Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

dritten Bande von Deharbes Katechismuserklärung (Paderborn, bei Schöningh)
sehen; wer sich flüchtig umsehen will, mag ein paar Seiten des ersten Ab¬
schnitts über die Gebote und die Liebe, dann einiges aus der Erklärung des
sechsten und des achten Gebotes lesen; besonders der Schluß des Abschnitts
über die Lüge (auf Seite 421 der zweiten Auflage) wird ihn interessiren. Gury
und die übrigen find Anweisungen zur Ausübung des priesterlichen Nichtcr-
cnntes. Die katholische Kirche erklärt den Beichtstuhl sür ein eorum intörunnr,
wo der Priester an Gottes Stelle zu richten und je nach der Schwere der
Sünden und der Gemütsverfassung des Sünders loszusprechen oder die Los¬
sprechung zu verweigern und Strafen zu verhängen habe. So wenig wie der
weltliche Richter mit dem "großen Prinzip der Gerechtigkeit," so wenig kommt
der geistliche bei jenem Geschäft mit den "großen Prinzipien der Sittlichkeit"
aus; beide brauchen ein Gesetzbuch und dessen Erläuterung an einzelnen Fällen,
also eine Kasuistik. Freilich geht nach meiner heutigen Überzeugung dieses
Richteramt eines Menschen in loro oonsoientias wider die Vernunft (nicht un¬
bedingt Wider die Schrift; Matth. 18, 18 und Joh. 20, 23 können so oder
anders erklärt werden, wer -- wenn er nicht Papst ist -- will das unfehlbar
entscheiden?), aber meine subjektive Vernunft und die von Millionen andern
Menschen giebt natürlich keinen Grund ab für die römische Kirche, ihr Lehr¬
gebäude umzubauen, und so lange jenes Richteramt dazu gehört, wird man
ihr auch die Beichtstuhlkasuistik lassen müssen.

Übrigens ist auch abgesehen von jenem angeblichen Richteramt ohne alle
Kasuistik nicht gut auszukommen. Der Priester soll auch Seelenarzt und
Seelenführer sein, und ich glaube, auf diese beiden Ämter werden selbst die
evangelischen Geistlichen nicht ganz verzichten wollen, und möglicherweise werden
sie ihnen wider Willen zuweilen aufgenötigt. Gewiß sind die meisten Menschen
so geartet, daß sie bei ihrem Handeln eher nach der äußern Schranke des Straf¬
gesetzes als nach der innern des Sittengesetzes fragen. Gewiß haben viele den
Begriff der Sünde längst in die Rumpelkammer des Aberglaubens verwiesen.
Wahrscheinlich fehlt es auch nicht an hochgemuten Seelen, die fest in ihrem
Gott wurzelnd, zwischen diesem und sich außer Christus keinen andern Ver¬
mittler dulden noch brauchen und jederzeit dessen gewiß sind, daß Gottes Wille
auch ihr Wille, oder was dasselbe ist, ihr Wille Gottes Wille sei, und die
daher weder fehlgehen noch sündigen können. Aber sollten alle jungen Leute
ihrer Sache schon so gewiß sein? Sollte nicht manchmal einer das Bedürfnis
haben, einen zuverlässigen ältern Freund zu fragen, ob dies oder jenes erlaubt
sei? Und ist das dann nicht Kasuistik? Ist es so gar gewissenhaft, die Leutchen
laufen zu lassen, bis sie die Belehrung vom Arzt empfangen oder -- vom
Strafrichter? Mau redet und schreibt viel vom Mißbrauch des Beichtstuhls.
