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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

ganze zustimmenhängende Breite eines Riesenlandes, zwischen dessen Volk und
den Russen die Unterschiede von Jahr zu Jahr weniger werden. Zwischen
diesen Systemen giebt es keinen Frieden, so wenig wie es ihn gab zwischen
den Nomaden Zentrnlasiens und Irans, die hundertmal in das Jndnsland
eingebrochen sind und den Ackerbauern des Pandschab oder Dunb, denen
aller paar Jahrzehnte ein neues Joch aufgelegt ward. Indem Rußland diesen
Steppenboden der alten Wandervölker betritt, verfällt es der ihn umschwe¬
benden geschichtlichen Notwendigkeit, aus der heraus es handeln wird wie
die Mvngolenführer, deren Abkömmlinge die Throne von Delhi und Peking
bestiegen.

Wenn ein Staat so groß geworden ist, wie das heutige britische Reich,
steht und fällt er nicht wegen einzelner Probleme, denen er nicht gerecht zu
werden vermag, sondern durch deu Geist, aus dem er begründet ist und sich
erhält. Im Wesen dieses Reichs liegt die Berührung mit allen politischen
Interessen in allen Teilen der Erde. Da mag wohl eine Frage zuzeiten hervor¬
treten, wie in den fünfziger Jahren die Meerengenfrage und ein Jahrzehnt
früher die Oregonfrage und noch ein Lustrum früher die der chinesischen Häfen,
die zum Opiumkriege geführt hat. Aber für eine, die beseitigt scheint, taucht
mit Notwendigkeit eine andre auf, denn so wie dieses eine Reich nicht ruhig
stehen bleiben kann, wollen und müssen auch die andern sich ausbreiten, und die
Berührungen vervielfältigen sich und führen unfehlbar zu neue" Reibungen,
hinter denen die alten zurücktreten, ohne ganz zu verschwinden. Wie viel gefähr¬
licher ist die Lage, die England in Ägypten und am Suezkanal geschaffen hat,
als die Frage des Bosporus und der Dardanellen in der Blütezeit der Thä¬
tigkeit eines leidenschaftlichen Freundes der Türkei, wie es Stratford de RedcUff
war. Und doch bleibt auch diese Frage bestehen, aber noch verwickelter als früher,
weil dieselbe Türkei, deren Rechte am Bosporus von England geschützt werden
sollen, in Ägypten dauernd verletzt ist. Und so häufen sich die Anlässe zu Unzufrie¬
denheit und Reibung immer dichter ans allen den Wegen ans, die England über
die Erde hinführt, und die es zu einem mächtigen Netze verknüpfen möchte, in
dessen Maschen die Menschheit politisch und wirtschaftlich hilflos gemacht werden
soll. So wie das nach Bochara vordringende Rußland in Afghanistan einen
Faden zerriß, der vom Indus nach Kleinasien gespannt werden sollte, hat
Deutschland in diesem Jahre durch den Protest gegen das Abkommen mit
dem Kvngvstant einen andern zerrissen, der Afrika vom Kap bis Ägypten
durchziehen sollte, und eben ist Japan daran, eine lange gehegte Hoffnung
auf weitere Anknüpfungen im ostchinesischen Meer zu nichte zu machen.

Und zu diesen Nissen und Wunden kommt nun die immer weiter
sich ausbreitende Einsicht in den Geist und die Methoden dieser phönizischen
Politik. Daß England sich nicht bloß Wettbewerber in wachsender Menge
auf dem Gebiete des Handels und Seeverkehrs, sondern mich in der Art


Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

ganze zustimmenhängende Breite eines Riesenlandes, zwischen dessen Volk und
den Russen die Unterschiede von Jahr zu Jahr weniger werden. Zwischen
diesen Systemen giebt es keinen Frieden, so wenig wie es ihn gab zwischen
den Nomaden Zentrnlasiens und Irans, die hundertmal in das Jndnsland
eingebrochen sind und den Ackerbauern des Pandschab oder Dunb, denen
aller paar Jahrzehnte ein neues Joch aufgelegt ward. Indem Rußland diesen
Steppenboden der alten Wandervölker betritt, verfällt es der ihn umschwe¬
benden geschichtlichen Notwendigkeit, aus der heraus es handeln wird wie
die Mvngolenführer, deren Abkömmlinge die Throne von Delhi und Peking
bestiegen.

