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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die öffentliche Meinung

Vernünftige Bewußtsein tritt, und nun von daher diesem Willen gemäß ge¬
leitet -- ein schönes, großartiges Bild! Aber leider nur ein Bild. Denn
das Volk als solches hat ganz und gar keinen Willen. Zwar spricht man
von Volkscharakter; man begreift darunter jene Charakterzüge und Tempera-
mentseigenschaften, die sich regelmäßig bei den Angehörigen eines Volks finden
und dadurch diesem in seiner Gesamtheit ein Gepräge aufdrücken, durch das
es sich von andern Völkern unterscheidet: so bemerken wir beispielsweise am
französischen Volke Eitelkeit und Ruhmsucht, am englischen brutale Rücksichts¬
losigkeit und an uns selbst eine thörichte Vorliebe für alles Ausländische.
Allein dieser sogenannte Volkscharakter befähigt ein Volk noch nicht, in einem
bestimmten Falle einen bestimmten Willen zu haben, worauf allein es hier
ankommt; denn dazu fehlt ihm die Fähigkeit, sich auf Beweggründe zu be¬
thätigen, und dies kommt daher, daß dem Volke als solchem eine einheitliche
Erkenntnis mangelt. Nur der Einzelne hat vermöge einer solchen Erkenntnis
einen den Beweggründen zugänglichen und darum bestimmten Willen. Das Volk
aber besteht ans Millionen Einzelner, die alle, vom Egoismus getrieben und
insoweit ohne Rücksicht auf die andern, ja nötigenfalls auf deren Kosten, eifrig
bestrebt sind, ihr Glück zu schmieden, so gut sie es verstehen; und alle, je
nach der Gleichartigkeit ihrer Lebensstellung und ihrer Interessen, eine Menge
von Klassen und Gruppen in der Bevölkerung bildend, vereinigen ihre Be¬
strebungen und verfolgen sie ohne Rücksicht auf die andern Klassen unter
Führung der durch geistige Befähigung und Willenskraft hervorragenden Be-
rufsgenossen oder berufsmäßiger Agitatoren, deren persönlicher Vorteil nicht
immer mit dem der von ihnen geführten Gruppe zusammenfällt.

So stellt sich das Leben des Volks als ein unablässiger Kampf einander
entgegenstehender Interessen dar: die Landwirtschaft ringt mit dem Handel,
das Handwerk mit dem Fabrikcintentum, das Arbeiterproletariat mit dem Ka¬
pitalismus. Und über diesem Parteigetriebe steht die Staatsgewalt, zu der
schweren, verantwortungsvollen Aufgabe berufen, das zu erkennen, was dem
Volkskörper zum Heile gereicht, und es alsdann, unbeirrt durch irgend welche
Einwirkungen von dieser oder jener Seite, mit fester Hand auszuführen. Ihr
kommt es daher namentlich zu, wenn ein Glied des Volkskörpers leidet, ein¬
gedenk dessen, daß dann der ganze Leib krank ist, die Ursache der Krankheit
zu ergründen und unverzüglich das geeignete Heilmittel anzuwenden, ohne sich
dabei weder durch die Klagen des leidenden Teils, noch durch die Einsprüche
oder das unzufriedne Murren der übrigen Glieder verwirren zu lassen, die
in egoistischer Beschränktheit von der Krankheit ihres Leibes nichts verspüren
und sich vielleicht um so wohler fühlen, je mehr das kranke Glied leidet.

Und diese erhabne Aufgabe sollte sie dadurch lösen, daß sie der Stimme
der öffentlichen Meinung folgt, die, wie wir gesehen haben, die Stimme der
herrschenden Klasse und der von ihr bethörten Menge ist? Wie würde es


Die öffentliche Meinung

Vernünftige Bewußtsein tritt, und nun von daher diesem Willen gemäß ge¬
leitet — ein schönes, großartiges Bild! Aber leider nur ein Bild. Denn
das Volk als solches hat ganz und gar keinen Willen. Zwar spricht man
von Volkscharakter; man begreift darunter jene Charakterzüge und Tempera-
mentseigenschaften, die sich regelmäßig bei den Angehörigen eines Volks finden
und dadurch diesem in seiner Gesamtheit ein Gepräge aufdrücken, durch das
es sich von andern Völkern unterscheidet: so bemerken wir beispielsweise am
französischen Volke Eitelkeit und Ruhmsucht, am englischen brutale Rücksichts¬
losigkeit und an uns selbst eine thörichte Vorliebe für alles Ausländische.
Allein dieser sogenannte Volkscharakter befähigt ein Volk noch nicht, in einem
bestimmten Falle einen bestimmten Willen zu haben, worauf allein es hier
ankommt; denn dazu fehlt ihm die Fähigkeit, sich auf Beweggründe zu be¬
thätigen, und dies kommt daher, daß dem Volke als solchem eine einheitliche
Erkenntnis mangelt. Nur der Einzelne hat vermöge einer solchen Erkenntnis
einen den Beweggründen zugänglichen und darum bestimmten Willen. Das Volk
aber besteht ans Millionen Einzelner, die alle, vom Egoismus getrieben und
insoweit ohne Rücksicht auf die andern, ja nötigenfalls auf deren Kosten, eifrig
bestrebt sind, ihr Glück zu schmieden, so gut sie es verstehen; und alle, je
nach der Gleichartigkeit ihrer Lebensstellung und ihrer Interessen, eine Menge
von Klassen und Gruppen in der Bevölkerung bildend, vereinigen ihre Be¬
strebungen und verfolgen sie ohne Rücksicht auf die andern Klassen unter
Führung der durch geistige Befähigung und Willenskraft hervorragenden Be-
rufsgenossen oder berufsmäßiger Agitatoren, deren persönlicher Vorteil nicht
immer mit dem der von ihnen geführten Gruppe zusammenfällt.