Aber solcher Mißbrauch ist, wie die deutsche Schwank- und die italienische
Novellenlitteratnr beweist, im Mittelalter weit häufiger gewesen als nach der


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

dritten Bande von Deharbes Katechismuserklärung (Paderborn, bei Schöningh)
sehen; wer sich flüchtig umsehen will, mag ein paar Seiten des ersten Ab¬
schnitts über die Gebote und die Liebe, dann einiges aus der Erklärung des
sechsten und des achten Gebotes lesen; besonders der Schluß des Abschnitts
über die Lüge (auf Seite 421 der zweiten Auflage) wird ihn interessiren. Gury
und die übrigen find Anweisungen zur Ausübung des priesterlichen Nichtcr-
cnntes. Die katholische Kirche erklärt den Beichtstuhl sür ein eorum intörunnr,
wo der Priester an Gottes Stelle zu richten und je nach der Schwere der
Sünden und der Gemütsverfassung des Sünders loszusprechen oder die Los¬
sprechung zu verweigern und Strafen zu verhängen habe. So wenig wie der
weltliche Richter mit dem „großen Prinzip der Gerechtigkeit," so wenig kommt
der geistliche bei jenem Geschäft mit den „großen Prinzipien der Sittlichkeit"
aus; beide brauchen ein Gesetzbuch und dessen Erläuterung an einzelnen Fällen,
also eine Kasuistik. Freilich geht nach meiner heutigen Überzeugung dieses
Richteramt eines Menschen in loro oonsoientias wider die Vernunft (nicht un¬
bedingt Wider die Schrift; Matth. 18, 18 und Joh. 20, 23 können so oder
anders erklärt werden, wer — wenn er nicht Papst ist — will das unfehlbar
entscheiden?), aber meine subjektive Vernunft und die von Millionen andern
Menschen giebt natürlich keinen Grund ab für die römische Kirche, ihr Lehr¬
gebäude umzubauen, und so lange jenes Richteramt dazu gehört, wird man
ihr auch die Beichtstuhlkasuistik lassen müssen.

Übrigens ist auch abgesehen von jenem angeblichen Richteramt ohne alle
Kasuistik nicht gut auszukommen. Der Priester soll auch Seelenarzt und
Seelenführer sein, und ich glaube, auf diese beiden Ämter werden selbst die
evangelischen Geistlichen nicht ganz verzichten wollen, und möglicherweise werden
sie ihnen wider Willen zuweilen aufgenötigt. Gewiß sind die meisten Menschen
so geartet, daß sie bei ihrem Handeln eher nach der äußern Schranke des Straf¬
gesetzes als nach der innern des Sittengesetzes fragen. Gewiß haben viele den
Begriff der Sünde längst in die Rumpelkammer des Aberglaubens verwiesen.
Wahrscheinlich fehlt es auch nicht an hochgemuten Seelen, die fest in ihrem
Gott wurzelnd, zwischen diesem und sich außer Christus keinen andern Ver¬
mittler dulden noch brauchen und jederzeit dessen gewiß sind, daß Gottes Wille
auch ihr Wille, oder was dasselbe ist, ihr Wille Gottes Wille sei, und die
daher weder fehlgehen noch sündigen können. Aber sollten alle jungen Leute
ihrer Sache schon so gewiß sein? Sollte nicht manchmal einer das Bedürfnis
haben, einen zuverlässigen ältern Freund zu fragen, ob dies oder jenes erlaubt
sei? Und ist das dann nicht Kasuistik? Ist es so gar gewissenhaft, die Leutchen
laufen zu lassen, bis sie die Belehrung vom Arzt empfangen oder — vom
Strafrichter? Mau redet und schreibt viel vom Mißbrauch des Beichtstuhls.
