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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die öffentliche Meinung

nünftige Darlegung nennt, ist sie wesentlich verschieden, weil sie auf einen ganz
andern Gegenstand gerichtet ist als diese: es ist ihr nicht darum zu thun, zu
belehren, aufzuklären, die fremde Erkenntnis in die eigne Bahn herüberzuleiten,
durch Vernunftgründe zu überzeugen; das zu versuchen würde wenig helfen,
da die Voraussetzungen für dergleichen auf der andern Seite fehlen. Nein,
der fremde Wille ist es, dem sie im einzelnen Falle eine bestimmte Richtung
zu geben versucht. Nun können die hierzu erforderlichen Beweggründe dem
Willen ja freilich nur durch den Verstand übermittelt werden; aber dies braucht
keineswegs auf dem Wege einer Denkthütigkeit zu geschehen, und es ist deshalb
auch ein Verstand, der zum Denken wenig oder gar nicht befähigt ist, gar wohl
imstande, die kräftigsten Beweggründe aufzunehmen, vielleicht gerade um so
mehr, je weniger er von des Gedankens Blässe angekränkelt ist. Es kommt nur
darauf an, die geeigneten Beweggründe zu liefern.

Diese bestehen in Vorstellungen, die in den Einzelnen hervorgerufen werden,
und die so beschaffen sind, daß sie in allen gemeinsam die Überzeugung begründen,
das, um was es sich handelt, sei zu ihrem eignen Besten zu begünstigen und zu
erstreben oder zu verwerfen und zu verfolgen. Zu diesem Zwecke müssen solche
Vorstellungen, wenn auch nicht gerade anschaulich, so doch kräftig und sozusagen
grobgeformt sein; dagegen ist es nicht notwendig, daß die Ausdrücke, durch die sie
hervorgerufen werden -- man nennt sie technisch Schlagwörter --, den Begriffen,
auf die mau diese vernünftigerweise anwenden könnte, entsprechen, oder daß sie
klare und bestimmte Begriffe bezeichnen, ja nicht einmal, daß sich überhaupt
ein Begriff mit dem Worte verbinden läßt. "Denn gerade wo Begriffe fehlen,
da stellt ein Wort zu rechter Zeit sich ein." Im Gegenteil, man darf be¬
haupten, daß, je weiter sich ein Schlagwort von dem richtigen, klaren und
deutlichen Begriff entfernt, es um so mehr für den hier in Rede stehenden
Zweck geeignet sei, weil es dann am ehesten einer geordneten Denkthütigkeit
vorbeugt, die möglicherweise dem hier verfolgten Zwecke widerstreiten würde.

Unsre politische Sprache ist überaus reich an solchen Schlagwörtern, die
mit den im Laufe der Zeit neu auftauchenden Fragen beständig wechseln oder
sich vermehren. Es ließe sich aus diesen Wörtern ein umfangreiches Lexikon
zusammenstellen. Eins der ehrwürdigsten und verbreitetsten ist Reaktion, ein
Wort, das ursprünglich nichts weiter als den allgemeinen Begriff einer Gegen¬
wirkung gegen eine Bewegung bezeichnet, nach dem Sprachgebrauch".' des Libe¬
ralismus aber das Schimpfwort für die Bestrebungen der konservativen Partei
ist und, mit der geeigneten Miene und Betonung ausgesprochen, in den Köpfen
der Menge die Vorstellung von etwas unbeschreiblich Grauenhaftem erweckt,
von einem Rückfall in Roheit, Stumpfheit, Knechtschaft und Elend. So unklar
und nebelhaft diese Vorstellung ist, thut sie doch ihre Wirkung, weil sie Ab¬
scheu und Furcht erregt. In derselben Richtung wirken folgende allgemein
bekannte Schlagwörter: Junker- und Pfaffenherrschaft -- pfäffische Unduld-


Die öffentliche Meinung

nünftige Darlegung nennt, ist sie wesentlich verschieden, weil sie auf einen ganz
andern Gegenstand gerichtet ist als diese: es ist ihr nicht darum zu thun, zu
belehren, aufzuklären, die fremde Erkenntnis in die eigne Bahn herüberzuleiten,
durch Vernunftgründe zu überzeugen; das zu versuchen würde wenig helfen,
da die Voraussetzungen für dergleichen auf der andern Seite fehlen. Nein,
der fremde Wille ist es, dem sie im einzelnen Falle eine bestimmte Richtung
zu geben versucht. Nun können die hierzu erforderlichen Beweggründe dem
Willen ja freilich nur durch den Verstand übermittelt werden; aber dies braucht
keineswegs auf dem Wege einer Denkthütigkeit zu geschehen, und es ist deshalb
auch ein Verstand, der zum Denken wenig oder gar nicht befähigt ist, gar wohl
imstande, die kräftigsten Beweggründe aufzunehmen, vielleicht gerade um so
mehr, je weniger er von des Gedankens Blässe angekränkelt ist. Es kommt nur
darauf an, die geeigneten Beweggründe zu liefern.