So stellt sich das Leben des Volks als ein unablässiger Kampf einander
entgegenstehender Interessen dar: die Landwirtschaft ringt mit dem Handel,
das Handwerk mit dem Fabrikcintentum, das Arbeiterproletariat mit dem Ka¬
pitalismus. Und über diesem Parteigetriebe steht die Staatsgewalt, zu der
schweren, verantwortungsvollen Aufgabe berufen, das zu erkennen, was dem
Volkskörper zum Heile gereicht, und es alsdann, unbeirrt durch irgend welche
Einwirkungen von dieser oder jener Seite, mit fester Hand auszuführen. Ihr
kommt es daher namentlich zu, wenn ein Glied des Volkskörpers leidet, ein¬
gedenk dessen, daß dann der ganze Leib krank ist, die Ursache der Krankheit
zu ergründen und unverzüglich das geeignete Heilmittel anzuwenden, ohne sich
dabei weder durch die Klagen des leidenden Teils, noch durch die Einsprüche
oder das unzufriedne Murren der übrigen Glieder verwirren zu lassen, die
in egoistischer Beschränktheit von der Krankheit ihres Leibes nichts verspüren
und sich vielleicht um so wohler fühlen, je mehr das kranke Glied leidet.

Und diese erhabne Aufgabe sollte sie dadurch lösen, daß sie der Stimme
der öffentlichen Meinung folgt, die, wie wir gesehen haben, die Stimme der
herrschenden Klasse und der von ihr bethörten Menge ist? Wie würde es


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[0570] Die öffentliche Meinung Vernünftige Bewußtsein tritt, und nun von daher diesem Willen gemäß ge¬ leitet — ein schönes, großartiges Bild! Aber leider nur ein Bild. Denn das Volk als solches hat ganz und gar keinen Willen. Zwar spricht man von Volkscharakter; man begreift darunter jene Charakterzüge und Tempera- mentseigenschaften, die sich regelmäßig bei den Angehörigen eines Volks finden und dadurch diesem in seiner Gesamtheit ein Gepräge aufdrücken, durch das es sich von andern Völkern unterscheidet: so bemerken wir beispielsweise am französischen Volke Eitelkeit und Ruhmsucht, am englischen brutale Rücksichts¬ losigkeit und an uns selbst eine thörichte Vorliebe für alles Ausländische. Allein dieser sogenannte Volkscharakter befähigt ein Volk noch nicht, in einem bestimmten Falle einen bestimmten Willen zu haben, worauf allein es hier ankommt; denn dazu fehlt ihm die Fähigkeit, sich auf Beweggründe zu be¬ thätigen, und dies kommt daher, daß dem Volke als solchem eine einheitliche Erkenntnis mangelt. Nur der Einzelne hat vermöge einer solchen Erkenntnis einen den Beweggründen zugänglichen und darum bestimmten Willen. Das Volk aber besteht ans Millionen Einzelner, die alle, vom Egoismus getrieben und insoweit ohne Rücksicht auf die andern, ja nötigenfalls auf deren Kosten, eifrig bestrebt sind, ihr Glück zu schmieden, so gut sie es verstehen; und alle, je nach der Gleichartigkeit ihrer Lebensstellung und ihrer Interessen, eine Menge von Klassen und Gruppen in der Bevölkerung bildend, vereinigen ihre Be¬ strebungen und verfolgen sie ohne Rücksicht auf die andern Klassen unter Führung der durch geistige Befähigung und Willenskraft hervorragenden Be- rufsgenossen oder berufsmäßiger Agitatoren, deren persönlicher Vorteil nicht immer mit dem der von ihnen geführten Gruppe zusammenfällt. So stellt sich das Leben des Volks als ein unablässiger Kampf einander entgegenstehender Interessen dar: die Landwirtschaft ringt mit dem Handel, das Handwerk mit dem Fabrikcintentum, das Arbeiterproletariat mit dem Ka¬ pitalismus. Und über diesem Parteigetriebe steht die Staatsgewalt, zu der schweren, verantwortungsvollen Aufgabe berufen, das zu erkennen, was dem Volkskörper zum Heile gereicht, und es alsdann, unbeirrt durch irgend welche Einwirkungen von dieser oder jener Seite, mit fester Hand auszuführen. Ihr kommt es daher namentlich zu, wenn ein Glied des Volkskörpers leidet, ein¬ gedenk dessen, daß dann der ganze Leib krank ist, die Ursache der Krankheit zu ergründen und unverzüglich das geeignete Heilmittel anzuwenden, ohne sich dabei weder durch die Klagen des leidenden Teils, noch durch die Einsprüche oder das unzufriedne Murren der übrigen Glieder verwirren zu lassen, die in egoistischer Beschränktheit von der Krankheit ihres Leibes nichts verspüren und sich vielleicht um so wohler fühlen, je mehr das kranke Glied leidet. Und diese erhabne Aufgabe sollte sie dadurch lösen, daß sie der Stimme der öffentlichen Meinung folgt, die, wie wir gesehen haben, die Stimme der herrschenden Klasse und der von ihr bethörten Menge ist? Wie würde es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/570>, abgerufen am 23.07.2024.