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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Die öffentliche Meinung

Wegs zur Voraussetzung hat; im Gegenteil, er geht ihr voraus und hält sie
dermaßen unter seiner Herrschaft, daß er sie oftmals hemmt und trübt. So
kann denn auch in politischen Dingen jeder seinen Willen haben, und es hat
ihn auch eigentlich jeder, mindestens soweit, daß er nach Wohlbefinden ver¬
langt und das Gegenteil verabscheut: auch die erkenntnisärmsten Glieder des
Volks wollen, wenn sie sich in Not fühlen, ihre Lage verbessern und wider¬
streben, wenn es ihnen gut geht, einer Störung ihres Wohlbefindens.

Wenn das nun die Meinung jedes Einzelnen ist, so würde sie sich in
einem bestimmten Falle dann zur öffentlichen Meinung entwickeln, wenn sie
bei sämtlichen Angehörigen aller Vevölkerungsklassen auf dasselbe Ziel gerichtet
wäre, da alsdann die für den Begriff der öffentlichen Meinung notwendige
Übereinstimmung der Einzelmeinungen hergestellt sein würde. Ob dieser Fall
wirklich vorkommen kann, darin liegt eigentlich das Problem der Untersuchung.

Die Voraussetzung jener Einmütigkeit ist offenbar, daß jeder Einzelne
von der Überzeugung durchdrungen ist, an jenem gemeinsam erstrebten Ziele
werde er selbst die Befriedigung seines Heilsverlangens oder das Ende seiner
Furcht vor Unheil finden. Daß sich eine solche Überzeugung durchbricht, wird
in dem Falle nicht überraschen, wo die Interessen sämtlicher Bevölkerungs¬
klassen übereinstimmen, und daß dieser Fall vorkommen kann, laßt sich nicht
in Abrede stellen. So besteht, wenn man von den des Vaterlandsgefühls er¬
mangelnden Gliedern der roten Internationale absieht, ein genieinsames Interesse
aller Volksangehörigen darin, daß das im Staate zusammengefaßte Volk nicht
der Macht eines fremden Volks unterworfen sei, von dem es mißachtet und
geknechtet wird, und jedermann empfindet das als ein unerträgliches Joch und
ist bestrebt, es abzuschütteln. Ein hervorragendes Beispiel dieser Art liefert
die Geschichte in dem glühenden Hasse, den das preußische Volk zur Zeit der
Fremdherrschaft am Anfange des Jahrhunderts gegen den französischen Er¬
oberer hegte, und in der Opferfreudigkeit und Begeisterung, mit der schließlich
"das Volk aufstand und der Sturm losbrach." Das war wirklich die Kund¬
gebung einer öffentlichen Meinung von echter Art. Auch beim Ausbruche des
letzten deutsch-französischen Krieges war eine solche öffentliche Meinung in demi
allgemeinen Unwillen über das herausfordernde, die eigne nationale Selb¬
ständigkeit bedrohende Verhalten des Nachbarvolks schwerlich zu verkennen.

Aber diese Fälle gehören dem Gebiete der äußern Politik an. Es fragt
sich, ob ähnliche auch in der innern eintreten können. Wenn man bedenkt,
daß hier nicht eine einzige Frage auftauchen kann, in der die Interessen der
einzelnen Vevölkerungsklasfen einander nicht mehr oder weniger widerstreiten,
sodaß, was der einen zum Vorteil gereicht, der audern Schaden bringt, so
wird man es von vornherein schwer begreiflich finden, wie es überhaupt vor¬
kommen kann, daß alle, bei denen sich der Wille regt, in einem gegebnen Falle
dasselbe wollen. Denn dann müßte ja ein Teil sein eignes Unheil erstreben


Die öffentliche Meinung

Wegs zur Voraussetzung hat; im Gegenteil, er geht ihr voraus und hält sie
dermaßen unter seiner Herrschaft, daß er sie oftmals hemmt und trübt. So
kann denn auch in politischen Dingen jeder seinen Willen haben, und es hat
ihn auch eigentlich jeder, mindestens soweit, daß er nach Wohlbefinden ver¬
langt und das Gegenteil verabscheut: auch die erkenntnisärmsten Glieder des
Volks wollen, wenn sie sich in Not fühlen, ihre Lage verbessern und wider¬
streben, wenn es ihnen gut geht, einer Störung ihres Wohlbefindens.

Wenn das nun die Meinung jedes Einzelnen ist, so würde sie sich in
einem bestimmten Falle dann zur öffentlichen Meinung entwickeln, wenn sie
bei sämtlichen Angehörigen aller Vevölkerungsklassen auf dasselbe Ziel gerichtet
wäre, da alsdann die für den Begriff der öffentlichen Meinung notwendige
Übereinstimmung der Einzelmeinungen hergestellt sein würde. Ob dieser Fall
wirklich vorkommen kann, darin liegt eigentlich das Problem der Untersuchung.

