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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Zeitungen geben ihm wenig Auskunft, denn für sie ist ja nur die genaue Ne-
gistriruug aller englischen Brandreden und Nccketenartikel heilige Pflicht, sie
sieht in ihnen ein Stück Zeitgeschichte und behandelt sie daher immer wieder
mit derselben Aufmerksamkeit, wenn auch so mancher Leser sich dabei an den
Kopf greift und nachsinnt, ob er nicht das alles schon einmal oder vielleicht
schon öfter vernommen habe, und zuletzt zu der Frage kommt, ob nicht ein
himmelweiter Unterschied sein müsse zwischen dem Gedächtnis eines gewöhn¬
lichen Menschen und eines Zeitungsschreibers, und ob uicht die Fähigkeit klaren
Erinnerns im Zeitalter der telegraphirteu Leitartikel überhaupt in der Rück¬
bildung begriffen sei. Ist wirklich eine große politische Wendung im Werden?
Wenn der Premierminister einen Ton angiebt und diese großartig organisirte
Presse von ganz Großbritannien darauf mit so imponirenden Einklang spielt,
muß doch etwas dahinter sein. Wie steht es denn um England und Rußland?
Ist es denkbar, daß sich beide vereinigen, wenn etwa Rußland die freie Durch¬
fahrt durch die Dardanellen und dazu vielleicht sogar noch eine Flottenstation
im Ägeischen Meere eingeräumt wurde? In England scheint ja ein nicht kleiner
Teil der Politiker dafür zu sein, daß das geschieht. Es sind militärische
Stimmen lant geworden, die sagen, die freie Durchfahrt sei ohnehin gegeben,
seitdem die Türkei ihre Vospornsforts teils aus Geldmangel, teils aus Furcht
vor Rußland nicht mit den nötigsten Geschützen auszurüsten vermöge. Türkische
Geschützbestellungen sind in der That rückgängig gemacht worden, geplante Be¬
festigungen bei Erzerum sind unterblieben, weil Rußland den Augenblick passend
fand, an die noch unbezahlte Kriegsentschädigung zu erinnern. Die russische
Flotte des Schwarzen Meeres ist seit 1886 um 6 Panzerturmschiffe. 19
Torpedoboote, 6 Kanonenboote verstärkt worden, und 12 Torpedoboote sind
im Bau. Sie ist schon jetzt beträchtlich stärker als die ganze türkische. Es
ist nicht denkbar, daß England heute wagt, was es 1853 dem vereinzelten,
zur See schwachen Rußland gegenüber uicht gewagt hat, nämlich auf die Ge¬
fahr eines Zweikampfes hin, ihm das vollberechtigte Verlangen nach Aus¬
breitung im Mittelmeer und freiem Verkehr dahin zu verbieten. Damals
fand es einen Kampfgenossen in Frankreich, den es hente fast mit Gewißheit
zum Feinde oder mindestens in einer sehr bedenklichen Neutralität vor seinen
Thoren hätte. Daß der Dreibund sür England einen orientalischen Krieg
führt, ist undenkbar, so lauge es in Deutschland Staatsmänner giebt. Was
Bismarck 1878 von der Stellung Deutschlands zu den orientalischen Ange¬
legenheiten im Reichstag sagte, bleibt für Deutschland in Erz gegraben, so¬
lange sich die Weltlage nicht von Grund aus ändert. Wo soll also die
Wendung herkommen? England kann seinen Widerstand gegen die Ansprüche
Rußlands nicht aufrecht erhalten, wenn Europa uicht mehr damit einverstanden
ist; ebensowenig kann es Nußland einseitig die Meerengen öffnen, denn Europa
hat die Schlüssel dazu. Was bedeutet also die Meereugenfrage in dein Ber-


Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

Zeitungen geben ihm wenig Auskunft, denn für sie ist ja nur die genaue Ne-
gistriruug aller englischen Brandreden und Nccketenartikel heilige Pflicht, sie
sieht in ihnen ein Stück Zeitgeschichte und behandelt sie daher immer wieder
mit derselben Aufmerksamkeit, wenn auch so mancher Leser sich dabei an den
Kopf greift und nachsinnt, ob er nicht das alles schon einmal oder vielleicht
schon öfter vernommen habe, und zuletzt zu der Frage kommt, ob nicht ein
himmelweiter Unterschied sein müsse zwischen dem Gedächtnis eines gewöhn¬
lichen Menschen und eines Zeitungsschreibers, und ob uicht die Fähigkeit klaren
Erinnerns im Zeitalter der telegraphirteu Leitartikel überhaupt in der Rück¬
bildung begriffen sei. Ist wirklich eine große politische Wendung im Werden?
Wenn der Premierminister einen Ton angiebt und diese großartig organisirte
Presse von ganz Großbritannien darauf mit so imponirenden Einklang spielt,
muß doch etwas dahinter sein. Wie steht es denn um England und Rußland?
Ist es denkbar, daß sich beide vereinigen, wenn etwa Rußland die freie Durch¬
fahrt durch die Dardanellen und dazu vielleicht sogar noch eine Flottenstation
im Ägeischen Meere eingeräumt wurde? In England scheint ja ein nicht kleiner
Teil der Politiker dafür zu sein, daß das geschieht. Es sind militärische
Stimmen lant geworden, die sagen, die freie Durchfahrt sei ohnehin gegeben,
seitdem die Türkei ihre Vospornsforts teils aus Geldmangel, teils aus Furcht
vor Rußland nicht mit den nötigsten Geschützen auszurüsten vermöge. Türkische
Geschützbestellungen sind in der That rückgängig gemacht worden, geplante Be¬
festigungen bei Erzerum sind unterblieben, weil Rußland den Augenblick passend
fand, an die noch unbezahlte Kriegsentschädigung zu erinnern. Die russische
Flotte des Schwarzen Meeres ist seit 1886 um 6 Panzerturmschiffe. 19
Torpedoboote, 6 Kanonenboote verstärkt worden, und 12 Torpedoboote sind
im Bau. Sie ist schon jetzt beträchtlich stärker als die ganze türkische. Es
ist nicht denkbar, daß England heute wagt, was es 1853 dem vereinzelten,
zur See schwachen Rußland gegenüber uicht gewagt hat, nämlich auf die Ge¬
fahr eines Zweikampfes hin, ihm das vollberechtigte Verlangen nach Aus¬
breitung im Mittelmeer und freiem Verkehr dahin zu verbieten. Damals
fand es einen Kampfgenossen in Frankreich, den es hente fast mit Gewißheit
zum Feinde oder mindestens in einer sehr bedenklichen Neutralität vor seinen
Thoren hätte. Daß der Dreibund sür England einen orientalischen Krieg
führt, ist undenkbar, so lauge es in Deutschland Staatsmänner giebt. Was
Bismarck 1878 von der Stellung Deutschlands zu den orientalischen Ange¬
legenheiten im Reichstag sagte, bleibt für Deutschland in Erz gegraben, so¬
lange sich die Weltlage nicht von Grund aus ändert. Wo soll also die
Wendung herkommen? England kann seinen Widerstand gegen die Ansprüche
Rußlands nicht aufrecht erhalten, wenn Europa uicht mehr damit einverstanden
ist; ebensowenig kann es Nußland einseitig die Meerengen öffnen, denn Europa
hat die Schlüssel dazu. Was bedeutet also die Meereugenfrage in dein Ber-


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[0061] Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik Zeitungen geben ihm wenig Auskunft, denn für sie ist ja nur die genaue Ne- gistriruug aller englischen Brandreden und Nccketenartikel heilige Pflicht, sie sieht in ihnen ein Stück Zeitgeschichte und behandelt sie daher immer wieder mit derselben Aufmerksamkeit, wenn auch so mancher Leser sich dabei an den Kopf greift und nachsinnt, ob er nicht das alles schon einmal oder vielleicht schon öfter vernommen habe, und zuletzt zu der Frage kommt, ob nicht ein himmelweiter Unterschied sein müsse zwischen dem Gedächtnis eines gewöhn¬ lichen Menschen und eines Zeitungsschreibers, und ob uicht die Fähigkeit klaren Erinnerns im Zeitalter der telegraphirteu Leitartikel überhaupt in der Rück¬ bildung begriffen sei. Ist wirklich eine große politische Wendung im Werden? Wenn der Premierminister einen Ton angiebt und diese großartig organisirte Presse von ganz Großbritannien darauf mit so imponirenden Einklang spielt, muß doch etwas dahinter sein. Wie steht es denn um England und Rußland? Ist es denkbar, daß sich beide vereinigen, wenn etwa Rußland die freie Durch¬ fahrt durch die Dardanellen und dazu vielleicht sogar noch eine Flottenstation im Ägeischen Meere eingeräumt wurde? In England scheint ja ein nicht kleiner Teil der Politiker dafür zu sein, daß das geschieht. Es sind militärische Stimmen lant geworden, die sagen, die freie Durchfahrt sei ohnehin gegeben, seitdem die Türkei ihre Vospornsforts teils aus Geldmangel, teils aus Furcht vor Rußland nicht mit den nötigsten Geschützen auszurüsten vermöge. Türkische Geschützbestellungen sind in der That rückgängig gemacht worden, geplante Be¬ festigungen bei Erzerum sind unterblieben, weil Rußland den Augenblick passend fand, an die noch unbezahlte Kriegsentschädigung zu erinnern. Die russische Flotte des Schwarzen Meeres ist seit 1886 um 6 Panzerturmschiffe. 19 Torpedoboote, 6 Kanonenboote verstärkt worden, und 12 Torpedoboote sind im Bau. Sie ist schon jetzt beträchtlich stärker als die ganze türkische. Es ist nicht denkbar, daß England heute wagt, was es 1853 dem vereinzelten, zur See schwachen Rußland gegenüber uicht gewagt hat, nämlich auf die Ge¬ fahr eines Zweikampfes hin, ihm das vollberechtigte Verlangen nach Aus¬ breitung im Mittelmeer und freiem Verkehr dahin zu verbieten. Damals fand es einen Kampfgenossen in Frankreich, den es hente fast mit Gewißheit zum Feinde oder mindestens in einer sehr bedenklichen Neutralität vor seinen Thoren hätte. Daß der Dreibund sür England einen orientalischen Krieg führt, ist undenkbar, so lauge es in Deutschland Staatsmänner giebt. Was Bismarck 1878 von der Stellung Deutschlands zu den orientalischen Ange¬ legenheiten im Reichstag sagte, bleibt für Deutschland in Erz gegraben, so¬ lange sich die Weltlage nicht von Grund aus ändert. Wo soll also die Wendung herkommen? England kann seinen Widerstand gegen die Ansprüche Rußlands nicht aufrecht erhalten, wenn Europa uicht mehr damit einverstanden ist; ebensowenig kann es Nußland einseitig die Meerengen öffnen, denn Europa hat die Schlüssel dazu. Was bedeutet also die Meereugenfrage in dein Ber-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/61>, abgerufen am 25.08.2024.