Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.Die öffentliche Meinung Berufsthätigkeit des Einzelnen in den Hintergrund treten und nur bei außer¬ Wer aber die Presse namentlich unsers Vaterlandes unbefangen und auf¬ Die öffentliche Meinung Berufsthätigkeit des Einzelnen in den Hintergrund treten und nur bei außer¬ Wer aber die Presse namentlich unsers Vaterlandes unbefangen und auf¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0566" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219568"/> <fw type="header" place="top"> Die öffentliche Meinung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1736" prev="#ID_1735"> Berufsthätigkeit des Einzelnen in den Hintergrund treten und nur bei außer¬<lb/> gewöhnlichen Gelegenheiten, wie bei der Wahlagitation wieder auftauchen, die<lb/> politische Denkungsart und, soweit sie zur Bethätigung drängt, die politische<lb/> Gesinnung der Volksangehörigen im großen und ganzen besteht, und zwar nicht<lb/> bloß des großen Haufens, soweit sich bei diesem von politischer Gesinnung<lb/> überhaupt reden läßt, sondern auch aller derer, die man im gewöhnlichen Leben<lb/> als verstündige, in ihrem Fache wohl bewanderte und auch der allgemeinen<lb/> Bildung nicht durchaus entbehrende Männer erachten muß: kommt man auf<lb/> politische Gegenstände mit ihnen zu sprechen, so versagen sie und wiederholen<lb/> nur, was sie in ihrer Zeitung gelesen haben, meist mit den dort gebräuchlichen<lb/> Wendungen. Wie ist dieser erstaunliche Einfluß der Presse zu erklären? Er<lb/> rührt daher, daß, während im Privatleben jeder sein persönliches Interesse<lb/> nach Maßgabe seiner Einsicht gar wohl wahrzunehmen versteht, im öffent¬<lb/> lichen Leben nur sehr wenige den Weg zu finden wissen, der sie zum Ziele<lb/> führen kann, die meisten aber hierzu nicht imstande sind, weil ihnen Politik<lb/> und Volkswirtschaft ein Buch mit sieben Siegeln ist. Wie schon in anderm<lb/> Zusammenhange bemerkt worden ist, handelt es sich hierbei nicht bloß um den<lb/> großen Haufen, der alles Gedruckte mit einer Art von abergläubischer Ehr¬<lb/> furcht betrachtet, sondern auch um die halb oder ganz gebildeten Leute, die,<lb/> weil es ihnen an Lust oder Anlage fehlt, oder weil ihnen ihre Berufsgeschüfte<lb/> keine Zeit lassen, es nicht fertig bringen, selbständig zu denken und deshalb außer<lb/> stände sind, ihrer politischen Meinung die Zügel der eignen Vernunft anzulegen.<lb/> Sie bedürfen fremder Leitung, und diese wird ihnen bereitwilligst von denen ge¬<lb/> geben, die die Presse in der Hand haben. Daher kommt es, daß die Presse, den<lb/> Erfolg ihrer Thätigkeit gleichsam voraussehend, sich gewöhnt hat, sich selbst als<lb/> Vertreterin der öffentlichen Meinung anzusehen. Zu dieser Anschauung ist auch<lb/> in der That die Presse jeglicher Parteirichtung insofern gewisfermcißen berechtigt,<lb/> als sie in einem bestimmten Gebiete ausschließlich oder bei weitem am stärksten<lb/> verbreitet ist: man muß dann freilich den theoretisch bestimmten Begriff der<lb/> öffentlichen Meinung dahin einschränken, daß man als solche schon die inner¬<lb/> halb bestimmter örtlicher Grenzen von dem größten Teile der Bevölkerung ge¬<lb/> hegte Meinung anerkennt. Je größer dann das Geltungsgebiet oder der im<lb/> ganzen in Betracht kommende Teil der Bevölkerung ist, mit desto größerm<lb/> Rechte kann man von öffentlicher Meinung im eigentlichen Sinne reden. So<lb/> gestaltet sich die öffentliche Meinung in den verschiednen Gegenden des Vater¬<lb/> landes sehr verschieden, je nach dem in diesen beispielsweise die ultramon¬<lb/> tane, die freisinnige oder die sozialdemokratische Presse die Herrschaft über die<lb/> Geister hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_1737" next="#ID_1738"> Wer aber die Presse namentlich unsers Vaterlandes unbefangen und auf¬<lb/> merksam betrachtet, dem kann es nicht entgehen, daß in ihr eine Gattung von<lb/> bestimmtem Charakter über alle andern sehr mächtig vorherrscht, sowohl was</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0566]
