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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Neue Stände

Beamter, als Diplomat, als Junker, als Landwirt, als Grundbesitzer Ver¬
wendung finden. Weil aber infolge dieses Umstandes eine Aufstellung von
Zahlen sehr willkürlich ausfallen müßte, will ich sie doch lieber jedem Einzelnen,
der eine wünscht, selbst überlassen und nur darauf hinweisen, daß mir u. a. die
Juristen, die katholischen Geistlichen, die Zeitungsmenschen viel zu stark, die
Handwerker, die evangelischen Geistlichen, die kleinen Bauern viel zu schwach
zu sein scheinen, nämlich im Verhältnis zu der Bedeutung und dem Ver¬
ständnis, die sie für das Wohl des Vaterlandes haben. Dieses Mißverhältnis
hängt ohne Zweifel zum Teil mit der Diätenlosigkeit zusammen, geht aber doch
in der Hauptsache aus den angedeutete" Mängeln hervor.

Das Reichstagswahlverfahren also, das wir haben, ist schlecht, daher die
bejammernswerten Zustände in unserm Reichstage. Wollten wir aber nun,
weil wir das jetzt erkennen können und einsehen müssen, daraus dem Fürsten
Bismarck einen Vorwurf machen, daß er es uns gegeben hat, so wäre das so
ungerecht wie möglich. Denn als er in die Lage kam, einen Reichstag ins
Leben zu rufen, hat er uns das Wahlverfahren gegeben, das damals das beste
war, und konnte es getrost dem deutschen Volke überlassen, es zu ändern und
zu verbessern, sobald sich die Notwendigkeit dazu herausstellte.

Nun wohl, diese Notwendigkeit kann von niemand mehr übersehen
werden, dem das Wohl des deutschen Volkes am Herzen liegt; und da es
weiter nicht bezweifelt werden kann, daß sich alle bis jetzt zu Tage getretenen
Mißstünde aus der mechanischen Grundlage des Ganzen ergeben, so ist damit
auch schon die Richtung angedeutet, in der die Besserung zu suchen ist: anstatt
der mechanischen muß die organische Grundlage wieder hergestellt werden.

Indem ich sage, sie muß wieder hergestellt werden, spreche ich aus, daß
sie schon einmal vorhanden gewesen und nur aufgegeben worden ist. Man
hat sie aufgegeben, weil man meinte, etwas besseres dafür einzutauschen. Aber
wir machen hierbei wieder die alte Erfahrung, daß es, wie überall, so auch
im Leben eines Volkes niemals gut thut, eine alte Entwicklung einfach abzu¬
brechen und totzusagen und an ihrer Stelle etwas neues, auf fremdem Boden
gewachsenes hereinzutragen. Das Neue, Fremde schlägt vielleicht Wurzel, aber
es trägt ganz andre Früchte, als man erwartete, weil sich sein Nährboden
verändert hat. Das Alte nun, auf das wir zurückgehen müssen, ist die von
selbst gewordne Gliederung des Volkes in Stände. Wenn auf diesen kräftigen
Wildling ein edles Reis gepfropft wird, dann ist Aussicht auf gute, gesunde
Früchte.

Nichts wäre nun freilich verfehlter, als wenn man auf die Stände, die
sich früher gebildet hatten, also auf Adel, Geistlichkeit, Bürgerstand und Bauern¬
stand, zurückgehen wollte; das wäre eine Reaktion im schlechten Sinne des
Wortes. Es wäre nicht anders, als wenn man den Bundesrat nach den
Territorialgrenzen etwa nach dem dreißigjährigen Kriege konstruiren wollte.


Neue Stände

Beamter, als Diplomat, als Junker, als Landwirt, als Grundbesitzer Ver¬
wendung finden. Weil aber infolge dieses Umstandes eine Aufstellung von
Zahlen sehr willkürlich ausfallen müßte, will ich sie doch lieber jedem Einzelnen,
der eine wünscht, selbst überlassen und nur darauf hinweisen, daß mir u. a. die
Juristen, die katholischen Geistlichen, die Zeitungsmenschen viel zu stark, die
Handwerker, die evangelischen Geistlichen, die kleinen Bauern viel zu schwach
zu sein scheinen, nämlich im Verhältnis zu der Bedeutung und dem Ver¬
ständnis, die sie für das Wohl des Vaterlandes haben. Dieses Mißverhältnis
hängt ohne Zweifel zum Teil mit der Diätenlosigkeit zusammen, geht aber doch
in der Hauptsache aus den angedeutete« Mängeln hervor.

Das Reichstagswahlverfahren also, das wir haben, ist schlecht, daher die
bejammernswerten Zustände in unserm Reichstage. Wollten wir aber nun,
weil wir das jetzt erkennen können und einsehen müssen, daraus dem Fürsten
Bismarck einen Vorwurf machen, daß er es uns gegeben hat, so wäre das so
ungerecht wie möglich. Denn als er in die Lage kam, einen Reichstag ins
Leben zu rufen, hat er uns das Wahlverfahren gegeben, das damals das beste
war, und konnte es getrost dem deutschen Volke überlassen, es zu ändern und
zu verbessern, sobald sich die Notwendigkeit dazu herausstellte.