Aber solcher Mißbrauch ist, wie die deutsche Schwank- und die italienische
Novellenlitteratnr beweist, im Mittelalter weit häufiger gewesen als nach der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0643" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219647"/>
          <fw type="header" place="top"> Wandlungen des Ich im Zeitenstrome</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1990" prev="#ID_1989"> dritten Bande von Deharbes Katechismuserklärung (Paderborn, bei Schöningh)<lb/>
sehen; wer sich flüchtig umsehen will, mag ein paar Seiten des ersten Ab¬<lb/>
schnitts über die Gebote und die Liebe, dann einiges aus der Erklärung des<lb/>
sechsten und des achten Gebotes lesen; besonders der Schluß des Abschnitts<lb/>
über die Lüge (auf Seite 421 der zweiten Auflage) wird ihn interessiren. Gury<lb/>
und die übrigen find Anweisungen zur Ausübung des priesterlichen Nichtcr-<lb/>
cnntes. Die katholische Kirche erklärt den Beichtstuhl sür ein eorum intörunnr,<lb/>
wo der Priester an Gottes Stelle zu richten und je nach der Schwere der<lb/>
Sünden und der Gemütsverfassung des Sünders loszusprechen oder die Los¬<lb/>
sprechung zu verweigern und Strafen zu verhängen habe. So wenig wie der<lb/>
weltliche Richter mit dem &#x201E;großen Prinzip der Gerechtigkeit," so wenig kommt<lb/>
der geistliche bei jenem Geschäft mit den &#x201E;großen Prinzipien der Sittlichkeit"<lb/>
aus; beide brauchen ein Gesetzbuch und dessen Erläuterung an einzelnen Fällen,<lb/>
also eine Kasuistik. Freilich geht nach meiner heutigen Überzeugung dieses<lb/>
Richteramt eines Menschen in loro oonsoientias wider die Vernunft (nicht un¬<lb/>
bedingt Wider die Schrift; Matth. 18, 18 und Joh. 20, 23 können so oder<lb/>
anders erklärt werden, wer &#x2014; wenn er nicht Papst ist &#x2014; will das unfehlbar<lb/>
entscheiden?), aber meine subjektive Vernunft und die von Millionen andern<lb/>
Menschen giebt natürlich keinen Grund ab für die römische Kirche, ihr Lehr¬<lb/>
gebäude umzubauen, und so lange jenes Richteramt dazu gehört, wird man<lb/>
ihr auch die Beichtstuhlkasuistik lassen müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1991" next="#ID_1992"> Übrigens ist auch abgesehen von jenem angeblichen Richteramt ohne alle<lb/>
Kasuistik nicht gut auszukommen. Der Priester soll auch Seelenarzt und<lb/>
Seelenführer sein, und ich glaube, auf diese beiden Ämter werden selbst die<lb/>
evangelischen Geistlichen nicht ganz verzichten wollen, und möglicherweise werden<lb/>
sie ihnen wider Willen zuweilen aufgenötigt. Gewiß sind die meisten Menschen<lb/>
so geartet, daß sie bei ihrem Handeln eher nach der äußern Schranke des Straf¬<lb/>
gesetzes als nach der innern des Sittengesetzes fragen. Gewiß haben viele den<lb/>
Begriff der Sünde längst in die Rumpelkammer des Aberglaubens verwiesen.<lb/>
Wahrscheinlich fehlt es auch nicht an hochgemuten Seelen, die fest in ihrem<lb/>
Gott wurzelnd, zwischen diesem und sich außer Christus keinen andern Ver¬<lb/>
mittler dulden noch brauchen und jederzeit dessen gewiß sind, daß Gottes Wille<lb/>
auch ihr Wille, oder was dasselbe ist, ihr Wille Gottes Wille sei, und die<lb/>
daher weder fehlgehen noch sündigen können. Aber sollten alle jungen Leute<lb/>
ihrer Sache schon so gewiß sein? Sollte nicht manchmal einer das Bedürfnis<lb/>
haben, einen zuverlässigen ältern Freund zu fragen, ob dies oder jenes erlaubt<lb/>
sei? Und ist das dann nicht Kasuistik? Ist es so gar gewissenhaft, die Leutchen<lb/>
laufen zu lassen, bis sie die Belehrung vom Arzt empfangen oder &#x2014; vom<lb/>
