft, dann kann es
an jenen Verirrungen -- nicht eines verdorlmen Herzens, sondern eines spitz¬
findigen Verstandes, wie Hoensbroech sagt -- nicht fehlen; allein für den sitt¬
lichen Zustand im großen und ganzen hat das alles nicht viel zu bedeuten.
Wenn ich selbst später durch Lebenserfahrung, durch philosophische und natur¬
wissenschaftliche Erwägungen und durch deu geistigen Umgang mit den deutschen
Klassikern Anschauungen gewonnen habe, die der Puritaner lax oder gar ver¬
werflich nennen würde, so bin ich mir bewußt, darin nicht in Übereinstimmung
mit der Jesuitenmorul, sondern im Gegensatz zu ihr zu stehen.

Einige Früchte, die ich aus Loriusers Jesuitenmoral davongetragen und
nicht preisgegeben habe, sind gar nicht zu verachten. Zwar einer der von ihm
oft eingeschürften Ratschläge, den er in das Wort: tirnso viruiQ rmius libri
kleidete, habe ich vom ersten Augenblick an bis heute gründlich vernachlässigt:
die Zahl der Bücher, die ich teils freiwillig verschlungen, teils unfreiwillig
hinuntergewürgt habe, ist Legion; nur gerade zum Studium des einen Buches,
dem er den ersten Rang nach der heiligen Schrift einräumte, der Summa des
Thomas von Aquino, bin ich merkwürdigerweise niemals gekommen. Aber drei
andre Ratschläge habe ich treu befolgt. Erstens den, niemals faul zu sein;
vor Zeitvergeudung und Müssiggang, soweit dieser nicht zur Erholung not¬
wendig ist, pflanzte er uns einen wahren Abscheu ein. Zweitens mahnte er
nnablüssig in Beziehung auf Predigt und sonstige Ausübung des Lehramts:
immer einfach, schlicht und klar reden, dem gemeinen Mann verständlich; keine
Floskeln und Redensarten machen, sondern nur sachliche Belehrung dar¬
bieten! So oft ich dieser Regel einmal untreu werden wollte, durch Eitelkeit
verführt (nicht zu reden von den Fällen, wo man "koste," weil man schlecht
vorbereitet ist), folgte die Strafe stets auf dein Fuße nach. Ein solcher Fall
steht mir besonders lebhaft vor Angen. In der Filialkirche zu S., in einer


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

tridentinischen Reform. Keine Beachtung verdient der Vorwurf, daß die Ka¬
suistik eine Versuchung für deu Geistlichen selbst sei. Ganz ähnlichen Ver¬
suchungen sind der Arzt, der Richter, der Künstler und die Angehörigen vieler
andern Berufsarten ausgesetzt; das gehört eben mit zum Beruf. Übrigens ist
gerade die Versuchung, die ans dem Studium einiger Abschnitte in den kasuisti¬
schen Lehrbüchern hervorgehen könnte, kaum der Rede wert. In der Zeit,
wo diese Bücher studirt werden, befinden sich die Seelen der Priesteramts-
kandidatcn einerseits in einem solchen Schwunge und andrerseits unter dem
Druck einer solchen Arbeitslast, daß ungehörige Gedanken gar nicht aufkommen
können, später aber, im Amte, denken sie gar nicht mehr daran, den Gury oder
Liguori zu studiren. An Versuchungen festes natürlich nicht, aber aus der
spitzfindigen Jesuiteumoral entspringen die nicht, sondern aus der derben Wirk¬
lichkeit. Damit soll nicht geleugnet werden, das; Auswüchse vorkommen, so¬
wohl lächerliche als gefährliche; ist einmal die Notwendigkeit einer Kasuistik
gegeben und wird diese Gegenstand einer besondern Wissenschaft, dann kann es
an jenen Verirrungen — nicht eines verdorlmen Herzens, sondern eines spitz¬
findigen Verstandes, wie Hoensbroech sagt — nicht fehlen; allein für den sitt¬
lichen Zustand im großen und ganzen hat das alles nicht viel zu bedeuten.
Wenn ich selbst später durch Lebenserfahrung, durch philosophische und natur¬
wissenschaftliche Erwägungen und durch deu geistigen Umgang mit den deutschen
Klassikern Anschauungen gewonnen habe, die der Puritaner lax oder gar ver¬
werflich nennen würde, so bin ich mir bewußt, darin nicht in Übereinstimmung
mit der Jesuitenmorul, sondern im Gegensatz zu ihr zu stehen.