Die öffentliche Meinung
Berufsthätigkeit des Einzelnen in den Hintergrund treten und nur bei außer¬
gewöhnlichen Gelegenheiten, wie bei der Wahlagitation wieder auftauchen, die
politische Denkungsart und, soweit sie zur Bethätigung drängt, die politische
Gesinnung der Volksangehörigen im großen und ganzen besteht, und zwar nicht
bloß des großen Haufens, soweit sich bei diesem von politischer Gesinnung
überhaupt reden läßt, sondern auch aller derer, die man im gewöhnlichen Leben
als verstündige, in ihrem Fache wohl bewanderte und auch der allgemeinen
Bildung nicht durchaus entbehrende Männer erachten muß: kommt man auf
politische Gegenstände mit ihnen zu sprechen, so versagen sie und wiederholen
nur, was sie in ihrer Zeitung gelesen haben, meist mit den dort gebräuchlichen
Wendungen. Wie ist dieser erstaunliche Einfluß der Presse zu erklären? Er
rührt daher, daß, während im Privatleben jeder sein persönliches Interesse
nach Maßgabe seiner Einsicht gar wohl wahrzunehmen versteht, im öffent¬
lichen Leben nur sehr wenige den Weg zu finden wissen, der sie zum Ziele
führen kann, die meisten aber hierzu nicht imstande sind, weil ihnen Politik
und Volkswirtschaft ein Buch mit sieben Siegeln ist. Wie schon in anderm
Zusammenhange bemerkt worden ist, handelt es sich hierbei nicht bloß um den
großen Haufen, der alles Gedruckte mit einer Art von abergläubischer Ehr¬
furcht betrachtet, sondern auch um die halb oder ganz gebildeten Leute, die,
weil es ihnen an Lust oder Anlage fehlt, oder weil ihnen ihre Berufsgeschüfte
keine Zeit lassen, es nicht fertig bringen, selbständig zu denken und deshalb außer
stände sind, ihrer politischen Meinung die Zügel der eignen Vernunft anzulegen.
Sie bedürfen fremder Leitung, und diese wird ihnen bereitwilligst von denen ge¬
geben, die die Presse in der Hand haben. Daher kommt es, daß die Presse, den
Erfolg ihrer Thätigkeit gleichsam voraussehend, sich gewöhnt hat, sich selbst als
Vertreterin der öffentlichen Meinung anzusehen. Zu dieser Anschauung ist auch
in der That die Presse jeglicher Parteirichtung insofern gewisfermcißen berechtigt,
als sie in einem bestimmten Gebiete ausschließlich oder bei weitem am stärksten
verbreitet ist: man muß dann freilich den theoretisch bestimmten Begriff der
öffentlichen Meinung dahin einschränken, daß man als solche schon die inner¬
halb bestimmter örtlicher Grenzen von dem größten Teile der Bevölkerung ge¬
hegte Meinung anerkennt. Je größer dann das Geltungsgebiet oder der im
ganzen in Betracht kommende Teil der Bevölkerung ist, mit desto größerm
Rechte kann man von öffentlicher Meinung im eigentlichen Sinne reden. So
gestaltet sich die öffentliche Meinung in den verschiednen Gegenden des Vater¬
landes sehr verschieden, je nach dem in diesen beispielsweise die ultramon¬
tane, die freisinnige oder die sozialdemokratische Presse die Herrschaft über die
Geister hat.
Wer aber die Presse namentlich unsers Vaterlandes unbefangen und auf¬
merksam betrachtet, dem kann es nicht entgehen, daß in ihr eine Gattung von
bestimmtem Charakter über alle andern sehr mächtig vorherrscht, sowohl was
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