Die Voraussetzung jener Einmütigkeit ist offenbar, daß jeder Einzelne
von der Überzeugung durchdrungen ist, an jenem gemeinsam erstrebten Ziele
werde er selbst die Befriedigung seines Heilsverlangens oder das Ende seiner
Furcht vor Unheil finden. Daß sich eine solche Überzeugung durchbricht, wird
in dem Falle nicht überraschen, wo die Interessen sämtlicher Bevölkerungs¬
klassen übereinstimmen, und daß dieser Fall vorkommen kann, laßt sich nicht
in Abrede stellen. So besteht, wenn man von den des Vaterlandsgefühls er¬
mangelnden Gliedern der roten Internationale absieht, ein genieinsames Interesse
aller Volksangehörigen darin, daß das im Staate zusammengefaßte Volk nicht
der Macht eines fremden Volks unterworfen sei, von dem es mißachtet und
geknechtet wird, und jedermann empfindet das als ein unerträgliches Joch und
ist bestrebt, es abzuschütteln. Ein hervorragendes Beispiel dieser Art liefert
die Geschichte in dem glühenden Hasse, den das preußische Volk zur Zeit der
Fremdherrschaft am Anfange des Jahrhunderts gegen den französischen Er¬
oberer hegte, und in der Opferfreudigkeit und Begeisterung, mit der schließlich
„das Volk aufstand und der Sturm losbrach." Das war wirklich die Kund¬
gebung einer öffentlichen Meinung von echter Art. Auch beim Ausbruche des
letzten deutsch-französischen Krieges war eine solche öffentliche Meinung in demi
allgemeinen Unwillen über das herausfordernde, die eigne nationale Selb¬
ständigkeit bedrohende Verhalten des Nachbarvolks schwerlich zu verkennen.

Aber diese Fälle gehören dem Gebiete der äußern Politik an. Es fragt
sich, ob ähnliche auch in der innern eintreten können. Wenn man bedenkt,
daß hier nicht eine einzige Frage auftauchen kann, in der die Interessen der
einzelnen Vevölkerungsklasfen einander nicht mehr oder weniger widerstreiten,
sodaß, was der einen zum Vorteil gereicht, der audern Schaden bringt, so
wird man es von vornherein schwer begreiflich finden, wie es überhaupt vor¬
kommen kann, daß alle, bei denen sich der Wille regt, in einem gegebnen Falle
dasselbe wollen. Denn dann müßte ja ein Teil sein eignes Unheil erstreben


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[0562] Die öffentliche Meinung Wegs zur Voraussetzung hat; im Gegenteil, er geht ihr voraus und hält sie dermaßen unter seiner Herrschaft, daß er sie oftmals hemmt und trübt. So kann denn auch in politischen Dingen jeder seinen Willen haben, und es hat ihn auch eigentlich jeder, mindestens soweit, daß er nach Wohlbefinden ver¬ langt und das Gegenteil verabscheut: auch die erkenntnisärmsten Glieder des Volks wollen, wenn sie sich in Not fühlen, ihre Lage verbessern und wider¬ streben, wenn es ihnen gut geht, einer Störung ihres Wohlbefindens. Wenn das nun die Meinung jedes Einzelnen ist, so würde sie sich in einem bestimmten Falle dann zur öffentlichen Meinung entwickeln, wenn sie bei sämtlichen Angehörigen aller Vevölkerungsklassen auf dasselbe Ziel gerichtet wäre, da alsdann die für den Begriff der öffentlichen Meinung notwendige Übereinstimmung der Einzelmeinungen hergestellt sein würde. Ob dieser Fall wirklich vorkommen kann, darin liegt eigentlich das Problem der Untersuchung. Die Voraussetzung jener Einmütigkeit ist offenbar, daß jeder Einzelne von der Überzeugung durchdrungen ist, an jenem gemeinsam erstrebten Ziele werde er selbst die Befriedigung seines Heilsverlangens oder das Ende seiner Furcht vor Unheil finden. Daß sich eine solche Überzeugung durchbricht, wird in dem Falle nicht überraschen, wo die Interessen sämtlicher Bevölkerungs¬ klassen übereinstimmen, und daß dieser Fall vorkommen kann, laßt sich nicht in Abrede stellen. So besteht, wenn man von den des Vaterlandsgefühls er¬ mangelnden Gliedern der roten Internationale absieht, ein genieinsames Interesse aller Volksangehörigen darin, daß das im Staate zusammengefaßte Volk nicht der Macht eines fremden Volks unterworfen sei, von dem es mißachtet und geknechtet wird, und jedermann empfindet das als ein unerträgliches Joch und ist bestrebt, es abzuschütteln. Ein hervorragendes Beispiel dieser Art liefert die Geschichte in dem glühenden Hasse, den das preußische Volk zur Zeit der Fremdherrschaft am Anfange des Jahrhunderts gegen den französischen Er¬ oberer hegte, und in der Opferfreudigkeit und Begeisterung, mit der schließlich „das Volk aufstand und der Sturm losbrach." Das war wirklich die Kund¬ gebung einer öffentlichen Meinung von echter Art. Auch beim Ausbruche des letzten deutsch-französischen Krieges war eine solche öffentliche Meinung in demi allgemeinen Unwillen über das herausfordernde, die eigne nationale Selb¬ ständigkeit bedrohende Verhalten des Nachbarvolks schwerlich zu verkennen. Aber diese Fälle gehören dem Gebiete der äußern Politik an. Es fragt sich, ob ähnliche auch in der innern eintreten können. Wenn man bedenkt, daß hier nicht eine einzige Frage auftauchen kann, in der die Interessen der einzelnen Vevölkerungsklasfen einander nicht mehr oder weniger widerstreiten, sodaß, was der einen zum Vorteil gereicht, der audern Schaden bringt, so wird man es von vornherein schwer begreiflich finden, wie es überhaupt vor¬ kommen kann, daß alle, bei denen sich der Wille regt, in einem gegebnen Falle dasselbe wollen. Denn dann müßte ja ein Teil sein eignes Unheil erstreben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/562>, abgerufen am 23.07.2024.