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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die öffentliche Meinung

Besonders stark pflegt das gedruckte und das gesprochne Wort zu wirken,
wenn nicht die gewöhnlichen Leute von der Presse und berufsmäßigen Agi¬
tationsredner Feder und Mund rühren, sondern Kapazitäten, Autoritäten, zu
denen der Bildungsphilister mit heiliger Ehrfurcht emporblickt. Zu solchen
gehören vor allem die Professoren jeglicher Gattung. Sie mögen ihr Leben
mit dem Studium alt- oder spätrömischer Geschichte oder nordischer Mytho¬
logie und germanischer Altertümer hingebracht haben und, von diesen Gegen¬
ständen erfüllt, den Fragen des modernen politischen und sozialen Lebens ein
kindliches Verständnis entgegenbringen: immer sind sie geistvolle, tiefblickende
Männer, und was sie sagen und schreiben, kann deshalb nur die Offenbarung
einer hohen Weisheit sein. Wer wüßte nicht, wie sehr es unsre herrschende
Klasse liebt, solche ehrwürdige Herren dem erstaunten Volke vorzuführen!
Freilich macht sie sich auch kein Gewissen daraus, sie ohne Mitleid in die
Versenkung verschwinden zu lassen, wenn sie durch allzu unbefangne Kund¬
gebungen das Publikum stutzig gemacht haben.

Das wäre also der Stoff, aus dem das gebildet ist, was allein man vom
Standpunkte der praktischen Lebenserfahrung aus als öffentliche Meinung an¬
sehen darf. Nach einer allgemeinen Annahme gelangt diese, außer durch Be¬
schlüsse von Volksversammlungen, durch das Ergebnis der Abstimmungen bei
den politischen Wahlen formell zum Ausdruck. Ob diese Annahme durch die
Thatsachen begründet oder eine bloße Fiktion ist, das zu erörtern würde nur
dann wichtig genug sein, wenn es sich überhaupt lohnte, nach der öffentlichen
Meinung zu fragen. Aber wie sagt Goethe:


Was euch die heilige Preßfreiheit
Für Frommen, Früchte und Vorteil beut?
Davon habt ihr gewisse Erscheinung:
Tiefe Verachtung öffentlicher Meinung.

Hat er Recht oder nicht? Und wenn er Recht hat, wie kommt man dazu,
der öffentlichen Meinung eine so hohe Bedeutung beizumessen, daß man ihrem
Richtersprüche sogar solche Fragen unterwirft, von deren Entscheidung das
Wohl und Wehe des Volkes abhängt? Offenbar müssen Staatenlenker, die
so handeln, wenn anders sie sich ihrer Pflicht bewußt und, indem sie be¬
ständig dem Grundsatze Laws xuolios, suvröm", Isx folgen, diese Pflicht zu er¬
füllen bestrebt sind, von der Überzeugung durchdrungen sein, daß die haln"
Mdliog. gerade das Ziel sei. auf das sich die öffentliche Meinung richte.
Sonderbare Schwärmer! Vielleicht träumen sie von einem Willen des Volkes,
der, im wesentlichen dasselbe, was nnter den politischen Schlagwörtern als
gesunder Sinn der Bevölkerung spukt, in seinem dunkeln Drange stets den
Weg zum Heile des Volkes suche und finde, und sie erblicken diesen Volks¬
willen in der öffentlichen Meinung. Das Volk, ein lebendiger Körper, von
einem Willen durchflutet, der in seinem Haupte, der Staatsregierung, in das


Die öffentliche Meinung

Besonders stark pflegt das gedruckte und das gesprochne Wort zu wirken,
wenn nicht die gewöhnlichen Leute von der Presse und berufsmäßigen Agi¬
tationsredner Feder und Mund rühren, sondern Kapazitäten, Autoritäten, zu
denen der Bildungsphilister mit heiliger Ehrfurcht emporblickt. Zu solchen
gehören vor allem die Professoren jeglicher Gattung. Sie mögen ihr Leben
mit dem Studium alt- oder spätrömischer Geschichte oder nordischer Mytho¬
logie und germanischer Altertümer hingebracht haben und, von diesen Gegen¬
ständen erfüllt, den Fragen des modernen politischen und sozialen Lebens ein
kindliches Verständnis entgegenbringen: immer sind sie geistvolle, tiefblickende
Männer, und was sie sagen und schreiben, kann deshalb nur die Offenbarung
einer hohen Weisheit sein. Wer wüßte nicht, wie sehr es unsre herrschende
Klasse liebt, solche ehrwürdige Herren dem erstaunten Volke vorzuführen!
Freilich macht sie sich auch kein Gewissen daraus, sie ohne Mitleid in die
Versenkung verschwinden zu lassen, wenn sie durch allzu unbefangne Kund¬
gebungen das Publikum stutzig gemacht haben.