Nun wohl, diese Notwendigkeit kann von niemand mehr übersehen
werden, dem das Wohl des deutschen Volkes am Herzen liegt; und da es
weiter nicht bezweifelt werden kann, daß sich alle bis jetzt zu Tage getretenen
Mißstünde aus der mechanischen Grundlage des Ganzen ergeben, so ist damit
auch schon die Richtung angedeutet, in der die Besserung zu suchen ist: anstatt
der mechanischen muß die organische Grundlage wieder hergestellt werden.

Indem ich sage, sie muß wieder hergestellt werden, spreche ich aus, daß
sie schon einmal vorhanden gewesen und nur aufgegeben worden ist. Man
hat sie aufgegeben, weil man meinte, etwas besseres dafür einzutauschen. Aber
wir machen hierbei wieder die alte Erfahrung, daß es, wie überall, so auch
im Leben eines Volkes niemals gut thut, eine alte Entwicklung einfach abzu¬
brechen und totzusagen und an ihrer Stelle etwas neues, auf fremdem Boden
gewachsenes hereinzutragen. Das Neue, Fremde schlägt vielleicht Wurzel, aber
es trägt ganz andre Früchte, als man erwartete, weil sich sein Nährboden
verändert hat. Das Alte nun, auf das wir zurückgehen müssen, ist die von
selbst gewordne Gliederung des Volkes in Stände. Wenn auf diesen kräftigen
Wildling ein edles Reis gepfropft wird, dann ist Aussicht auf gute, gesunde
Früchte.

Nichts wäre nun freilich verfehlter, als wenn man auf die Stände, die
sich früher gebildet hatten, also auf Adel, Geistlichkeit, Bürgerstand und Bauern¬
stand, zurückgehen wollte; das wäre eine Reaktion im schlechten Sinne des
Wortes. Es wäre nicht anders, als wenn man den Bundesrat nach den
Territorialgrenzen etwa nach dem dreißigjährigen Kriege konstruiren wollte.


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[0574] Neue Stände Beamter, als Diplomat, als Junker, als Landwirt, als Grundbesitzer Ver¬ wendung finden. Weil aber infolge dieses Umstandes eine Aufstellung von Zahlen sehr willkürlich ausfallen müßte, will ich sie doch lieber jedem Einzelnen, der eine wünscht, selbst überlassen und nur darauf hinweisen, daß mir u. a. die Juristen, die katholischen Geistlichen, die Zeitungsmenschen viel zu stark, die Handwerker, die evangelischen Geistlichen, die kleinen Bauern viel zu schwach zu sein scheinen, nämlich im Verhältnis zu der Bedeutung und dem Ver¬ ständnis, die sie für das Wohl des Vaterlandes haben. Dieses Mißverhältnis hängt ohne Zweifel zum Teil mit der Diätenlosigkeit zusammen, geht aber doch in der Hauptsache aus den angedeutete« Mängeln hervor. Das Reichstagswahlverfahren also, das wir haben, ist schlecht, daher die bejammernswerten Zustände in unserm Reichstage. Wollten wir aber nun, weil wir das jetzt erkennen können und einsehen müssen, daraus dem Fürsten Bismarck einen Vorwurf machen, daß er es uns gegeben hat, so wäre das so ungerecht wie möglich. Denn als er in die Lage kam, einen Reichstag ins Leben zu rufen, hat er uns das Wahlverfahren gegeben, das damals das beste war, und konnte es getrost dem deutschen Volke überlassen, es zu ändern und zu verbessern, sobald sich die Notwendigkeit dazu herausstellte. Nun wohl, diese Notwendigkeit kann von niemand mehr übersehen werden, dem das Wohl des deutschen Volkes am Herzen liegt; und da es weiter nicht bezweifelt werden kann, daß sich alle bis jetzt zu Tage getretenen Mißstünde aus der mechanischen Grundlage des Ganzen ergeben, so ist damit auch schon die Richtung angedeutet, in der die Besserung zu suchen ist: anstatt der mechanischen muß die organische Grundlage wieder hergestellt werden. Indem ich sage, sie muß wieder hergestellt werden, spreche ich aus, daß sie schon einmal vorhanden gewesen und nur aufgegeben worden ist. Man hat sie aufgegeben, weil man meinte, etwas besseres dafür einzutauschen. Aber wir machen hierbei wieder die alte Erfahrung, daß es, wie überall, so auch im Leben eines Volkes niemals gut thut, eine alte Entwicklung einfach abzu¬ brechen und totzusagen und an ihrer Stelle etwas neues, auf fremdem Boden gewachsenes hereinzutragen. Das Neue, Fremde schlägt vielleicht Wurzel, aber es trägt ganz andre Früchte, als man erwartete, weil sich sein Nährboden verändert hat. Das Alte nun, auf das wir zurückgehen müssen, ist die von selbst gewordne Gliederung des Volkes in Stände. Wenn auf diesen kräftigen Wildling ein edles Reis gepfropft wird, dann ist Aussicht auf gute, gesunde Früchte. Nichts wäre nun freilich verfehlter, als wenn man auf die Stände, die sich früher gebildet hatten, also auf Adel, Geistlichkeit, Bürgerstand und Bauern¬ stand, zurückgehen wollte; das wäre eine Reaktion im schlechten Sinne des Wortes. Es wäre nicht anders, als wenn man den Bundesrat nach den Territorialgrenzen etwa nach dem dreißigjährigen Kriege konstruiren wollte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/574>, abgerufen am 23.07.2024.