Strafrichter? Mau redet und schreibt viel vom Mißbrauch des Beichtstuhls.<lb/>
Aber solcher Mißbrauch ist, wie die deutsche Schwank- und die italienische<lb/>
Novellenlitteratnr beweist, im Mittelalter weit häufiger gewesen als nach der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0643] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome dritten Bande von Deharbes Katechismuserklärung (Paderborn, bei Schöningh) sehen; wer sich flüchtig umsehen will, mag ein paar Seiten des ersten Ab¬ schnitts über die Gebote und die Liebe, dann einiges aus der Erklärung des sechsten und des achten Gebotes lesen; besonders der Schluß des Abschnitts über die Lüge (auf Seite 421 der zweiten Auflage) wird ihn interessiren. Gury und die übrigen find Anweisungen zur Ausübung des priesterlichen Nichtcr- cnntes. Die katholische Kirche erklärt den Beichtstuhl sür ein eorum intörunnr, wo der Priester an Gottes Stelle zu richten und je nach der Schwere der Sünden und der Gemütsverfassung des Sünders loszusprechen oder die Los¬ sprechung zu verweigern und Strafen zu verhängen habe. So wenig wie der weltliche Richter mit dem „großen Prinzip der Gerechtigkeit," so wenig kommt der geistliche bei jenem Geschäft mit den „großen Prinzipien der Sittlichkeit" aus; beide brauchen ein Gesetzbuch und dessen Erläuterung an einzelnen Fällen, also eine Kasuistik. Freilich geht nach meiner heutigen Überzeugung dieses Richteramt eines Menschen in loro oonsoientias wider die Vernunft (nicht un¬ bedingt Wider die Schrift; Matth. 18, 18 und Joh. 20, 23 können so oder anders erklärt werden, wer — wenn er nicht Papst ist — will das unfehlbar entscheiden?), aber meine subjektive Vernunft und die von Millionen andern Menschen giebt natürlich keinen Grund ab für die römische Kirche, ihr Lehr¬ gebäude umzubauen, und so lange jenes Richteramt dazu gehört, wird man ihr auch die Beichtstuhlkasuistik lassen müssen. Übrigens ist auch abgesehen von jenem angeblichen Richteramt ohne alle Kasuistik nicht gut auszukommen. Der Priester soll auch Seelenarzt und Seelenführer sein, und ich glaube, auf diese beiden Ämter werden selbst die evangelischen Geistlichen nicht ganz verzichten wollen, und möglicherweise werden sie ihnen wider Willen zuweilen aufgenötigt. Gewiß sind die meisten Menschen so geartet, daß sie bei ihrem Handeln eher nach der äußern Schranke des Straf¬ gesetzes als nach der innern des Sittengesetzes fragen. Gewiß haben viele den Begriff der Sünde längst in die Rumpelkammer des Aberglaubens verwiesen. Wahrscheinlich fehlt es auch nicht an hochgemuten Seelen, die fest in ihrem Gott wurzelnd, zwischen diesem und sich außer Christus keinen andern Ver¬ mittler dulden noch brauchen und jederzeit dessen gewiß sind, daß Gottes Wille auch ihr Wille, oder was dasselbe ist, ihr Wille Gottes Wille sei, und die daher weder fehlgehen noch sündigen können. Aber sollten alle jungen Leute ihrer Sache schon so gewiß sein? Sollte nicht manchmal einer das Bedürfnis haben, einen zuverlässigen ältern Freund zu fragen, ob dies oder jenes erlaubt sei? Und ist das dann nicht Kasuistik? Ist es so gar gewissenhaft, die Leutchen laufen zu lassen, bis sie die Belehrung vom Arzt empfangen oder — vom Strafrichter? Mau redet und schreibt viel vom Mißbrauch des Beichtstuhls. Aber solcher Mißbrauch ist, wie die deutsche Schwank- und die italienische Novellenlitteratnr beweist, im Mittelalter weit häufiger gewesen als nach der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/643
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/643>, abgerufen am 23.07.2024.