Das wäre also der Stoff, aus dem das gebildet ist, was allein man vom
Standpunkte der praktischen Lebenserfahrung aus als öffentliche Meinung an¬
sehen darf. Nach einer allgemeinen Annahme gelangt diese, außer durch Be¬
schlüsse von Volksversammlungen, durch das Ergebnis der Abstimmungen bei
den politischen Wahlen formell zum Ausdruck. Ob diese Annahme durch die
Thatsachen begründet oder eine bloße Fiktion ist, das zu erörtern würde nur
dann wichtig genug sein, wenn es sich überhaupt lohnte, nach der öffentlichen
Meinung zu fragen. Aber wie sagt Goethe:


Was euch die heilige Preßfreiheit
Für Frommen, Früchte und Vorteil beut?
Davon habt ihr gewisse Erscheinung:
Tiefe Verachtung öffentlicher Meinung.

Hat er Recht oder nicht? Und wenn er Recht hat, wie kommt man dazu,
der öffentlichen Meinung eine so hohe Bedeutung beizumessen, daß man ihrem
Richtersprüche sogar solche Fragen unterwirft, von deren Entscheidung das
Wohl und Wehe des Volkes abhängt? Offenbar müssen Staatenlenker, die
so handeln, wenn anders sie sich ihrer Pflicht bewußt und, indem sie be¬
ständig dem Grundsatze Laws xuolios, suvröm», Isx folgen, diese Pflicht zu er¬
füllen bestrebt sind, von der Überzeugung durchdrungen sein, daß die haln«
Mdliog. gerade das Ziel sei. auf das sich die öffentliche Meinung richte.
Sonderbare Schwärmer! Vielleicht träumen sie von einem Willen des Volkes,
der, im wesentlichen dasselbe, was nnter den politischen Schlagwörtern als
gesunder Sinn der Bevölkerung spukt, in seinem dunkeln Drange stets den
Weg zum Heile des Volkes suche und finde, und sie erblicken diesen Volks¬
willen in der öffentlichen Meinung. Das Volk, ein lebendiger Körper, von
einem Willen durchflutet, der in seinem Haupte, der Staatsregierung, in das


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[0569] Die öffentliche Meinung Besonders stark pflegt das gedruckte und das gesprochne Wort zu wirken, wenn nicht die gewöhnlichen Leute von der Presse und berufsmäßigen Agi¬ tationsredner Feder und Mund rühren, sondern Kapazitäten, Autoritäten, zu denen der Bildungsphilister mit heiliger Ehrfurcht emporblickt. Zu solchen gehören vor allem die Professoren jeglicher Gattung. Sie mögen ihr Leben mit dem Studium alt- oder spätrömischer Geschichte oder nordischer Mytho¬ logie und germanischer Altertümer hingebracht haben und, von diesen Gegen¬ ständen erfüllt, den Fragen des modernen politischen und sozialen Lebens ein kindliches Verständnis entgegenbringen: immer sind sie geistvolle, tiefblickende Männer, und was sie sagen und schreiben, kann deshalb nur die Offenbarung einer hohen Weisheit sein. Wer wüßte nicht, wie sehr es unsre herrschende Klasse liebt, solche ehrwürdige Herren dem erstaunten Volke vorzuführen! Freilich macht sie sich auch kein Gewissen daraus, sie ohne Mitleid in die Versenkung verschwinden zu lassen, wenn sie durch allzu unbefangne Kund¬ gebungen das Publikum stutzig gemacht haben. Das wäre also der Stoff, aus dem das gebildet ist, was allein man vom Standpunkte der praktischen Lebenserfahrung aus als öffentliche Meinung an¬ sehen darf. Nach einer allgemeinen Annahme gelangt diese, außer durch Be¬ schlüsse von Volksversammlungen, durch das Ergebnis der Abstimmungen bei den politischen Wahlen formell zum Ausdruck. Ob diese Annahme durch die Thatsachen begründet oder eine bloße Fiktion ist, das zu erörtern würde nur dann wichtig genug sein, wenn es sich überhaupt lohnte, nach der öffentlichen Meinung zu fragen. Aber wie sagt Goethe: Was euch die heilige Preßfreiheit Für Frommen, Früchte und Vorteil beut? Davon habt ihr gewisse Erscheinung: Tiefe Verachtung öffentlicher Meinung. Hat er Recht oder nicht? Und wenn er Recht hat, wie kommt man dazu, der öffentlichen Meinung eine so hohe Bedeutung beizumessen, daß man ihrem Richtersprüche sogar solche Fragen unterwirft, von deren Entscheidung das Wohl und Wehe des Volkes abhängt? Offenbar müssen Staatenlenker, die so handeln, wenn anders sie sich ihrer Pflicht bewußt und, indem sie be¬ ständig dem Grundsatze Laws xuolios, suvröm», Isx folgen, diese Pflicht zu er¬ füllen bestrebt sind, von der Überzeugung durchdrungen sein, daß die haln« Mdliog. gerade das Ziel sei. auf das sich die öffentliche Meinung richte. Sonderbare Schwärmer! Vielleicht träumen sie von einem Willen des Volkes, der, im wesentlichen dasselbe, was nnter den politischen Schlagwörtern als gesunder Sinn der Bevölkerung spukt, in seinem dunkeln Drange stets den Weg zum Heile des Volkes suche und finde, und sie erblicken diesen Volks¬ willen in der öffentlichen Meinung. Das Volk, ein lebendiger Körper, von einem Willen durchflutet, der in seinem Haupte, der Staatsregierung, in das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/569>, abgerufen am 23.07.2024.