Einige Früchte, die ich aus Loriusers Jesuitenmoral davongetragen und
nicht preisgegeben habe, sind gar nicht zu verachten. Zwar einer der von ihm
oft eingeschürften Ratschläge, den er in das Wort: tirnso viruiQ rmius libri
kleidete, habe ich vom ersten Augenblick an bis heute gründlich vernachlässigt:
die Zahl der Bücher, die ich teils freiwillig verschlungen, teils unfreiwillig
hinuntergewürgt habe, ist Legion; nur gerade zum Studium des einen Buches,
dem er den ersten Rang nach der heiligen Schrift einräumte, der Summa des
Thomas von Aquino, bin ich merkwürdigerweise niemals gekommen. Aber drei
andre Ratschläge habe ich treu befolgt. Erstens den, niemals faul zu sein;
vor Zeitvergeudung und Müssiggang, soweit dieser nicht zur Erholung not¬
wendig ist, pflanzte er uns einen wahren Abscheu ein. Zweitens mahnte er
nnablüssig in Beziehung auf Predigt und sonstige Ausübung des Lehramts:
immer einfach, schlicht und klar reden, dem gemeinen Mann verständlich; keine
Floskeln und Redensarten machen, sondern nur sachliche Belehrung dar¬
bieten! So oft ich dieser Regel einmal untreu werden wollte, durch Eitelkeit
verführt (nicht zu reden von den Fällen, wo man „koste," weil man schlecht
vorbereitet ist), folgte die Strafe stets auf dein Fuße nach. Ein solcher Fall
steht mir besonders lebhaft vor Angen. In der Filialkirche zu S., in einer


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[0644] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome tridentinischen Reform. Keine Beachtung verdient der Vorwurf, daß die Ka¬ suistik eine Versuchung für deu Geistlichen selbst sei. Ganz ähnlichen Ver¬ suchungen sind der Arzt, der Richter, der Künstler und die Angehörigen vieler andern Berufsarten ausgesetzt; das gehört eben mit zum Beruf. Übrigens ist gerade die Versuchung, die ans dem Studium einiger Abschnitte in den kasuisti¬ schen Lehrbüchern hervorgehen könnte, kaum der Rede wert. In der Zeit, wo diese Bücher studirt werden, befinden sich die Seelen der Priesteramts- kandidatcn einerseits in einem solchen Schwunge und andrerseits unter dem Druck einer solchen Arbeitslast, daß ungehörige Gedanken gar nicht aufkommen können, später aber, im Amte, denken sie gar nicht mehr daran, den Gury oder Liguori zu studiren. An Versuchungen festes natürlich nicht, aber aus der spitzfindigen Jesuiteumoral entspringen die nicht, sondern aus der derben Wirk¬ lichkeit. Damit soll nicht geleugnet werden, das; Auswüchse vorkommen, so¬ wohl lächerliche als gefährliche; ist einmal die Notwendigkeit einer Kasuistik gegeben und wird diese Gegenstand einer besondern Wissenschaft, dann kann es an jenen Verirrungen — nicht eines verdorlmen Herzens, sondern eines spitz¬ findigen Verstandes, wie Hoensbroech sagt — nicht fehlen; allein für den sitt¬ lichen Zustand im großen und ganzen hat das alles nicht viel zu bedeuten. Wenn ich selbst später durch Lebenserfahrung, durch philosophische und natur¬ wissenschaftliche Erwägungen und durch deu geistigen Umgang mit den deutschen Klassikern Anschauungen gewonnen habe, die der Puritaner lax oder gar ver¬ werflich nennen würde, so bin ich mir bewußt, darin nicht in Übereinstimmung mit der Jesuitenmorul, sondern im Gegensatz zu ihr zu stehen. Einige Früchte, die ich aus Loriusers Jesuitenmoral davongetragen und nicht preisgegeben habe, sind gar nicht zu verachten. Zwar einer der von ihm oft eingeschürften Ratschläge, den er in das Wort: tirnso viruiQ rmius libri kleidete, habe ich vom ersten Augenblick an bis heute gründlich vernachlässigt: die Zahl der Bücher, die ich teils freiwillig verschlungen, teils unfreiwillig hinuntergewürgt habe, ist Legion; nur gerade zum Studium des einen Buches, dem er den ersten Rang nach der heiligen Schrift einräumte, der Summa des Thomas von Aquino, bin ich merkwürdigerweise niemals gekommen. Aber drei andre Ratschläge habe ich treu befolgt. Erstens den, niemals faul zu sein; vor Zeitvergeudung und Müssiggang, soweit dieser nicht zur Erholung not¬ wendig ist, pflanzte er uns einen wahren Abscheu ein. Zweitens mahnte er nnablüssig in Beziehung auf Predigt und sonstige Ausübung des Lehramts: immer einfach, schlicht und klar reden, dem gemeinen Mann verständlich; keine Floskeln und Redensarten machen, sondern nur sachliche Belehrung dar¬ bieten! So oft ich dieser Regel einmal untreu werden wollte, durch Eitelkeit verführt (nicht zu reden von den Fällen, wo man „koste," weil man schlecht vorbereitet ist), folgte die Strafe stets auf dein Fuße nach. Ein solcher Fall steht mir besonders lebhaft vor Angen. In der Filialkirche zu S., in einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/644>, abgerufen am 23.07.2024.