Wenn ein Staat so groß geworden ist, wie das heutige britische Reich,
steht und fällt er nicht wegen einzelner Probleme, denen er nicht gerecht zu
werden vermag, sondern durch deu Geist, aus dem er begründet ist und sich
erhält. Im Wesen dieses Reichs liegt die Berührung mit allen politischen
Interessen in allen Teilen der Erde. Da mag wohl eine Frage zuzeiten hervor¬
treten, wie in den fünfziger Jahren die Meerengenfrage und ein Jahrzehnt
früher die Oregonfrage und noch ein Lustrum früher die der chinesischen Häfen,
die zum Opiumkriege geführt hat. Aber für eine, die beseitigt scheint, taucht
mit Notwendigkeit eine andre auf, denn so wie dieses eine Reich nicht ruhig
stehen bleiben kann, wollen und müssen auch die andern sich ausbreiten, und die
Berührungen vervielfältigen sich und führen unfehlbar zu neue» Reibungen,
hinter denen die alten zurücktreten, ohne ganz zu verschwinden. Wie viel gefähr¬
licher ist die Lage, die England in Ägypten und am Suezkanal geschaffen hat,
als die Frage des Bosporus und der Dardanellen in der Blütezeit der Thä¬
tigkeit eines leidenschaftlichen Freundes der Türkei, wie es Stratford de RedcUff
war. Und doch bleibt auch diese Frage bestehen, aber noch verwickelter als früher,
weil dieselbe Türkei, deren Rechte am Bosporus von England geschützt werden
sollen, in Ägypten dauernd verletzt ist. Und so häufen sich die Anlässe zu Unzufrie¬
denheit und Reibung immer dichter ans allen den Wegen ans, die England über
die Erde hinführt, und die es zu einem mächtigen Netze verknüpfen möchte, in
dessen Maschen die Menschheit politisch und wirtschaftlich hilflos gemacht werden
soll. So wie das nach Bochara vordringende Rußland in Afghanistan einen
Faden zerriß, der vom Indus nach Kleinasien gespannt werden sollte, hat
Deutschland in diesem Jahre durch den Protest gegen das Abkommen mit
dem Kvngvstant einen andern zerrissen, der Afrika vom Kap bis Ägypten
durchziehen sollte, und eben ist Japan daran, eine lange gehegte Hoffnung
auf weitere Anknüpfungen im ostchinesischen Meer zu nichte zu machen.

Und zu diesen Nissen und Wunden kommt nun die immer weiter
sich ausbreitende Einsicht in den Geist und die Methoden dieser phönizischen
Politik. Daß England sich nicht bloß Wettbewerber in wachsender Menge
auf dem Gebiete des Handels und Seeverkehrs, sondern mich in der Art


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[0063] Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik ganze zustimmenhängende Breite eines Riesenlandes, zwischen dessen Volk und den Russen die Unterschiede von Jahr zu Jahr weniger werden. Zwischen diesen Systemen giebt es keinen Frieden, so wenig wie es ihn gab zwischen den Nomaden Zentrnlasiens und Irans, die hundertmal in das Jndnsland eingebrochen sind und den Ackerbauern des Pandschab oder Dunb, denen aller paar Jahrzehnte ein neues Joch aufgelegt ward. Indem Rußland diesen Steppenboden der alten Wandervölker betritt, verfällt es der ihn umschwe¬ benden geschichtlichen Notwendigkeit, aus der heraus es handeln wird wie die Mvngolenführer, deren Abkömmlinge die Throne von Delhi und Peking bestiegen. Wenn ein Staat so groß geworden ist, wie das heutige britische Reich, steht und fällt er nicht wegen einzelner Probleme, denen er nicht gerecht zu werden vermag, sondern durch deu Geist, aus dem er begründet ist und sich erhält. Im Wesen dieses Reichs liegt die Berührung mit allen politischen Interessen in allen Teilen der Erde. Da mag wohl eine Frage zuzeiten hervor¬ treten, wie in den fünfziger Jahren die Meerengenfrage und ein Jahrzehnt früher die Oregonfrage und noch ein Lustrum früher die der chinesischen Häfen, die zum Opiumkriege geführt hat. Aber für eine, die beseitigt scheint, taucht mit Notwendigkeit eine andre auf, denn so wie dieses eine Reich nicht ruhig stehen bleiben kann, wollen und müssen auch die andern sich ausbreiten, und die Berührungen vervielfältigen sich und führen unfehlbar zu neue» Reibungen, hinter denen die alten zurücktreten, ohne ganz zu verschwinden. Wie viel gefähr¬ licher ist die Lage, die England in Ägypten und am Suezkanal geschaffen hat, als die Frage des Bosporus und der Dardanellen in der Blütezeit der Thä¬ tigkeit eines leidenschaftlichen Freundes der Türkei, wie es Stratford de RedcUff war. Und doch bleibt auch diese Frage bestehen, aber noch verwickelter als früher, weil dieselbe Türkei, deren Rechte am Bosporus von England geschützt werden sollen, in Ägypten dauernd verletzt ist. Und so häufen sich die Anlässe zu Unzufrie¬ denheit und Reibung immer dichter ans allen den Wegen ans, die England über die Erde hinführt, und die es zu einem mächtigen Netze verknüpfen möchte, in dessen Maschen die Menschheit politisch und wirtschaftlich hilflos gemacht werden soll. So wie das nach Bochara vordringende Rußland in Afghanistan einen Faden zerriß, der vom Indus nach Kleinasien gespannt werden sollte, hat Deutschland in diesem Jahre durch den Protest gegen das Abkommen mit dem Kvngvstant einen andern zerrissen, der Afrika vom Kap bis Ägypten durchziehen sollte, und eben ist Japan daran, eine lange gehegte Hoffnung auf weitere Anknüpfungen im ostchinesischen Meer zu nichte zu machen. Und zu diesen Nissen und Wunden kommt nun die immer weiter sich ausbreitende Einsicht in den Geist und die Methoden dieser phönizischen Politik. Daß England sich nicht bloß Wettbewerber in wachsender Menge auf dem Gebiete des Handels und Seeverkehrs, sondern mich in der Art

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/63>, abgerufen am 23.07.2024.