Diese bestehen in Vorstellungen, die in den Einzelnen hervorgerufen werden,
und die so beschaffen sind, daß sie in allen gemeinsam die Überzeugung begründen,
das, um was es sich handelt, sei zu ihrem eignen Besten zu begünstigen und zu
erstreben oder zu verwerfen und zu verfolgen. Zu diesem Zwecke müssen solche
Vorstellungen, wenn auch nicht gerade anschaulich, so doch kräftig und sozusagen
grobgeformt sein; dagegen ist es nicht notwendig, daß die Ausdrücke, durch die sie
hervorgerufen werden — man nennt sie technisch Schlagwörter —, den Begriffen,
auf die mau diese vernünftigerweise anwenden könnte, entsprechen, oder daß sie
klare und bestimmte Begriffe bezeichnen, ja nicht einmal, daß sich überhaupt
ein Begriff mit dem Worte verbinden läßt. „Denn gerade wo Begriffe fehlen,
da stellt ein Wort zu rechter Zeit sich ein." Im Gegenteil, man darf be¬
haupten, daß, je weiter sich ein Schlagwort von dem richtigen, klaren und
deutlichen Begriff entfernt, es um so mehr für den hier in Rede stehenden
Zweck geeignet sei, weil es dann am ehesten einer geordneten Denkthütigkeit
vorbeugt, die möglicherweise dem hier verfolgten Zwecke widerstreiten würde.

Unsre politische Sprache ist überaus reich an solchen Schlagwörtern, die
mit den im Laufe der Zeit neu auftauchenden Fragen beständig wechseln oder
sich vermehren. Es ließe sich aus diesen Wörtern ein umfangreiches Lexikon
zusammenstellen. Eins der ehrwürdigsten und verbreitetsten ist Reaktion, ein
Wort, das ursprünglich nichts weiter als den allgemeinen Begriff einer Gegen¬
wirkung gegen eine Bewegung bezeichnet, nach dem Sprachgebrauch«.' des Libe¬
ralismus aber das Schimpfwort für die Bestrebungen der konservativen Partei
ist und, mit der geeigneten Miene und Betonung ausgesprochen, in den Köpfen
der Menge die Vorstellung von etwas unbeschreiblich Grauenhaftem erweckt,
von einem Rückfall in Roheit, Stumpfheit, Knechtschaft und Elend. So unklar
und nebelhaft diese Vorstellung ist, thut sie doch ihre Wirkung, weil sie Ab¬
scheu und Furcht erregt. In derselben Richtung wirken folgende allgemein
bekannte Schlagwörter: Junker- und Pfaffenherrschaft — pfäffische Unduld-


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[0564] Die öffentliche Meinung nünftige Darlegung nennt, ist sie wesentlich verschieden, weil sie auf einen ganz andern Gegenstand gerichtet ist als diese: es ist ihr nicht darum zu thun, zu belehren, aufzuklären, die fremde Erkenntnis in die eigne Bahn herüberzuleiten, durch Vernunftgründe zu überzeugen; das zu versuchen würde wenig helfen, da die Voraussetzungen für dergleichen auf der andern Seite fehlen. Nein, der fremde Wille ist es, dem sie im einzelnen Falle eine bestimmte Richtung zu geben versucht. Nun können die hierzu erforderlichen Beweggründe dem Willen ja freilich nur durch den Verstand übermittelt werden; aber dies braucht keineswegs auf dem Wege einer Denkthütigkeit zu geschehen, und es ist deshalb auch ein Verstand, der zum Denken wenig oder gar nicht befähigt ist, gar wohl imstande, die kräftigsten Beweggründe aufzunehmen, vielleicht gerade um so mehr, je weniger er von des Gedankens Blässe angekränkelt ist. Es kommt nur darauf an, die geeigneten Beweggründe zu liefern. Diese bestehen in Vorstellungen, die in den Einzelnen hervorgerufen werden, und die so beschaffen sind, daß sie in allen gemeinsam die Überzeugung begründen, das, um was es sich handelt, sei zu ihrem eignen Besten zu begünstigen und zu erstreben oder zu verwerfen und zu verfolgen. Zu diesem Zwecke müssen solche Vorstellungen, wenn auch nicht gerade anschaulich, so doch kräftig und sozusagen grobgeformt sein; dagegen ist es nicht notwendig, daß die Ausdrücke, durch die sie hervorgerufen werden — man nennt sie technisch Schlagwörter —, den Begriffen, auf die mau diese vernünftigerweise anwenden könnte, entsprechen, oder daß sie klare und bestimmte Begriffe bezeichnen, ja nicht einmal, daß sich überhaupt ein Begriff mit dem Worte verbinden läßt. „Denn gerade wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zu rechter Zeit sich ein." Im Gegenteil, man darf be¬ haupten, daß, je weiter sich ein Schlagwort von dem richtigen, klaren und deutlichen Begriff entfernt, es um so mehr für den hier in Rede stehenden Zweck geeignet sei, weil es dann am ehesten einer geordneten Denkthütigkeit vorbeugt, die möglicherweise dem hier verfolgten Zwecke widerstreiten würde. Unsre politische Sprache ist überaus reich an solchen Schlagwörtern, die mit den im Laufe der Zeit neu auftauchenden Fragen beständig wechseln oder sich vermehren. Es ließe sich aus diesen Wörtern ein umfangreiches Lexikon zusammenstellen. Eins der ehrwürdigsten und verbreitetsten ist Reaktion, ein Wort, das ursprünglich nichts weiter als den allgemeinen Begriff einer Gegen¬ wirkung gegen eine Bewegung bezeichnet, nach dem Sprachgebrauch«.' des Libe¬ ralismus aber das Schimpfwort für die Bestrebungen der konservativen Partei ist und, mit der geeigneten Miene und Betonung ausgesprochen, in den Köpfen der Menge die Vorstellung von etwas unbeschreiblich Grauenhaftem erweckt, von einem Rückfall in Roheit, Stumpfheit, Knechtschaft und Elend. So unklar und nebelhaft diese Vorstellung ist, thut sie doch ihre Wirkung, weil sie Ab¬ scheu und Furcht erregt. In derselben Richtung wirken folgende allgemein bekannte Schlagwörter: Junker- und Pfaffenherrschaft — pfäffische Unduld-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/564>, abgerufen am 23.07.2024.